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Kommentar23. März 2025

Die Bauchlage – das letzte Rätsel der Säuglingsforschung?

Die Bauchlage des Säuglings ist ein Mysterium. Wie oft kommen verzweifelte Eltern auf mich zu und berichten das: Mein Baby schläft nur in Bauchlage wirklich gut! Offenbar fühlen sich gerade die Neugeborenen und jungen Säuglinge in der Bauchlage sehr wohl. Und die besonders reizoffenen Babys ganz besonders.

Gleichzeitig kann die Bauchlage, das wissen wir aus zahllosen wissenschaftlichen Studien, auch riskant sein: Schlafende Säuglinge, die sich noch nicht selber auf den Rücken drehen können, haben in Bauchlage ein insgesamt höheres Risko, am Plötzlichen Kindstod zu versterben. Der ist heute insgesamt zwar selten, dennoch dürfte der generelle Ratschlag, die Bauchlage beim Schlafen zu vermeiden, Tausenden von Babys das Leben gerettet haben.

Nur, dadurch wird die Frage ja nur umso spannender: Was ist falsch an der Bauchlage?

Babys fühlen sich da oft sehr wohl. Hat Mutter Natur Bockmist gebaut?

Liefert sie uns Menschenbabys, die glatt sterben können, wenn ihre Eltern vergessen, sie auf den Rücken zu drehen?

Um diese Frage wird es in loser Folge in den nächsten Monaten hier gehen. Mit der ersten Folge fange ich heute schon an, weil ich im Rahmen unserer Online Themenabende auf kinderverstehen.de demnächst einen Vortrag über den Plötzlichen Kindstod eingeplant habe. Und da wird es eben auch um das Rätsel der Bauchlage gehen. Deshalb dieser Beitrag als Einladung für die Interessierten 😉

Ticket
Neues zum Plötzlichen Kindstod
Ab 18,00 

Zurück zu dieser Serien über dieses „letzte Rätsel der Säuglingsforschung“, wie ich es gerne nenne. Denn: es ist wirklich vertrackt, das werden wir sehen. Wir werden die Bauchlage aus vielen Winkeln betrachten – aus dem medizinischen und entwicklungsneurologischen Winkel, aus dem Winkel der Verhaltensforschung (Humanethologie), aus evolutionärer und aus kulturvergleichender Sicht. Und dabei viele spannende Forschungsarbeiten zur Bauchlage des Säuglings kennenlernen.

Bitte anschnallen, denn diese Reise wurde so bisher nie unternommen.

1972, Georgetown Universitätsklinik, Washington, DC, USA

Beamen wir uns einmal zurück ins Jahr 1972, und zwar an die Georgetown Universitätsklinik, Washington, DC, USA. Damals gab es noch kein Rooming-in, keine Familienzimmer, keine Beistellbettchen, Stillen war fast ausgestorben. Die Neugeborenen verbrachten ihre Tage bei den Säuglingsschwestern, die Nächte sowieso, gefüttert wurde alle 4 Stunden. Ideale Bedingungen also für Forschungen (die damals sicherlich auch nicht wochenlang von Ethik-Kommissionen geprüft wurden).

Sollte dieses horizontale Leben am besten auf dem Bauch oder auf dem Rücken verbracht werden?

Eine aufstrebende Forscherin, Yvonne Brackbill, hat gerade vom National Institute of Mental Health ihr erstes größeres Forschungsstipendium bekommen. Und mit diesem Geld will sie einer Frage nachzugehen, die sie offenbar als eine sehr grundsätzliche betrachtete. Jedenfalls beginnt ihr im Jahr 1973 veröffentlichter Forschungsbericht so :

„Vor seiner Geburt und nachdem er die Kontrolle über seine Beine erlangt, verbringt der Mensch die meiste Zeit in einer aufrechten Stellung. Das Leben eines Säuglings jedoch verläuft weitgehend in der Horizontalen. Sollte dieses horizontale Leben am besten auf dem Bauch oder auf dem Rücken verbracht werden?“

Ja, das waren die 1970er Jahre – da dachte man, die Säuglinge liegen immer nur in der Horizontalen. Heute wissen wir, dass auch die kleinen Menschenkinder als Traglinge sehr wohl häufig vertikal sind. Und wir wissen auch, dass sie fürs Alleine-Schlafen nie konzipiert waren.

