Abstillen – traumatisierend für das Kind?
Mein Sohn ist 7 Monate alt und wird voll gestillt. Er und ich lieben Einschlafstillen und praktizieren das mehrmals täglich. Nun besteht der Verdacht, dass mein Sohn eine ganz seltene Krankheit hat, wo er durch eine Art Allergie meine Milch nicht verträgt (Bestandteile meiner Muttermilch lösen bei ihm wohl eine Entzündung des Magen-Darm-Trakts aus. Es geht ihm leider gar nicht gut. Jetzt soll ich ihm eine Aminosäurelösung als Milchersatz geben damit es ihm besser geht.
Meine Frage:
Gibt es einen Weg wie ich ihn und mich am wenigsten traumatisiere und er dennoch die Spezialnahrung trinkt? Ist eine Magensonde weniger traumatisierend als aus der Flasche?
Ich dachte auch an ein Brusternährungsset?
Ist es schwer traumatisierend, wenn er die Flasche anschreit?
Vielleicht haben Sie ein paar Tipps, wie unsere Bindung das übersteht und ich ihm Essstörungen durchs Abstillen ersparen kann.
Ich danke Dir sehr für diese Frage! Der Anlass ist eine extrem seltene Krankheit – die Antwort aber dreht sich um eine häufige Sorge: Was wird aus unserer Bindung, wenn das Stillen nicht mehr klappt, oder nicht mehr geht?
Ich muss deshalb gleich eine Zusammenfassung meiner Antwort loswerden, sie ist mir wichtig:
Dein Kind wird durch die Ernährungsumstellung keinerlei Traumatisierung oder Bindungsstörung erfahren.
Allerdings: Der Schlüssel liegt bei Dir. Ich will es erklären:
Du willst gerne weiter stillen, weil sich das bewährt hat für Euch beide, sich gut anfühlt und Eure Bindung stärkt. Das ist verständlich.
Nun ist die Krankheit aber dazwischengekommen. Eure Stillbeziehung kann so nicht weiter gehen, da Dein Kind Muttermilch nicht verträgt (so superselten und gemein das ist).
Ihr müsst also Eure Ernährungsroutine ändern. Ohne dabei Eure Bindung zu gefährden.
Kann das „traumatisierend“ sein?
Ja, in einem Fall – dann nämlich, wenn Du den Abschied von der alten Routine nicht verpackt bekommst und in eine Entwertungs- und Trauerspirale eintrittst. Also Dich selber dann wertlos fühlst, weil Du nicht mehr stillst, und dadurch als Mama geschwächt wirst.
Das sehe ich hier als die einzige – wirklich einzige – Gefahr.
Denn Dein Kind wird mit dem Übergang klarkommen, Babys sind anpassungsfähig, solange ihr tragender Rahmen bestehen bleibt. Sonst wäre jede Enscheidung ein Baby abzustillen ja ein seelisches Lebensrisiko.
Und der tragende Rahmen für Dein Kind ist nicht die Brust, sondern Eure Beziehung. Ja, die Stillbeziehung ist Teil dieser Beziehung, aber sie ist nicht ihr Kern. Sie ist wandelbar und ersetzbar durch andere „Ernährungsbeziehungen“ – etwa die Fütterung mit der Flasche.
Dieser Ersatz ist für Dein Baby kein Problem, es verliert ja weder seine vertrauteste Bindungsperson noch überhaupt sein Bindungssystem oder auch sein Bindungsumfeld – es verliert den Zugang zur Mutterbrust.
Und so wichtig die Brust für ein Baby ist, WIRKLICH wichtig ist ihm die Person, an der Brust hängt (plus seine anderen vertrauten Menschen). Und die bleibt, Du bleibst, Ihr bleibt.
Anders ausgedrückt: Eure Stillbeziehung ist nicht Eure Beziehung, das Stillen ist nicht Eure Bindung. Bindung ist doch viel viel mehr. Auch Eure körperliche Beziehung besteht ja nicht nur aus Stillen.
Und noch einmal: An Dir, an Deiner Haltung und Klarheit wird es hängen, wie gut Dein Baby und ihr zusammen den Übergang schafft.
