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Hilfe, mein Kleinkind explodiert IMMER!
Meine Tochter, 2,5 Jahre alt, war schon immer gefühlsstark. Aber jetzt gibt es eigentlich immer nur Stress. Es muss immer nach ihrem Kopf gehen, sonst drohen Zornausbrüche, und die haben es in sich. Kürzlich etwa war ihr Lieblingsjoghurt nicht da – mein Mann ist dann schnell los beim Lidl um die Ecke einen besorgen. Kaum war der Deckel runter wollte sie noch Marmelade mit rein: „ein Löffel“. Ich mach den rein – „zu viel“ – nehme die Marmelade wieder raus und gebe eine kleinere Portion dazu. Dann kommt: keine Marmelade – bääh, und sie wirft alles auf den Boden. Ich kann wirklich nicht mehr und auch unsere Ehe leidet. Dabei sind wir immer auf ihre Bedürfnisse eingegangen.
Was Du schilderst, begegnet Eltern tagtäglich in Hunderten von Variationen. Nicht wenige Eltern erzählen mir, dass sie wie auf Eiern durch den Tag gehen, in beständiger Angst, dass ihr Kleinkind ausrastet und es dann ab ins Tal der Tränen geht. Und deshalb werden dann „falsch“ geschnittene Apfelstücke wieder zusammengeklebt („nein, ich wollte, dass du die so rum schneidest“!!!), Nutella auf Frühstücksbrötchen geschmiert (obwohl man sich geschworen hat, dass der Tag mit was „Gesundem“ beginnen sollte) oder lange Umwege in die Kita gefahren, „denn wenn wir nicht an dem gelben Haus vorbeifahren, ist der Tag gelaufen“. Endlose Zornanfälle gibt es auch, wenn Mama die Treppe nicht wie angewiesen vor dem Kind hochläuft oder es die Milch nicht in den Ausguss schütten darf.
Wenn ich viele dieser Klagen zusammenfassen sollte, würden das so aussehen: Hilfe, meinem Kind geht es nur gut, wenn es nach seinem Willen geht. Leider ist seine Komfortzone sehr dünn, und wir haben unendlich Stress.
Das hat aus meiner Sicht nichts mit „Gefühlsstärke“ zu tun, sondern eher mit einem „Gefühlsdurcheinander“.
Und das entsteht oft aus den allerbesten Gründen.
Zum einen: Kleinkinder sind so, Punkt. Sie neigen zu unkontrollierbaren Zornanfällen. Aus guten, entwicklungsbedingten Gründen.
Nur: In Eurem Fall geht es nicht um die normale „Zornbereitschaft“ des Kleinkindes, es geht um eine Zorngewohnheit. Und die, da will ich ganz klar sein, ist in aller Regel antrainiert (seltener stehen bestimmte Entwicklungsstörungen dahinter). Mit den normalen Zornanfällen des Kleinkinds können Familien umgehen, das gewohnheitsmäßige Zornverhalten aber macht Familien kaputt.
Wie wird nun aus dem „sporadischen Zornen“ eine eingefahrene Zorn-Routine?
Ein Grund ist, dass wir oft so überfordert sind, dass wir lieber Ja sagen als Nein, auch wenn wir das Nein für richtig halten – einfach, weil und für das Nein die Kraft fehlt. Manchmal haben wir auch latent ein schlechtes Gewissen den Kindern gegenüber: da verlangen wir diesem Kind so viel ab, da kann ich mich doch auch mal nach seinem Kopf richten… Oder uns hängen noch die Ohnmachtserfahrungen der Säuglingszeit nach, wo wir unser Bestes gegeben haben, und unser Kind oft trotzdem nicht zur Ruhe kam. Bei vielen verfestigt sich da die Maxime: Hauptsache mein Kind ist glücklich!
Und das wird im Kleinkindalter dann zu einem Problem: dieses süße Kind kommt jetzt auf einmal in Rage, wenn wir nicht auf seinen Willen eingehen. Und der Tag verläuft nur dann glücklich, wenn wir Frustration vermeiden. Und so geben wir nach. Und das wird zu einem Muster: Ich diene meinem Kind, also bin ich. Wir werden zu Frustrationsvermeidungsmaschinen.