Aber egal, die Fragestellung selbst geht natürlich in Ordnung. Wie heiß die Frage war, auch darauf weist Frau Brackbill am Anfang ihrer Arbeit hin: In den USA würden die meisten Babys zum Schlaf auf den Bauch gelegt, in Europa dagegen eher auf den Rücken – wer hat Recht? Auch die Elternratgeber seien sich ja uneins: die einen rieten zur Bauch-, die anderen zur Rückenlage…

Und die Wissenschaft: habe das Thema noch nie wirklich untersucht!

Die Lücke füllte sie mit ihrem Team – und das mit enormer Systematik und Gründlichkeit.

Die Brackbill-Studie

30 gesunde, reif geborene weibliche Neugeborene wurden nach dem Füttern (damals nach der Uhr, alle 4 Stunden) jeweils 2 Stunden lang genau beobachtet. Alle Testbedingungen waren dabei gleich, nur die Lage (Bauch- versus Rückenlage) wurde jedes Mal gewechselt. Die im Schnitt etwa 2 bis 3 Tage alten Neugeborenen lagen dabei in schallisolierten, durchsichtigen, gewärmten Brutkästen, waren bis auf die Windel nackt und wurden ohne jede Intervention lediglich beobachtet. Apparativ gemessen wurde die motorische Aktivität, Atmung, Herzfrequenz und der Schlaf-Wach-Zustand, also ob die Säuglinge tief schliefen, ob sie im REM-Schlaf waren, ob sie wach aber ruhig waren oder ob sie weinten.

Ein Drittel mehr Schlaf in Bauchlage

Man traut seinen Augen nicht, wenn man die bei diesen Versuchen erhobenen Daten schwarz auf weiß sieht:

In Bauchlage schliefen die Neugeborenen ziemlich genau 35% länger als in Rückenlage. Und in den “verlorenen” Schlafzeiten taten die in Rückenlage gebetteten Neugeborenen vor allem eines: sie schrien. Tatsächlich weinten die Rückenschläfer etwa 5 mal länger als die Bauchschläfer!

Die Forscher rechneten gleich nach, was das für die Säuglinge bedeutete:

“Rechnet man diese Daten auf einen durchschnittlichen Krankenhausaufenthalt von drei Tagen um, so schreit ein Neugeborenes in der Rückenlage insgesamt etwa 10 Stunden, während bei der Bauchlage nur zwei Stunden anfallen.“

Was könnten die Folgen sein?

Also wir dürfen hier schon einmal staunen: 5 (fünf) mal längere Schreidauer in Rückenlage – das ist eine Hausnummer. Die Forschenden fragen sich dann auch gleich, was das bedeuten könnte. Und sie benennen dabei zunächst die eher praktischen Probleme:

„Das Schreien ist für das Neugeborene sehr anstrengend – es erschöpft seine ohnehin begrenzten Energiereserven – und es ist auch hart für das Pflegepersonal, das gegen die Gefahren der Lärmbelästigung nicht immun ist.“

Die ForscherInnen diskutieren ihre Befunde dann aber auch im Licht eines für die damalige Zeit ganz neuen Themas – die Diskussionen rund um den Aufbau von Bindung. Sie fragten nämlich, was der insgesamt schlechtere Schlaf und das viele Schreien in Rückenlage wohl für die Eltern-Kind-Beziehung bedeuten könnte.

Relevant für den Bindungsaufbau?