Wenn Du das Stillen so absolut setzt, dass der Verlust Dich quält – dann wird es für Dein Baby schwerer.
Wenn Du das Stillen nicht loslassen kannst, dann wird auch Dein Baby schwerer loslassen können.
Eure Gefühle hängen ja zusammen, wie kommunizierende Röhren.
Das heißt nicht, dass alles automatisch super läuft. Eben allein dadurch, dass Du innerlich klar bist. Das wäre ein Missverständnis. Für Dein Baby IST das Abstillen eine echte Aufgabe, ja vielleicht auch eine Zeit der Krise. Und das verarbeitet jedes Kind individuell – das eine akzeptiert das Abgestillt-werden leicht und rasch, andere trauern der Brust noch lange hinterher und „kämpfen“ – selbst wenn sie noch so klar und ruhig begleitet werden. Trotzdem hängt viel an Deiner inneren Überzeugung, dass das „the way to go“ ist. Durch die eigenen Sicherheit kannst Du Dein Baby auf seinem individuellen Weg dann einfach besser begleiten und Absicherung geben.
Deshalb: packe den Stier an den Hörnern, stelle Dich der Wirklichkeit: Ihr habt jetzt Pech, ja. Aber Ihr habt auch Glück. Mit den aminosäurebasierten Ersatznahrungen gibt es heute eine gute Möglichkeit Deinem Baby zu helfen, so dass er sich wieder wohl fühlen kann. Und wenn er ein paar Jahre älter ist, wird die Unverträglichkeit Geschichte sein.
Du musst dich da auch nicht entschuldigen. Weder vor deinem Kind noch vor deinem Umfeld noch vor dir selber. Ihr habt Pech gehabt, so ist das. Und ihr habt das Glück, dass Eure Beziehung weitergeht.
Wie Du ihm die neue Milch geben sollst? Gib ihm das, was seinen Bedürfnissen als Säugling am meisten entgegenkommt. Er ist ein Säugling, er saugt für sein Leben gern. Die Flasche ist für ihn wunderbar! Was soll er damit anfangen, wenn Du ihm die Milch per Sonde in den Magen einlaufen lässt? Bloß weil Du Angst hast, dass er mit der Flasche nicht klarkommt? Ja, das wird vielleicht nicht sofort perfekt laufen, aber er wird die Flasche schon bald liebend gerne nehmen.
Und das Brusternährungsset – das ist gedacht um das Stillen zu unterstützen, wenn es (noch) nicht richtig läuft oder zeitweilig nicht richtig läuft. Aber in Eurem Fall ist es doch so: wenn die Diagnose stimmt, dann ist die Brust nicht mehr seine Nahrungsquelle. Und dann ist auch das eine künstliche Pseudo-Lösung, die Dir vielleicht jetzt nur deshalb attraktiv erscheint, weil Du Dir den Übergang zu einer neuen „Ernährungsbeziehung“ noch nicht gut vorstellen kannst.
Das ist aber jetzt Deine Aufgabe: die neue Routine als das sehen, was sie ist: eine Lösung, die Dein Kind braucht.
Und mit genau dieser positiven Einstellung wird Euch der Übergang gelingen: Ja, mein Kind, das war klasse an der Brust, wie toll, dass wir das hatten. Jetzt ist etwas Neues dran, und wir werden es schaffen, denn das entscheidend Wichtige haben wir ja weiterhin: unsere Bindung, unsere Herzensbezieung, unsere Freude aneinander, auch unsere körperliche Freude.
Und all das nehmen wir mit rein in die neue Ernährungsroutine. Sie wird anders sein, sie wird gut sein.
Silke
Danke für diese großartige, stärkende Antwort.
Julia
Ein Brusternährungsset wäre in diesem Fall sowieso keine Lösung, da das Kind ja zusätzlich zur Spezialnahrung weiterhin Muttermilch trinken würde. Medikamentös abstillen geht ja in dem Stadium der Laktation mit 7 Monaten gar nicht mehr. Deshalb wäre da immer Muttermilch dabei. LG
Anne
Wow, toller bewegender Text! Ich bin einfach nur begeistert!