Denn schauen wir einmal genauer an, was Du schilderst. Du hast einen Teil deines Morgens damit verbracht, Dein Kind zufrieden zu stellen. Du hast das aber nicht gemacht, weil Du Dich daran gefreut hast oder Deinem Schatz etwas Gutes tun wolltest – Du warst unterwegs um Frustration zu vermeiden. Und Du warst dabei nur eines: genervt. Und jetzt bedenke einmal eure letzten Wochen und Monate, dann wirst Du vielleicht sehen: Da ist in Eurem Miteinander diese Frustrationsvermeidungsmaschinerie langsam aber sicher angelaufen. Und Eure Beziehung? Ist dabei unglücklicher geworden, gereizter, gestresster. Du machst so vieles für Dein Kind – aber es nährt Dich nicht. Und Dein Kind auch nicht.
Ich höre an dieser Stelle oft: Aber mein Kind will doch selbstwirksam sein! Es will eigene Erfahrungen machen, es will gesehen werden, gehört werden, ich muss ihm doch deshalb auch zugestehen, dass es selbst entscheidet, selbstbestimmt handelt und seinen Willen auch durchsetzt! Ich will mein Kind doch in seinem Autonomiebedürfnis respektieren!
Und genau das ist das allertiefste Missverständnis über das, was unsere Beziehung zum Kind trägt. Ein Kind wird nicht „selbstbestimmt“, indem es den Familienalltag bestimmt. Es erlangt keine Autonomie, indem es lernt, seine Wünsche möglichst effektiv durchzusetzen. Der Weg zur echten Autonomie führt über den Aufbau von Selbstregulation. Und die erlernt ein Kind in dem Dreieck zwischen Ich, Du und Wir. Dort, wo wir ein gutes Leben verhandeln. Ein Miteinander-Leben, wohlgemerkt. Hier lernt das Kind, wie Bedürfnisse austariert werden, damit ein stimmiges Miteinander entsteht. Hier lernt es, dass dabei manchmal ein Ja und manchmal ein Nein entsteht. Hier lernt es, dass es manchmal mit seinen Wünschen zurückstecken muss – damit seine Bedürfnisse aufblühen können.
Denn Du merkst ja selber: Frustrationsvermeidung als Strategie hat einen hohen Preis – sie hölt unsere Beziehung aus. Ihr lebt ja keine echte Beziehung mehr, Du schwänzelst vielmehr ängstlich um Dein Kind herum und verleugnest deine Grenzen. Und das Kind? Richtet sich in einer Rolle ein, die es nicht wärmt, sondern komplett überfordert: Die Welt ist für mich nur in Ordnung, wo es nach meinen Wünschen geht. DAS aber bedeutet für das Kind einen riesen Stress, macht es traurig und auch: unglaublich wütend auf diejenigen, die ihm diese Rolle auferlegen.
Heisst das, dass wir als Eltern nicht einmal nachgeben dürfen, um einem Zornanfall auszuweichen? Das dürfen wir. Aber als Strategie des Miteinanders? Sollten wir das Gesagte bedenken.
Und heißt das, dass wir unseren Kindern nicht manchmal „dienen“ dürfen? Nein. Wir sollten das sogar, ja, wir müssen es. Es kommt aber darauf an, womit und worin wir unseren Kindern „dienen“. Wir sind ihre Tanzpartner bei der emotionalen Regulation (Co-Regulation). Wir geben ihnen eine Heimat, kleiden ihr Nest warm und wohnlich aus: natürlich! Und da dürfen wir sie nach Herzenslust verwöhnen – so wie wir das mit unserem Partner in jeder echten Beziehung auch tun.
In welche Richtung kannst Du jetzt denken um zu einer Balance in der Familie zu kommen?
Ich kann es in der Kürze nur so zusammenfassen: Folge der Spur der Freude. Wo Du aus dem Herzen heraus etwas für Dein Kind oder auch für Dich selber machst, ist es gut. Es wird auch Freude in Deinem Kind wecken. Wo Du keine Freude empfindest, sondern Dich unwohl fühlst: steh dazu und wahre Deine Grenzen, mit Herz und Klarheit.
Und folge der Spur der Echtheit. Zeige Dich, wie Du bist und habe keine Angst. Sondern wisse um Deine Rolle: ich halte hier die Tiger fern, Du, mein Kind, kannst Dir sicher sein, dass die Welt auch ohne Deinen Lieblingsjoghurt wunderbar ist.
Christin Müller
Lieber Herr Dr. Renz-Polster, haben Sie vielen Dank für diesen Beitrag! Das Stichwort „antrainierte Zornroutine“ beschreibt gut die Situationen mit unser fünfjährigen Tochter. Ich bin jetzt ermutigt, konsequenter zu sein und öfter „Nein“ zu sagen, einfach um dem Kind den Weg zu zeigen, der zu gehen ist. Ich würde selbstkritisch sagen, dass wir da zu nachlässig waren. Ihr Beitrag macht mir Hoffnung, dass sich auch bei uns wieder ein normales, weniger lautes und aggressives Miteinander einspielen kann. Danke!
