Bindungstheorie – gestern und heute

Die Ansätze der klassischen Bindungstheorie und ihrer Vorläufer (verbunden mit Namen wie John Bowlby, Mary Ainsworth oder auch Anna Freud) sind zwar teils überholt, waren damals aber enorm wichtig, um eine neue "Beziehungskultur" zwischen Eltern und Kindern einzuleiten.
Gleichzeitig haben wir heute zurecht einen kritischen Blick auf einige der damaligen Annahmen.
Hier ein paar Spotlights zum heutigen Stand der Bindungsforschung (ich befasse mich damit ausführlich in meinem Buch “Kinder verstehen“, dort sind auch die wissenschaftlichen Literaturhinweise enthalten).
Eins der Hauptprobleme ist die Kategorisierung in „sichere“ und „unsichere“ Bindungstypen. Zum einen ist die hierzu verwendete Untersuchungsmethodik (die “Fremde Situation”) aus mehreren Gründen mit Vorsicht zu interpretieren (sie ist deshalb aber nicht gleich “falsch”). Zum anderen sind Bindungstypen offenbar viel flexibler als früher gedacht („Bindungsstile“):
- ein an seine Mutter sicher gebundenes Kind kann an seinen mitversorgenden Vater unsicher gebunden sein und umgekehrt. Und das kann im Verlauf auch wechseln.
- auch scheint es viel stärker auf die momentane Lebenssituation und die Passung der Temperamente anzukommen als früher gedacht: Ein und dieselbe Mutter/Vater kann zu einem Kind eine sichere Bindung, zu dessen Geschwisterkind aber eine unsichere Bindung haben.
- Und: heißt „sichere Bindung“ eigentlich, dass eine „unsichere Bindung“ gleich nachteilig oder gar krankhaft ist? Aus evolutionärer Sicht ist das nicht anzunehmen. Beides sind lebensstrategische Anpassungen .
Auch hat die moderne Bindungsforschung sich schon längst vom „Muttermythos“ (die biologische Mutter als einzige oder bedeutsamste Bindungsperson) verabschiedet. Geholfen hat hier auch der Blick in andere Kulturen:
„Bei den Efe in Zentralafrika etwa werden die Säuglinge von vielen Müttern gestillt, pro Stunde wechseln die Babys vier- bis achtmal zwischen Betreuungspersonen. Rechnet man die Betreuungszeiten zusammen, so kümmern sich andere Frauen oft länger um ein Kind als dessen eigene Mutter.”
Auch der „Erwachsenenmythos“ wurde inzwischen verworfen: im Bindungssystem in den indigenen und auch in den traditionellen bäuerlichen Kulturen etwa spielen andere Kinder eine tragende und entwicklungsfördernde Rolle (wir sind darauf zuletzt in unserem Themenabend zur „kooperativen Autonomie“ eingegangen).
Man kann es so zusammenfassen: Bindung beruht auf dem Einladungprinzip: “Bin klein und unreif, suche Menschen, die meine Entwicklung absichern!” Das Kind wendet sich damit nicht nur an seine Eltern, sondern an einen ganzen Kreis von potenziell für sein Wachstum bedeutsamen Menschen.
Die Suche ist dabei keinesfalls auf einen bestimmten Verwandtschaftsgrad oder ein bestimmtes Geschlecht festgelegt, genauso wenig auf ein bestimmtes Alter. Es sind also auch Nicht-Verwandte, Männer, ältere Kinder oder alte Menschen als Bindungspersonen herzlich willkommen.
Auch die Babys/Kinder selbst sind weitaus flexibler als früher angenommen. Zum einen wird das Bindungssystem des Kindes (sein „attachment“ System) erst im Lauf der ersten Lebensmonate personalisiert – also auf bestimmte, vertraute Pflegepersonen zugeschnitten (vorher lassen sich die Säuglinge ohne Probleme auch von bisher nicht mit ihnen vertrauten Pflegepersonen versorgen – sofern diese baby-kompetent sind ;-)).
Aber auch das ist spannend:
Auch wenn das Bindungssystem des Säuglings offen für mehrere Versorgende ist, ist es dennoch nicht wahllos – das Baby vergibt durchaus Privilegien und „wählt“ sich eine primäre Bindungsperson, an die es sich bevorzugt wendet wenn es in Not ist (müde, krank oder sonstwie gestresst). Aber auch diese Position ist flexibel und kann sich ändern.
Ein anderer spannender Teil der Forschung: Bis heute gelingt es nur schwer, die Art der Bindung an bestimmten persönlichen Merkmalen der Betreuungsperson(en) festzumachen. In über der Hälfte der Studien zu diesem Thema zeigt sich nicht einmal ein leichter Zusammenhang etwa zwischen der »Fürsorglichkeit« oder der »Wärme« der Hauptbetreuungsperson und ihrer Bindung zum Kind. Auch andere persönliche Attribute, wie positive Haltung, Verlässlichkeit oder angemessene Stimulierung, können nicht ausreichend erklären, warum das eine Kind sicher und das andere unsicher gebunden ist.
