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Karies durch Langzeitstillen?
Mein Kind, vor kurzem 2 geworden, wird noch ein- oder zweimal in der Nacht gestillt. Jetzt stellte kürzlich die Zahnärztin an drei Zähnen beginnende Karies fest. Sie meinte, ich müsste das Stillen unterlassen. Nun ist es mir ohnehin schon unendlich peinlich und ich fühle mich meinem Kind gegenüber schuldig, dass es so früh Karies hat. Dazu kommt jetzt noch das schlechte Gewissen, doch so lange zu stillen und dadurch hauptverantwortlich für Karies zu sein. Mein erstes Kind, sechs Jahre alt, wurde mit 14 Monaten abgestillt und hat immerhin bis heute sehr gesunde Zähne. Ist Langzeitstillen wirklich so schlecht für die Zähne?
Das Wichtigste an dieser Frage ist mir gar nicht die Karies selber, sondern die Frage nach der Schuld. Dass sich Eltern sofort schuldig fühlen, wenn das Kind was hat oder leiden muss, ist normal.
Aber du musst unbedingt auch einen Schutz dagegen stellen! Und dir immer wieder sagen: ich mache hier alles so gut ich kann, und eigentlich läuft es gut. Du, mein Kind, hast bei mir Geborgenheit, wir sorgen gut für dich, du gedeihst.
Passieren uns vielleicht manchmal auch Fehler? Kriegen wir etwas nicht so gut auf die Reihe? Bestimmt, das gehört auch zu dem Paket „Leben mit Kindern“. In dem passieren nicht nur Magie und Wunder, sondern auch Unfälle, Irrtum und anderer Sch…. Wir versuchen dann das Beste draus zu machen und daraus zu lernen. Aber insgesamt machen wir es gut.
DAS ZÄHLT und ist das Entscheidende: Dein Kind ist gesund und ganz, auch wenn es jetzt Karies an den Zähnchen hat. Manchnmal passieren solche Sachen, und die beste Mama oder Papa können es nicht verhindern. Die Frage nach der Schuld führt nirgendwohin.
Aber zu Deiner Frage! Wie Stillen und Karies zusammenhängen, ist unglaublich komplex.
Du siehst es ja schon an deinem persönlichen Fall. Würdest du deine Tochter jetzt nicht mehr stillen und sie bekommt Karies, dann hieße es: das kommt vom Zucker! Oder von den Genen. Oder vielleicht putzt sie zu wenig.
Jetzt heißt es: es kommt vom Stillen.
Auch die Wissenschaft kann die Frage nicht eindeutig beantworten. Sie ist sich zwar sicher, dass Stillen insgesamt besser für die Zahngesundheit ist als Fläschchenfüttern. Beim Langzeitstillen aber sind die Experten gespalten. Viele Studien sehen keinen Zusammenhang zwischen Langzeitstillen und Karies, andere weisen auf ein erhöhtes Risiko hin. In einer großen Übersichtsarbeit hieß es zuletzt: Es kommt auf die Umstände an – wichtiger als das Stillen selbst sei es ab dem zweiten Lebensjahr, was neben der Muttermilch sonst noch auf die Zähne einwirkt. Mir erscheint dies plausibel.
Konkret heißt das: Anstatt jetzt reflexhaft zu reagieren, gilt es abzuwägen. Was könnt Ihr sonst noch tun? Und: wie sieht für euch das Verhältnis zwischen Risiko und Nutzen aus? Also: wie viel „wiegt“ für euch gerade die Stillbeziehung? Und: Was könnt ihr tun, dass die Karies nicht fortschreitet?
Regel 1
Nicht das Stillen allein macht Karies – meist liegt dahinter eine Kombination aus mehreren Risikofaktoren, die zusammenwirken. Manche davon sind beeinflussbar, manche nicht. So stehen hinter der Karies zum Beispiel Kariesbakterien, die irgendwann einmal übertragen wurden – durch Schnuller, Küssen, … – Teilen von Spucke eben. Aber auch hier: das passiert, das ist oft Teil eines normalen, guten Lebens. Achtet auf eure Zahnhygiene aber fang jetzt nur nicht das blame-game an!