Monika K.
Und ja, das ist “keine Gefühlsstärke, sondern ein Gefühlsdurcheinander”!
Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn man den Kindern die Bedürfnisse erfüllt, machen sie einem alles, was man sinnvollerweise von ihnen erbittet. Damit sind nicht Wünsche gemeint, und die schon gar nicht sofort erfüllen. Bedürfnisse wie Körperpflege, Kleidung, Nahrung, frische Luft und Liebe, sprich gemeinsame Zeit.
Je mehr Wünsche die Kinder erfüllt bekommen, desto mehr wollen sie, sagte mir mal ein guter Pädagoge.
Und 37 % der Kinder bekommen nicht mehr vorgelesen. Märchen haben viele Lebensweisheiten, Geschichten bilden. Albert Einstein sagte: “Willst Du kluge Kinder, lies ihnen Märchen vor. Willst Du noch klügere Kinder, lies ihnen noch mehr Märchen vor.” und das am besten, nachdem sie sich ausgetobt haben mit Rennen, Klettern, Schaukeln, Rutschen. Fähigkeiten machen Selbstbewusstsein. Tauziehen – macht Spaß und bringt in Schwung, das Kind kann seine Kräfte spüren und stärken.
Kiki D.
Danke für diese Antwort!
Für mich liest sich die Fragestellung wie das typische Resultat von falsch verstanden er bedürfnisorientierter Erziehung, bei der Eltern (insbesondere oft Mütter) ihre eigenen Bedürfnisse komplett hinten anstellen oder gar verleugnen, nur damit es dem (oftmals Einzel-) Kind alles Recht ist.
Als Mutter von 3 Kindern muss ich da oft in mich hineingrinsen. Hat man mehr als 1 Kind, wird einem schneller klar, dass man nicht immer alle vermeintlichen “Bedürfnisse” (denn: eigentlich geht es hier in der Regel um Wünsche) erfüllen kann, und dass man selbst auch mal auf eigene Bedürfnisse achten und hören muss.
Jale
Mit Einzelkind-Elternbashing wäre ich vorsichtig. Es ist schön, wenn es bei Dir mit 3 Kindern geklappt hat, aber das ist ein Geschenk, das nicht allen möglich oder vergönnt ist.
Umgekehrt erlebe ich genügend 3-Kind-Familien (zB mit dem typischen Altersabstand von jeweils 2 Jahren) in dem beispielsweise das mittlere Kind schon total geübt darin ist, zurückzustecken im Sinne von “meine Bedüftnisse sind weniger wichtig als die des jüngeren/älteren” – das ist sicherlich auch nicht gesund? Oder in denen die Kinder hinter ihren Potentialen zurückbleiben, weil zu wenig Energie, Zeit, Zuwendung für jedes einzelne da ist? Dass Eltern ihre Bedürfnisse verleugnen, davor schützen auch mehrere Kinder nicht. Im Gegenteil, es kann sich zB nach den Wünschen eines Kindes richten, das Elternteil negiert seine eigene Grenze und die anderen Kinder müssen es umso mehr ausbaden.
Das lässt sich einfach nicht pauschalisieren!
Katharina
Ich möchte ergänzen – denn das war für mich eine entscheidende Erkenntnis: wenn du deinem Kind nicht vorlebst, dass du selbst auch Grenzen hast, und dass du Nein sagen darfst, woher soll es das dann lernen? Seit ich mir klar gemacht habe, dass ich möchte, dass meine Kinder sich von anderen abgrenzen können und nicht alles machen, was andere von ihnen verlangen, fällt es mir leichter, ihnen gegenüber meine eigenen Bedürfnisse zu formulieren und dafür einzustehen (und die dadurch entstehenden Gefühlsausbrüche auszuhalten und zu begleiten).
Jale
Ja absolut! Das kann ich nur unterstreichen!
Monika K.
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Jale
Ich finde die Antwort total super!
Aber es ist auch nicht selbstverständlich, dass man als Eltern genau dieses Umswitchen zeitgerecht hinbekommt – vom bedürfnisorientierten Versorgen eines Babys mit fehlendem Verhandlungsspielraum zu einem Kleinkind mit eben solchem. Gerade wenn man die erste Generation ist, die sich das bedürfnisorientierte erkämpft hat. Da hat man es in der zweiten Generation schon deutlich leichter zu sagen
“wir Eltern halten den Tag am laufen und wir kriegen das auch heute zusammen hin, auch wenn es gerade nicht Deinen Lieblingsjoghurt gibt”.