Immerhin scheint die elterliche Feinfühligkeit (Sensitivität) und vor allem ihre »mind-mindedness« relativ zuverlässig mit der Bindungsqualität zusammenzuhängen. (Unter mind-mindedness wird dabei die Fähigkeit verstanden, hinter dem Verhalten des Säuglings dessen seelisch-emotionalen Zustand zu erkennen und dadurch eben nicht nur auf seine oberflächlichen Signale, sondern darüber hinaus auf seine tieferen Bedürfnisse eingehen zu können.) Ein alles entscheidender Einfluss, wie nach dem früheren Mutter-Mythos zu erwarten, geht aber auch von dieser Eigenschaft nicht aus.
Entsprechend schwer fällt es, aus der Sicht der Bindungsforschung einen bestimmten Lebensstil zu umreißen, durch den Bindung besser gelingt als durch einen anderen. Tatsächlich lässt sich bis heute nicht nachweisen, dass Kinder erwerbstätiger Mütter oder Väter in irgendeiner Weise grundsätzlich gegenüber Kindern benachteiligt sind, deren Mütter/Väter zur Erziehung ihrer Kinder zuhause bleiben. Solange eine qualitativ gute außerfamiliäre Betreuung gegeben ist und solange durch die Erwerbsarbeit der Eltern kein »Beziehungsvakuum « entsteht, ist ein Einfluss des Betreuungsarrangements auf die Bindungsqualität nicht nachzuweisen.
Kurz: Bindung greift über die Familie weit hinaus. Bindung projiziert nicht nur das Bild der Mutter, des Vaters oder der Eltern in die Augen des Kindes, sondern genauso das Bild der sozialen Welt, in der sie gemeinsam leben.
Viel stärker im Fokus ist heute auch, dass Bindung keineswegs eine stabile Eigenschaft ist, sondern sich immer wieder „erneuert“ und modifiziert. So hat die Art der Bindung am Lebensanfang zwar insgesamt schon einen Einfluss auf die Beziehungen im späteren Leben – aber er ist individuell sehr unterschiedlich.
In überraschend vielen Fällen ließ sich etwa ein Zusammenhang zwischen der beim Säugling gemessenen Bindungskategorie und den Erwachsenenbeziehungen gar nicht zeigen. Ehemals unsicher gebundene Säuglinge, so stellte sich heraus, können später durchaus sichere Erwachsenenbindungen eingehen und umgekehrt. Eine Übertragung einer sicheren Bindung als Säugling auf das Erwachsenenalter zeigte sich am ehesten dann, wenn auch die Verhältnisse rund um das Kind stabil blieben, wenn sich also am »sozialen Rahmen« wenig änderte.
Also: Bindung ist lebenswichtig, und die Auswirkungen frühkindlicher Vernachlässigung können verheerend sein. Aber: Sieht man von den extremen Fällen ab, so scheinen die frühen Bindungserfahrungen kein Schicksal zu sein. Die ersten Bindungserfahrungen mögen das Kind auf einen Weg bringen, »doch es ist ein Weg mit außerordentlich vielen Abzweigungen und Kreuzungen«, wie der Entwicklungspsychologe Jerome Kagan vermerkt.
Das alte Bild, nach dem Bindung eine Impfung fürs Leben darstellt oder gar eine Art Kapital, von dem wir unser Leben lang zehren, ist also überholt. Bindungserfahrungen wirken weiter, aber ihr Nachhall ist gedämpft und er bricht sich an jeder neuen Lebensstufe, in jeder neuen Lebenswelt, in die wir eintreten. Bemühen wir noch einmal Jerome Kagan: »Es stimmt, dass das, was in den ersten drei Jahren passiert, sehr wichtig ist. Aber genauso wichtig ist, was in den nächsten drei Jahren passiert. Und so weiter.«
Ich finde das ist ein riesen Grund um Bindung positiv zu sehen: Kinder können sich gut entwickeln – auch wenn es um sie herum nicht optimal läuft. Und das ist gut so, denn die Welt ist nicht optimal. Ein Mensch, der als Säugling auf der Intensivstation lag, muss deshalb später nicht beziehungsunfähig sein.
Ein Mensch, der in der frühen Kindheit Verluste zu erleiden hatte, kann trotzdem einmal ein reiches Leben führen.
Das war mein Kommentar zur aktuellen Bindungsdiskussion auf Insta.;-) Wie gesagt, eine umfassende und mit wissenschaftlichen Literaturhinweisen versehene Fassung findet sich in meinem Buch Kinder verstehen (Kapitel 10: Das neue Bild von Bindung).

Noch keine Kommentare