Regel 2
Tatsächlich kann Karies (sie beginnnt mit weißlich-kreideartigen Stellen, den so genannten Initialläsionen) im Anfangsstadium durch Fluoridierung noch gestoppt werden – ihr braucht also eine kompetente Zahnärztin – auch unabhängig davon ob du weiter stillst oder nicht. Besprecht auch die vorbeugenden Möglichkeiten (Fissurenversiegelung, Fluoridlacke etc.). Birkenzucker als Zuckerersatz oder in Gelform wird teils gehypt, die Evidenz dafür steht aber eher auf wackeligen Beinen.
Regel 3
Wichtiger: Nach vorne blicken. Was könnt ihr praktisch tun?
Zum einen gilt es weitere Zahnrisiken einzugrenzen. Manche Kinder etwa lieben stark säurehaltige Sachen (auch natürliche, wie etwa Zitronen – weg damit). Und natürlich solltet ihr jetzt auch die üblichen Verdächtigen angehen: stärkehaltige Zwischenmahlzeiten (wie Kekse und alles was an den Zähnen klebt), Fruchtsäfte, regelmäßige Süßigkeiten (und hier geht es wirklich um die Regelmäßigkeit und weniger um die Menge – wenn ihr dem Kind Süßes gebt, dann lieber alles auf einmal und nicht über den Tag verteilt).
Falls ihr euch entscheidet weiter zu stillen, dann könnt ihr auch versuchen das nächtliche Stillen zu reduzieren, auch das kann präventiv wirken.
Gute Infos zu Stillen und Karies findet ihr übrigens auch im Still-Lexikon
Alles Gute!
Eine Kollegin, nicht pädiatrisch
Wow, vielen Dank, wieder so fundiert! Und vielen Dank für das Durchkreuzen und Entlarven des Blame-Games und das Stärken der Eltern 🙂 🙂 🙂
Ich oute mich auch mal als ehemalige Ü-2- Stillerin…
zwar hatten wir nicht selbst das Problem (wir haben aber auch die benannten Verdächtigen wie Hafer- und Reisdrink, Knabberbrezeln, Maissticks etc gemieden), aber vor allem weil wir das Zähneputzen immer spielerisch halten wollten, haben wir uns mit dem Thema beschöftigt. Diesen Artikel von einer langzeitstillenden Zahnärztin mit konkreten Praxistipps fand ich auch sehr gut: https://www.stillkinder.de/stillen-und-karies/ – Btw. diese Stillseite finde ich übrigens neben dem Stilllexikon ebenfalls fachlich extrem fundiert, teilweise mit noch mehr praktisch umsetzbaren Ratschlägen und sehr ermutigend.
Tini
Das hätte ich geschrieben haben können…
Das große Kind hat nichts, obwohl wir anfangs große Probleme hatten, mit ihm wirklich gründlich die Zähne zu putzen. Auch weil er viel krank war im ersten Kitajahr und manchmal tagelang nicht ans Putzen zu denken war. Ich habe mir viele Gedanken gemacht und dann ist bei ihm nichts passiert!
Der kleine Bruder wurde langzeit gestillt, Zahnhygiene war viel gründlicher, regelmäßiger, selbst bei Krankheiten, weil er niemals so geschwächt war wie der große Bruder. Kaum waren die letzten Backenzähnchen gewachsen, hatte sie parallel schon Löcher.
Der Gang zum Zahnarzt ist eine einzige peinliche Aktion. “Besser putzen! Nicht mehr stillen! Tja, selbst Schuld!”
Mittlerweile, das Kind ist 4, musste sogar schon eins der Zähnchen gezogen werden, weil es nicht mehr behandelt werden konnte. Der andere Zahn ist in Behandlung. Aus dem Blame-Game bin ich keinesfalls raus! Ist das so ein Mütter-Ding? Der Papi zieht sich diesem Schuh natürlich nicht an!
