Die neue Vortragsreihe – wissenschaftlich fundiert, praxisnah und mit persönlichem Austausch.
Einen Zornanfall begleiten – wie mache ich das bloß richtig ??
Ich bin Erzieherin, habe selber noch keine Kinder. Sie haben immer wieder über den Umgang mit Zornanfällen von Kleinkindern geschrieben, und ich muss ehrlich sagen, ich bin verwirrt. Ich lese einerseits, wie wichtig es ist, den Kindern ihre Gefühle zu spiegeln und ihnen auch Worte dafür zu geben, und es wird ja in vielen Büchern auch betont, dass die Kinder ihre Gefühlswelt dadurch besser kennenlernen. Aber wenn ich zum Beispiel dem Kind gegenüber Gefühle dann auch benennen will, dann kann ich das ja nur, wenn ich nahe beim Kind bin. Nun schreiben Sie aber, dass es manchmal gar nichts bringt, einem frustrierten Kind durch Nähe helfen zu wollen und dass es eher darum geht zu spiegeln, dass die Welt sicher und in Ordnung ist.
Was stimmt nun? Ich frage auch deshalb, weil wir zum Umgang mit Zornanfällen einen Elternabend planen.
Ich danke Dir, und vielleicht lasse ich gleich die Katze aus dem Sack: beides stimmt.
Es kommt nämlich auf die Situation und den Anlass des Autonomiekonfliktes an.
Die meisten Eltern kennen ja den zumindest zuhause häufigsten Auslöser: den direkten Konflikt. Typisches Beispiel: Das Kind will etwas machen, das Du ihm verwehrst. Es will nochmal ein Stück Schokolade, Du sagst Nein. Es will die Matschhose nicht anziehen, Du willst es aber ohne Matschhose nicht in den Matsch lassen. Du musst morgens um 7:30 aus dem Haus, Dein Kind will lieber fertig spielen. Und so weiter. Hier erlebt das Kind Frust – durch Dich. Und es hat einen mächtigen Zorn – auf Dich. Es fühlt sich beschissen – und schuld bist in seinen Augen: Du.
Du kennst aus Deiner Arbeit in der Kita nun auch Konflikte, bei denen Du als Erzieherin nur indirekt beteiligt bist. In denen es aber auch um Frust, Zorn und enttäuschte Autonomieforderungen geht. Da wird ein Kind von einem anderen Kind ausgegrenzt und darf nicht mitspielen. Oder es bricht innerlich zusammen, weil sein Lieblingsspielzeug schon wieder bei einem anderen Kind ist. Oder es ist bei einem Spiel nicht so schnell oder so gewandt wie die anderen und geht dann in der Enttäuschung unter. Auch hier erlebt das Kind also übermächtige negative Gefühle – aber an denen bist nicht Du „schuld“. Die Grenzen kommen von anderen oder vom Kind selbst.
Was hat das nun mit unserer Reaktion zu tun? Enorm viel!
Bleiben wir doch gleich bei den „indirekten“ Konflikten, gerade in der Kita. Da ist ein schwer enttäuschtes oder zorniges Kind. Dieses Kind erfährt die Sicherheit und Ordnung der Welt meist dadurch, dass Du als seine erwachsene Vertrauensperson Initiative ergreifst und dem von seinen Gefühlen überwältigten Kind zur Seite stehst. Da ist am Anfang vielleicht auch eine Abwehr, aber oft merkst Du schnell: da steht ein Türchen offen – oder gar ein ganzes Scheunentor! Durch dieses Kommunikationstürchen will das Kind Trost erfahren, aber auch Rückenwind bekommen, um diesen Berg an Gefühlen zu bewältigen. Es will von Dir dazu Proviant bekommen – ein liebendes Gegengewicht gegen den Frust der Welt sozusagen.
Und da kann es auch dazu gehören, dass Du dem Kind hilfst, seine Gefühle erst einmal zu ordnen: „Gell, das findest Du gemein und bist zornig auf den Leo.“ Oder: „Die rennen immer schneller zur Zauberhöhle wie Du, und das ärgert Dich ganz doll.“ Du bist da: eine Klagemauer, eine Kraftspenderin, Aufladestation. Manchmal auch Lösungsvermittlerin: „Wir haben doch diese Sanduhr, die darfst Du umdrehen, dann weiß der Leo, wie lange er noch schaukeln darf.“ Und weil Du jetzt mit dem Kind direkt und unmittelbar in Beziehung trittst, entsteht für das Kind das Gefühl einer stimmigen Welt: Manchmal ist die Welt scheisse, aber gut ist, dass mir dann jemand hilft. Dann kann ich danach wieder weiterspielen, und das tut gut.