Tatsächlich führen die Forschenden ins Feld, dass die schlechtere emotionale Regulation und der damit verbundene Stress auch Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Bindung und auf das Familienleben haben könnte:

„Neben dem körperlichen Wohlergehen des Säuglings muss man auch über die Auswirkungen des hohen Erregungsniveaus während der frühen postnatalen Periode des Säuglings spekulieren, da es die Reaktionsmuster beeinflusst, nach denen seine Eltern mit ihm interagieren.“

Die Forschenden erläutern diesen etwas komplizierten Satz dann mit praktischen Worten:

„Mürrische, erschöpfte Babys dürften andere mütterliche Reaktionen hervorrufen als glückliche, ausgeruhte Babys.“

Und das, so spekulieren sie schon damals, könnte langfristige negative Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Beziehung haben:

„Diese ersten Interaktionen beschränken sich wahrscheinlich nicht auf die unmittelbare Zeit nach der Geburt, sondern dürften zu einem gewissen Grad auch die Richtung und das typische Muster der künftigen Mutter-Kind-Beziehung bestimmen.“

Tief greifende Fragen, indeed

Schon diese erste, im Grunde simple Beobachtungsstudie zur Frage der „richtigen“ Lagerung des Menschensäuglings vor nunmehr etwa 50 Jahren warf also komplexe Fragen auf. Und die Forschenden stellen diese Fragen klar und deutlich, in der ganzen gebührenden Breite:

„Beruhigt oder besänftigt die Bauchlage ein ansonsten erregtes Kind, oder ist sie die natürliche Ruheposition, im Gegensatz zu der die Rückenlage dem Baby einen Stresszustand auferlegt?“

Kurz: was ist die “physiologische“ Lagerung des menschlichen Säuglings?

Wie tief sich die Forschenden in diese Frage eingedacht haben, zeigt sich dann daran, dass sie auch den evolutionären Hintergrund ausleuchten. Sie stellen also auch die Frage: Wie ist die Lagerung des Menschensäuglings eigentlich „von Natur aus“ geplant?

In ihrer Zusammenfassung legen sich die Autoren ziemlich klar fest:

„Die Ergebnisse können auch unter ethologischen Gesichtspunkten [also aus dem Blickwinkel der biologischen Verhaltensforschung, HRP] untersucht werden. Aus dieser Sicht ist die Bauchlage der natürliche Ruhezustand (…) Schließlich ist das menschliche Baby bis zum Erwerb der vertikalen Fortbewegung ein vierbeiniges Tier.(…). Vielleicht kann die hohe motorische Aktivität, die mit der Rückenlage verbunden ist, mit den wiederholten Aufrichtungsversuchen verglichen werden, die bei jedem auf dem Kopf liegenden Tier zu beobachten sind.“

Das rückenschlafende Neugeborene – ein in eine unnatürliche Lage gezwungener Vierbeiner?

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Hier soll der erste Teil dieser Serie enden. Und das nicht ohne einen erklärenden Hinweis.

  • Erstens: es handelt sich hier um wenige Tage alte Neugeborene. Ob die Ergebnisse auf ältere Säuglinge direkt übertragbar sind, wissen wir nicht (es gibt allerdings Hinweise, dass auch die älteren Säuglunge in Bauchlage besser reguliert sind, länger schlafen und weniger aufwachen, dazu in anderen Teilen mehr).
  • Zweitens: Die Neugeborenen wurden in dieser Studie komplett sich selbst überlassen – sie bekamen keinerlei Hilfe beim Einschlafen. Beobachtet wurde also das selbstregulierte Schlafen – ein bei Homo sapien so eigentlich nicht vorgesehenes Verhalten.
  • Und drittens und bitte nicht zu Vergessendes: die Diskussion dieser Befunde sollen keinesfalls die Bauchlage als die für Säuglinge „richtige“ Schlafposition darstellen. Denn egal welche Vorteile die Bauchlage haben mag, ihr entscheidender Nachteil ist nicht von der Hand zu weisen und er ist gesichert: die Bauchlage ist die insgesamt riskantere Schlafposition, was den Plötzlichen Kindstod angeht. Schlafen in Bauchlage ist mit einem vierfach erhöhten SIDS-Risiko verbunden.

Fragen über Fragen

Enden wir aber nicht ohne einen Ausblick zu geben auf das, was noch kommen wird und welche Frage hier noch zu beantworten sein werden.