Ich finde es wirklich schwer, meinem Kind gänzlich die Süßigkeiten zu verbieten. Gummibärchen nur zu Geburtstagen, Lollis gar nicht, Kaubonbons ebenfalls niemals, aber Schokolade nach den Mahlzeiten ist drin. Und engmaschige Zahnarzttermine, da hat unsere Zahnklinik ein ziemlich gutes Konzept für ihre kleinen Patienten. Und dennoch -Blame-Game, denn egal wie gut wir putzen, es ist ihnen niemals perfekt genug.
Xenia
Vielleicht sollte man in dem Zusammenhang noch erwähnen, dass es nicht umsonst „Milchzähne“ heißt.
Karies in den Milchzähnen heißt nämlich nicht, dass es in den bleibenden Zähnen auch Karies geben wird.
Die Faustregel „einmal Karies, immer Kariesrisiko“ stimmt sicher da, wo Gene oder Zahnpflege der Grund waren.
Aber wenn nächtliches Stillen der Auslöser war? Stillt noch jemand, wenn die bleibenden Zähne kommen?
Natalie R.
Ich habe vier Kinder und alle über das zweite Lebensjahr hinaus gestillt. Das jüngste ist jetzt 3 1/2 und darf nachts und mehrmals am Tag an die Brust. Keines der Kinder hat Karies! Allerdings auch niemand in der Verwandtschaft und wir als Eltern auch nicht. Wir fingen spätestens mit einem Jahr mit regelmäßigem Zähneputzen bei Kinden an. Und Süßes kriegen sie auch alle. Ehrlich gesagt, habe ich noch nie vom Zusammenhang Karies und Langzeitstillen gehört und ich kenne viele Frauen, die lange gestillt haben.
Meine Kinder haben ein anderes Zahnproblem: sie bekamen spät Zähne und auch der Zahnwechsel verzögert sich sehr. Ob die super stabilen Milchzähne vom langen Stillen kommen?!
Katrin F.
Ich habe auch mehrere Kinder langzeitgestillt (bis ca. 3 Jahre) und keines hat Zahnprobleme. Unsere Zahnärztin war selbst Langzeitstillerin und fand es sehr gut, dass wir das auch so machen.
Mir würde sich auch die Logik nicht erschließen, warum ein Kind, welches ab und an die Brust im Mund hat davon mehr Karies haben soll, als ein Kind, das stattdessen die Flasche nimmt. In dem Alter hängen sicher die wenigsten Kinder so lange und häufig an der Brust wie manche Babies im ersten Lebensjahr.
Sumi
Hier nur mal mein persönlicher Bericht. Unser Kind ist 4 und hatte (toi toi toi) noch keine Karies. Sie wurde/wird auch Langzeitgestillt. im Alter wie das Kind oben sicherlich auch ähnlich häufig und selbst jetzt darf sie es ab und an zB abends, wenn sie fragt, aber es kommt mittlerweile kaum noch vor. Ich bin manchmal erstaunt, dass sie sagt, es kommt überhaupt noch Milch, da wir teilweise so lange Pause haben. Wir achten sehr darauf, morgens und abends zu putzen und bis das Kind Schreibschrift schreiben kann (dann ist die Motorik weit genug) sollten immer die Eltern (nach-)putzen. Sie hat im ersten Lebensjahr keinen zugesetzten Zucker bekommen, danach allein durch Kita kaum vermeidbar immer mal wieder etwas, wir versuchen, dass es nicht zu viel wird. Aber es ist schwierig und man kann es nie perfekt machen. Ich finde die o.g. Tipps gut und mehr, als auf eher wenig schädliches Essen und regelmäßige Zahnpflege zu achten, kann man nicht machen, denke ich. Das Stillen dafür verantwortlich zu machen halte ich auch für zu einfach und voreingenommen.
Ingi
Danke für diesen tollen Beitrag! Ich freue mich immer, wenn ich so etwas Unverkrampftes, Vernünftiges zu dem Thema lese. Und ich finde auch die Schuldzuweisungen völlig unangebracht. Niemand will ja, dass sein Kind Karies bekommt. Und ein vertrauensvolles Verhältnis entsteht so auch nicht. Eher gibt es zu viel Unwissenheit.
