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Die sechs Mythen der Beikosteinführung

Ist das Beifüttern wirklich so kompliziert?

Bis vor kurzem entschieden die Jahreszeiten darüber, was bei den Kleinsten auf den Speiseplan kam. Sommerbeikost war eine andere als die Frühjahrs-, Herbst- oder Winterbeikost. Heute scheint das Beifüttern nur noch mit einem Ökotrophologiestudium klappen zu können. Ein Blick in unsere evolutionäre Vergangenheit löst Mythen auf.

Vor einigen Jahren kam eine Mutter zu mir in die Sprechstunde und bat mich mit ernster Miene um folgende „Erlaubnis“: Ihre kleine Anoukh werde in drei Tagen ein halbes Jahr alt, an einem Montag. Sie wolle aber schon am Wochenende mit dem Beifüttern beginnen, weil da ihr Mann zu Hause sei… Offensichtlich haben wir Ärzte zusammen mit den „Einflüsterern“ aus der Nahrungsmittelindustrie ganze Arbeit geleistet: Das Beifüttern gilt als extrem kompliziertes, angeblich hochwissenschaftliches Thema, das normale Eltern in Angst und Schrecken versetzt.

Ich will als Angstlöser einen Blick in die menschliche Evolutionsgeschichte vorschlagen. Da wissen wir immerhin eines: Eltern müssen das mit der Beikost immer wieder geschafft haben, wir wären sonst auf der Erde nicht mehr anwesend. Dieser Blick in die Menschheitsgeschichte lässt – wie in anderen Fragen zum Umgang mit Kindern – gleich die Luft aus so manchem Mythos, der sich rund um das Thema Beikost gebildet hat.

Mythos 1: Beifüttern ist das Präludium zum Abstillen

Falsch. Muttermilch war im evolutionären Kontext in der Zeit des rasanten Gehirnwachstums – in den ersten zwei bis drei Lebensjahren, hier darf ein Gehirn nicht hungern – fest „eingeplant“. Sie liefert zum einen den vom Gehirn am leichtesten verwertbaren Energieträger (Einfachzucker). Zum zweiten kann sie als externe, „sekundäre“ Nahrungsquelle mögliche Versorgungsengpässe – harte Winter, ausbleibendes Jagdglück in einer Welt ohne Lagerhaltung – am besten abpuffern. Zum dritten unterstützt sie das Immunsystem bei der Auseinandersetzung mit neuen Nahrungsbestandteilen – und der damit verbundenen Keimwelt. Beikost war also in der Tat eines: Bei-Kost. Dass die Muttermilch auch heute ein immunologisches Schutzschild darstellt, lernen wir gerade aus den Beobachtungen beim Zufüttern von Getreideprodukten: Bekommen abgestillte Kinder vor dem vierten Monat glutenhaltige Getreideprodukte, so steigt ihr Risiko für die Entwicklung einer Zöliakie an – dieser Zusammenhang wird bei gestillten Kindern nicht beobachtet.

Mythos 2: Beifüttern braucht einen genauen Kostplan

Falsch. Zu 99 Prozent der Menschheitsgeschichte entschieden nicht die Sonderangebote der Nahrungsmittelindustrie, sondern das natürliche Nahrungsangebot vor Ort, was auf den Speiseplan kam. Und immer kam es da auf die Jahreszeiten an: Das „Beifüttern“ sah für ein im Winter geborenes Kinder völlig anders aus als für ein im Sommer geborenes. Gleich war nur eines: Die neue Nahrung war dem Kind und seinem Immunsystem aufs engste vertraut – schließlich ist es über das Fruchtwasser und später die Muttermilch immer Teilhaber und Mitschmecker am mütterlichen Speiseplan. Das Immunsystem baut so von Anfang an seine Toleranz gegenüber dem örtlichen Nahrungsumfeld auf. Die geänderten Leitlinien zur Allergieprävention spiegeln inzwischen diese uralte Botschaft wider. Weder braucht die Mutter ihre Ernährung in der Schwangerschaft und Stillzeit einzuschränken, noch bringt eine verzögerte Einführung der Beikost Vorteile.

Mythos 3: Beikost einführen heißt Füttern

Falsch. Die Kleinen haben mehr zu tun als ihren Mund aufzusperren. Menschenkinder bringen seit jeher auch zur Essensaufnahme ihren „Mitgestaltungs-Trieb“ mit – sie wollen sich als wirksam erleben, also auch beim Essen mitmachen: Zugreifen, festhalten, zermatschen, reinschieben… Sie wollen ja immer das ausspielen, was sie schön können – und dieses Können macht im zweiten Lebenshalbjahr bekanntlich einen großen Sprung, wenn es um die Hand-Mund-Koordination, das Abbeißen und das Kauen geht. Auch ganz kleine Menschen wollen mehr als druckbetankt, belöffelt – oder bespielt – werden!

Mythos 4: Beikost ist Breikost

Falsch. Das Essen wurde in der evolutionären Vergangenheit mangels Kühlschrank und Lagerhaltung frisch zubereitet, und der Pürierstab war noch nicht erfunden – er musste durch die Zähne der Eltern ersetzt werden, die das Essen vorkauten. Insgesamt aber muss die Kost der kleinen Kinder deutlich gröber gewesen sein als heute üblich, wo Brei, eingeweichte Cornflakes und Milchschnitte als typische Kleinkindnahrung gelten. Jedenfalls legen dies Skelettfunde nahe – eine Fehlstellung oder Unterentwicklung der Kieferknochen wird nämlich erst seit dem 17. Jahrhundert in nennenswerter Häufigkeit beobachtet. Schließlich ist es der Muskelzug beim Kauen, der den Kiefer formt und die korrekte Stellung von Ober- und Unterkiefer bestimmt.