Ich hoffe er stärkt dich und dein Kind, ich wünsche euch dabei ganz viel Liebe und Kraft!
Monika K.
HRP: “WIRKLICH wichtig ist ihm die Person, an der Brust hängt (plus seine anderen vertrauten Menschen). Und die bleibt, Du bleibst, Ihr bleibt.
…Das ist aber jetzt Deine Aufgabe: die neue Routine als das sehen, was sie ist: eine Lösung, die Dein Kind braucht.” ❤️
Anita Cornelius
Herzliche Klarheit !!
Jale
Sooo schön und so ermutigend!! DANKE 🙏 !!!
Und: Liebe Fragestellerin, Du bist eine liebevolle, kompetente Mama, dass Du Dir solche Gedanken machst, da kann sich Dein Baby glücklich schätzen! Ich kann nur erahnen, was Ihr für einen Weg bis zur Diagnose hinter Euch hattet, erst das ungute Gefühl, das was nicht stimmt und dann letztlich, vermutlich nach einigen Untersuchungen erst, eine Diagnose, die Dich traurig macht und in Eure Beziehung einzugreifen schien.
Die Natur würfelt manchmal einfach total fiese Sachen (leider bei uns auch) aber niemand hat Schuld und ich bin auch für so vieles dankbar, was nur hier und heute mit moderner Medizin ging. Wie HRP ja schon schreibt. Du bist für Dein Baby die tollste und liebevollste Mama, die es gibt!! Du bist nicht nur Deine Brust! Es wird zufrieden und glücklich sein!! Alles Liebe.
Kiki D
Vielleicht kann ich dir ein bisschen die Angst vor der Flasche nehmen, wenn du von der Geschichte von meinem Großen und mir hörst.
Mein Sohn hat von Geburt an die Brust verweigert, hatte aber auch keine Gelegenheit, sie kennenzulernen. Er kam per Notkaiserschnitt, erst mussten die Narkosemittel aus meinem System raus sein, dann kam er wegen Neugeboreneninfektion auf die Neo, wo er von Anfang an die Flasche bekam, weil Stillen dort nur unter extrem großem Aufwand möglich war, und dafür war es auf der Station zu voll.
Mein Sohn wird im Januar 9. Er ist groß geworden, es hat ihm nie an Nähe gefehlt, und wir haben eine ganz tolle Bindung.
Ich musste mir viel anhören, als er klein war:
Wir würden nie eine gute Bindung haben, ich wäre ohne zu stillen keine richtige Mutter, unsere Beziehung würde, wenn er erst in den Kindergarten/die Schule käme vollständig zerbrechen, ich würde ihn nur nicht genug lieben,… und noch viel mehr Blödsinn, der sich absolut nicht bewahrheitet hat.
Wenn ich eins mitgenommen habe, dann das:
Es ist egal, ob du stillst oder Flasche gibst. Weder das eine noch das andere macht dich zu einer guten Mutter oder sorgt für eine enge Bindung. Wichtig ist deine Mutterliebe und Zuneigung, sowie deine Fürsorge. Und im Krankheitsfall abzustillen, wenn dein Sohn es braucht, ist doch all das.
Wenn dir jemand etwas anderes erzählt, dann ist er entweder verflixt dumm, oder er lügt, dass sich die Balken biegen.
Ich wünsche euch alles erdenklich Gute.
Monika K.
Hochachtung für Kiki D : ❤️
Sarah
Was für eine schön formulierte Antwort. Sie wird vielen Müttern helfen!
Elisa
Ich fände es wichtig hervorzuheben, dass es auch die Möglichkeit einer IBCLC-Stillberatung gibt, um einen sanften Übergang bei der Umstellung vorzubereiten und bedürfnisgerecht zu begleiten.
Diese Fachperson könnte auch eruieren, ob eine 2-wöchige Ausschlussdiät sinnvoll ist, um das Stillen zu erhalten. Vorausgesetzt der Gesundheitszustand des Kindes lässt dies zu.