Daher Regel Nummer 4: was war, das war und ab jetzt: gründlich Putzen. Ich bin selbst Zahnärztin und Langzeitstillerin und glaube auch, dass andere Faktoren schwerer wiegen als das Stillen. Wie in dem Link (unbedingt lesen) im obigen Kommentar empfohlen, mit einer Solobürste putzen oder ich habe auch schon früh elektrisch geputzt – schneller und gründlicher – obwohl erst ab drei Jahren “freigegeben”. Nur denke ich: besser sind die Zähne ganz bisschen stärker abgenutzt als dass sie (noch mehr) Karies haben. Mit der Solobürste dauert es schon echt lange, das macht nicht jedes Kind mit. Und bei bestehendem Kariesrisiko tatsächlich auch schon Zahnseide. Mein Sohn hatte mit zwei Jahren Initialkaries (weiße Flecken) zwischen den oberen Schneidezähnen, ab da habe ich elektrisch geputzt und Zahnseide verwendet (das habe ich immer etwas ausgeweitet, erst nur an ein, zwei Zwischenräumen, dann drei, vier,…so kann man das Kind leichter daran gewöhnen).
Ansonsten ist meine Beobachtung, dass leider bei diesen Thema oft “bedürfnisorientiert” falsch verstanden wird- vermutlich auch aus Unwissenheit, denn keiner will ja, dass sein Kind Karies bekommt: wenn das Kind keine Lust hat zu putzen, wird nicht geputzt. Ich bin klar gegen jedweden Zwang!! Aber für Klarheit und für alle Tricks: Währenddessen mit Wasser spielen lassen, Video schauen lassen, Geschichte erzählen, was fürs Kind gerade passt, oder evtl. Mitentscheidung bzgl. des Zeitpunktes: vor oder nach dem Schlafanzug anziehen. Und gleichzeitig gibt es zu häufig Essen nach Belieben: siehe auch Regel Nummer 3 von HRP – als Ergänzung: auch Trockenfrüchte kleben richtig gut an den Zähnen und enthalten viel Zucker.
Kerstin
Das war auch meine Frage unter dem Artikel zum Langzeitstillen.
Vielen herzlichen Dank, dass Sie sich der Fragestellung angenommen haben
(nur schade, dass die Ergebnisse nicht irgendwie eindeutiger sind).
Und danke auch an alle Kommentierenden, die von Langzeitstillen und gesunden Zähnen berichten. Das beruhigt mich gerade allgemein.
Meine Jungs hatte ich alle früher (nachts) abgestillt und fange jetzt bei meiner 21-Monate alten Tochter gerade wieder an über dieses Thema nacgzugrübeln.
Senta
Auch wenn es nun sicher nicht mehr aktuell ist, möchte ich gerne noch einen Aspekt hinzufügen.
Meines Erachtens sollte auch die Sicht des Partners nicht komplett ignoriert werden. Es hieß in der ursprünglichen Frage ja, dass der Vater seit dem Besuch beim Zahnarzt das Stillen nicht mehr unterstützt.
Jetzt meine Frage: Ist er denn auch bereit etwas dafür zu tun?
Also die Idee das nächtliche Stillen zu reduzieren ist ja sehr sinnvoll aus verschiedenen Aspekten, aber unserer Erfahrung nach, kann jemand nicht-laktierendes das Kind viel leichter ohne zu stillen beruhigen als jemand, dem die Milch aus der Brust läuft und dann dem Kind trotzdem „vorenthält“.
Ich finde es wichtig Väter in die Entscheidung einzubeziehen – vorausgesetzt sie tragen auch ihren Teil dazu bei.
Bei uns war es z.B. eher umgekehrt, ich hatte wenig Lust aufs Stillen, mein Mann fand es wichtig und hat sich dann immer um alles gekümmert, ich habe quasi weitergeschlafen beim stillen, ging viel besser als man denkt.
Lieben Gruß und alles Gute