Und welche Erfahrung machst Du selber dabei? Auch eine gute: Ich kann diesem Kind Stabiltät vermitteln und ich merke auch, dass es dann immer besserer durch dieses Gefühlsgebirge wandern kann. Vielleicht merkst Du sogar dann im Lauf der Zeit, dass dieses Kind in ähnlichen Situationen immer besser selbst klarkommt!
Damit aber zu den „direkten“ Konflikten. Oft spielen sie sich mit den primären Bindungspersonen ab, und oft sind die Auslöser direkte Begrenzungen. Oder Dein Kind ist sonstwie gefrustet – und richtet das gegen Dich (kleine Kinder meinen nämlich, dass Du verantwortlich bist, wenn sie einen Kummer haben – ist leider so). Wir sind da jetzt in einem anderen Film, nämlich einem, wo Dein Kind den vollen Dampf hat – gegen Dich! In einem Film, in dem Dein Kind vielleicht sogar gegen Dich kickt und spuckt und Dich so richtig bescheuert findet. In diesem Film bist Du direkte KonfliktpartnerIn, und Dein Kind geht oft auf maximale Distanz. Diese Distanzierung, wir sollten das auch wirklich verstehen, ist tatsächlich eine vernünftige Reaktion. Denn genau DU hast in seinen Augen ja diese Gefühlslawine losgetreten!
Da kannst Du nach einem offen stehenden Kommunikationstürchen suchen soviel du willst – meistens findest Du keines.
Trotzdem ist es auch hier natürlich nicht egal, welche Begleitung das Kind durch uns erfährt! Klar braucht dein Kind auch da Verständnis, manchmal auch Trost. Aber hier zeigt Dir Dein Kind oft eben auch und ziemlich klar, dass es vor allem jemanden braucht, der seinen Zusammenbruch aushält. Und dabei trotzdem noch irgendwie Verbindung hält und das vor allem ohne gemein zu werden.
Das ist finde ich die allerwichtigste Zutat, alles andere ist sozusagen Kür. Du bist also präsent, ohne Dich aufzudrängen – denn das wiederum verstärkt oft die Distanzierungsreaktion, gießt also auch wieder Öl ins Feuer. Deshalb kannst Du Deinem Kind hier meist am Besten sozusagen indirekt helfen.
Etwa, indem Du Dich selbst regulierst so gut es geht. Darüber wird viel geschrieben, aber letzten Endes berichten dann 10 Eltern von 10 verschiedenen Arten wie sie das machen und was bei ihnen funktioniert. Manche sagen sich ganz bewusst, dass hier ein kleines Kind gerade seine Gefühlsregulation entwickelt und heftig übt. Oder sie erden sich selbst durch bewusstes Atmen, oder durch Mantras oder Zählreime. Oder Körperübungen. Oder sie schieben sich rasch ihre Lieblingsmusik ins Ohr. Oder sie machen etwas Praktisches, stricken wie wild Socken oder braten Pfannkuchen.
Das alles klingt einfach, ist aber oft unglaublich anstrengend. Denn Dein Kind ist in einem klassischen Double-bind: Einerseits ist es extrem zornig auf dich, andererseits ist sein Bindungssystem extrem aktiviert – es will eigentlich zu Dir, kann es aber nicht. Furchtbar ist das!! (Viele kennen das wahrscheinlich von ihren eigenen Paarkonflikten). Eine Gratwanderung also: nahe sein zu wollen funktioniert nicht, die volle Distanz aber auch nicht. Und oft sind wir ja ganz alleine mit dem verzweifelten Kind – und damit Hexe und Heilige in einem! Viele Eltern berichten tatsächlich, wie viel einfacher sich Zornanfälle „lösen“ lassen, wenn noch eine weitere Bindungsperson da ist – hier kannst Du bei großer Not ja auch mal dem Pulverdampf entschlüpfen ohne dem Kind gleich den Boden wegzuziehen.