Zunächst die spannendste aller Fragen, und wie immer führt sie wieder in die tiefste Matrix der kindlichen Entwicklung – in das Feld der evolutionären Verhaltensforschung nämlich. Jede Tierart – das ist auch für Laien nachvollziehbar – hat *ihre* angestammte Schlafposition (bzw. Schlafposition*en*). Wir wissen wie Tigerjunge schlafen, wir wissen wie Elephantenjunge schlafen – aber wie schlafen die Jungen bei Homo sapiens? Ich werde zu dieser Frage eine der international ausgewiesensten ForscherInnen befragen, Helen Ball, Professorin für Anthropologie und Direktorin der Abteilung für Schlafforschung an der Durham Universität im UK – eine meiner Co-AutorInnen bei einer großen konzeptionellen Arbeit zum Thema Plötzlicher Kindstod (von der auch noch die Rede sein wird).

Das schon vorweg: Yvonne Brackbill und ihre Mitforschenden trafen mit ihren Aussagen zur „normalen“ Schlafposition des Menschenkindes nicht ins Schwarze, hatten aber trotzdem einen guten Punkt, den wir unbedingt klären sollten.

Und dann wird es weiter gehen – mitten hinein in die Plötzliche Kindstod-Forschung. Was wissen wir über den Zusammenhang zwischen Bauchlage und SIDS bzw. Erstickungstodesfällen? Was genau macht die Bauchlage gefährlicher als die Rückenlage? Und vor allem: Liegen diese Gefahren an der Bauchlage selbst, oder liegen sie auch an anderen ungünstigen Einflüssen, die die Bauchlage dann erst zur Katastrophe werden lassen? Hier werden wir tief in unseren eigenen Beitrag zur SIDS-Forschung einsteigen – eine umfassende Arbeit zur konzeptionellen Erklärung des Plötzlichen Kindstods mit dem Titel „Death from Failed Protection? An Evolutionary-Developmental Theory of Sudden Infant Death Syndrome“, entstanden in Zusammenarbeit mit Prof. Peter Blair (SIDS-Forscher am Centre for Academic Child Health, Population Health Sciences, University of Bristol, UK), Prof. Helen Ball (Anthropologin und Schlafforscherin, ebenfalls am Centre for Academic Child Health, Population Health Sciences, University of Bristol, UK), Prof. Oskar Jenni (Säuglings- und Schlafforscher am Kinderspital Zürich) sowie Prof. Freia De Bock (Präventions- und Versorgungsforschung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf).

Und zu guter Letzt werden wir dann alles zusammenfassen. Wird dann alles zur Bauchlage gesagt und bekannt sein? Natürlich nicht. Am Ende unserer Reise durch dieses vielleicht rätselhafteste Kapitel der Säuglingsforschung werden wir die Bauchlage vielleicht besser kennengelernt haben – „freisprechen“ werden wir sie dennoch nicht können, denn sie ist und bleibt die insgesamt riskantere Lage, auch davon wird die Rede sein: Die Rückenlage rettet Babyleben, nach wie vor.

Aber immerhin werden wir ein Stückchen besser verstehen, warum sie das tut.

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2 Kommentare

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  • widmerin

    Immer, wenn ich Texte zur Bauchlage im Zusammenhang mit dem plötzlichen Kindstod lese, erfasst mich eine grosse Erleichterung, dass meine Kinder mittlerweile aus dem Risikoalter raus sind. Ich hatte nämlich zwei Bauchschläfer – und das hat mir am Anfang schlaflose Nächte beschert, weil ich solche Angst hatte, sie könnten deshalb sterben…

  • Ida

    Darf ich mal ganz doof dazwischen fragen: Warum geht es immer nur um Bauch- oder Rückenlage? Mein Sohn war 7 Monate ausschließlicher Seitenschläfen (vom Tragetuch abgesehen). Vom ersten Tag an hat er sich immer auf die Seite gedreht wenn man ihn hingelegh hat. Ganz egal ob im Bett, auf dem Boden oder im Kinderwagen. Die Hebamme war ganz überrascht, dass er das mit wenigen Stunden schon konnte.
    Auch das Kind meiner Cousine schläft bevorzugt auf der Seite.
    Aber über die Seitenlage wird nie diskutiert. Warum eigentluch nicht?