Mythos 5: Alle Kinder beginnen zur gleichen Zeit

Falsch. Wir wissen heute, dass nicht einmal alle Kinder zur gleichen Zeit mit dem Leben anfangen wollen – die normale (!) Schwangerschaft variiert um immerhin 37 Tage. Und die Kleinen wollen auch nicht zur gleichen Zeit mit der Beikost anfangen, die Voraussetzungen dafür entwickeln sich bei jedem Kind unterschiedlich. Um sich größere Mengen einzuverleiben müssen sie ja die „Einholbewegung“ der Zunge beherrschen, und Zähnchen zum Abknabbern schaden auch nicht. Und Mut und Neugier braucht es auch – auch das ist bei jedem Kind unterschiedlich portioniert. Kleinere Mengen an Zusatznahrung dürften aber im evolutionären Kontext auch schon im ersten Lebenshalbjahr angeboten worden sein – jedenfalls enthält die Muttermilch schon von Anfang an das zum Stärkeabbau benötigte Enzym Amylase – damit lassen sich etwa zerkaute und per „Atzung“ (Kussfütterung) verabreichte Beerchen gut verdauen.

Mythos 6: Beikost ersetzt Stillmahlzeiten

Falsch. Damit sind weinende, schlecht schlafende Säuglinge vorprogrammiert. Beikost ist kalorisch deutlich weniger „dicht“ als Muttermilch. Auch der Säugling stimmt anders ab: Die Kleinen gehen freudiger und mutiger auf neue Kost zu, wenn sie zuerst den Busen bekommen. Der Explorationstrieb setzt nun einmal nur dann ein, wenn sich ein Kind sicher und geborgen fühlt. Säuglinge setzen offensichtlich auf die friedliche Koexistenz von Stillen und Beikost.


Mythen haben lange Halbwertzeiten

Zurück zur kleinen Anoukh. Hoffen wir darauf, dass sich ihre Mama entspannen kann. Das ist in einem kommerziell durchorganisierten und mit entsprechend vielen Werbebotschaften geprägten Umfeld gar nicht so einfach. Zudem wird die Beratung zum Beifüttern – oder auch anderen Fragen des normalen Umgangs mit Säuglingen – oft von Fachkräften und ExpertInnen geleistet, die in diesem Bereich weder auf eine fundierte Ausbildung zurückgreifen können noch sich zu diesen Fragen aktiv fortbilden. Auch der eine oder andere Kinderarzt gehört da durchaus dazu…. Die Halbwertszeit selbst offensichtlich unsinniger Mythen ist damit selbst in einem Zeitalter, das sich als „wissenschaftlich“ rühmt, überraschend lang (ich gehe auf die Gründe dafür in diesem Beitrag ein). Natürlich, die Mythen sind gut gemeint – in aller Regel. Aber eben trotzdem Geschwätz. Sorry Anoukh!

(Der Artikel erschien zuerst in: Deutsche Hebammenzeitschrift 02/2014)

Dieser Beitrag beruht auf dem Buch des Kinderarztes und Wissenschaftlers Dr. Herbert Renz-Polster: „Kinder verstehen. Born to be wild - wie die Evolution unsere Kinder prägt". Es beschreibt die Entwicklung der Kinder aus dem Blickwinkel der evolutionären Verhaltensforschung.
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1 Kommentar

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  • Henrike

    Mich würde interessieren, wie sie dazu stehen, dass junge Eltern dazu gedrängt werden unbedingt bald mit der Beikost anzufangen, wegen des Eisenhaushaltes des Babys.
    Einerseits: wenn Fleisch auf dem Speiseplan der Vorfahren stand, dann werden sie dem Baby das auch vorgekaut zugefüttert haben, OK.
    Ich habe letztens gelesen, dass das mit dem Eisenspiegel in westlichen Ländern mehr ein Problem wäre und daran läge, dass (in der Vergangenheit) die Nabelschnur bei der Entbindung nicht auspulsieren lassen wurde. Die drei Minuten mehr bei der Geburt bringe wohl soviel Eisen, dass das Baby auch bis zu einem Jahr genug hätte. Da kann man den Eltern die Panik nehmen, das Kind unterzuversorgen, wenn es nicht gleich klappt.
    Ich kenne eine indische Familie, die kein Fleisch isst (dafür Hülsenfrüchte). Der Kinderarzt war zufrieden mit der Entwicklung.
    Ich denke bei Udo Polmer gelesen zu haben, dass westliche Ärzte in ärmeren Ländern zu Eisengaben geraten hatten, worauf die Kinder anfälliger für Krankheiten waren.
    Außerdem hatte ich gelesen, dass gar nicht genau klar wäre, wie hoch der Eisenspiegel bei Babys tatsächlich sein sollte und das auch nicht häufig untersucht würde.
    Habe ich jetzt einen Haufen Halbwissen?
    Ich bin, wie bei vielen Themen (Stillen, Schnuller…), dafür entspannt und mit wenig erhobenen Zeigefinger mit dem Thema umzugehen.