Denn auch das gehört zur Realität: oft geht im 1:1 tatsächlich gar nichts. Und wir Eltern müssen uns dann manchmal auch für den eigenen Schutz und den Schutz des Kindes distanzieren. Einfach, weil intensive Zornanfälle eines geliebten Kindes auch am Eingemachten kratzen und uns selbst unglaublich irrational werden lassen (ähnlich wie das Kolikweinen der Babys). Da hilft oft gar nichts als die Distanz auch zuzulassen, natürlich so achtsam wie möglich, aber das ist besser wie wenn Du Dein Kind verletzt. Will heißen: Besser Du stellst Dich im Notfall selber unter die Dusche als dass Du Dein Kind abduschst.
Wo es geht ist der Mittelweg oft der beste, ich nenne ihn: Aktion Schutzglocke (wir hatten das in einer anderen Sprechstunde schon 😉): Du machst weder Dir noch dem Kind Vorwürfe und fokussierst nicht auf die Lösung des Knotens, sondern auf Praktisches, Alltägliches. Vielleicht machst Du schon mal den Kakao warm, damit es gut weitergeht, wenn die Pfeiler der Welt wieder stehen. Ich glaube dieses Signal „das ist grad blöd, aber ich halte einstweilen die Tiger fern“ ist tatsächlich sehr wichtig. Dieses Die-Welt-bleibt-stabil ist in der Regel aber ein non-verbales Signal, denn nur Dein Kind kann jetzt das innere Türchen aufmachen. Statt zu drücken und zu schieben darfst Du also achtsam warten und beobachten, wann dein Kind ein Nähe- oder Kommunikationssignal gibt. Du kannst ruhige Angebote machen („Du darfst jederzeit auf meinen Arm“) – mehr erreicht aber oft das Gegenteil, weil wir dann ja das Kind bedrängen und damit seine Gefühle auch aufwirbeln.
Da hilft Dir nur die Gewissheit: Dein Kind wird auf Dich zugehen, sobald es innerlich bereit ist, da kannst Du Dir sicher sein.
Also: ich danke Dir für diese so wichtige Frage! Sie zeigt einmal mehr, dass es oft keine „so-oder-so“ Antworten gibt, und dass es nicht DIE EINE „Strategie“ gibt.
Zumal die Realität ja das zeigt: oft klappt gar nichts, und Dir bleibt nur: in Würde unterzugehen. Und wie immer bleibt Dir die stärkende “Strategie Elternfell” – besprochen hier in meinem neuen Buch:
Jale
Wow, das ist echt genial, das mal so aufzuschlüsseln zwischen “ich bin dran schuld” und “was anderes ist dran schuld”.
Das kannte ich jetzt von nirgendwoher. Mega!!!
Für mich ist diese Synthese 🙂 jetzt definitiv “state of the art des Zornanfalls” 😀
Erneut großen Respekt und herzlichen Dank.
Andrea
Genau das dachte ich auch! Bisher war ich immer skeptisch gegenüber diesem Konstrukt „Zornausbruch begleiten“. Es war mir einfach zu ungenau. Habe ich in der Vergangenheit begleitet und mein Sohn drehte noch mehr auf, habe ich es falsch gemacht. Ging es gut, war natürlich alles super. Nur für mich nicht nachvollziehbar. Es mag theatralisch klingen, aber einfach gut das es diese Seite gibt.
Widmerin
Ich fühle mich gerade so bestätigt in meiner Erfahrung, mein Kind einfach toben zu lassen, wenn es so aufgelöst ist – und in der Nähe zu bleiben und etwas anderes zu machen.
Dieses ganze Spiegeln von Gefühlen hat beim Grossen NIE funktioniert und irgendwann bin ich einfach dazu übergegangen, aktiv gar nichts mehr zu machen. Der Kleine steuert gerade in eine ganz ähnliche Richtung. Er ist bald eineinhalb jährig und hat seit ein paar Wochen Wutausbrüche die sich gewaschen haben, wenn er von uns etwas nicht bekommt, was er möchte. Trösten lässt er sich ebenfalls nicht. Am besten hilft auch bei ihm einfach abwarten.
Das jetzt noch hier bestätigt zu bekommen, tut so gut!