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Bindung und Bonding: Wann passiert dieses Wunder?

Wann gibt es das schon einmal: Dass Wissenschaftler eine Theorie aufstellen, sich dann die Kritik anhören - und daraufhin ihre Theorie widerrufen. Willkommen in der Bonding-Debatte.

Auf den ersten Blick scheint Bindung ganz einfach zu funktionieren: „Versuche zu deinem Versorger eine möglichst feste Bindung herzustellen“, scheint die Natur allen Neugeborenen einzuflüstern, „denn sonst verhungerst du oder wirst von einem hungrigen Raubtier aufgefressen.“ Jedes Neugeborene schaut sich also zunächst einmal in der großen, kalten Welt um: Wo ist denn hier mein schützender, Wärme und Nahrung spendender Versorger? Graugänse folgen dabei einem ganz einfachen Programm. Sie schließen sich nach dem Verlassen der Eierschale dem ersten Objekt an, das sich bewegt und regelmäßig Laute von sich gibt. In der freien Wildbahn ist das natürlich die Mutter. Aber das kann auch ein Konrad Lorenz sein, oder, wenn es dumm läuft, auch ein Rasenmäher. Ein solches, nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip ablaufendes, auf immer den gleichen Reiz eingestelltes Bindungsprogramm wird als Prägung bezeichnet.

Auch bei der Bindung von Menschenbabys spielen Instinkte eine Rolle, das Programm ist aber weitaus weniger festgelegt als bei den Gänsen. So sind Menschenkinder zumindest in den ersten Lebensmonaten noch recht flexibel, was die Wahl der Bindungsperson angeht. Sie binden sich an diejenige Versorgungsperson, die am meisten verfügbar ist. Zunächst »merken« sie sich diesen Menschen vor allem über den Geruch, bald schon auch über den Gesichtssinn. Sind mehrere versorgende Personen verfügbar (das ist das für Homo sapiens vorgesehene Standardmodell), so wissen sie das zu nutzen: Sie binden sich an die am verlässlichsten auftretende Person am stärksten – sie wird ihre Hauptbindungsperson. Aber sie lassen sich auch von anderen vertrauten Personen stillen, beruhigen und versorgen. Und selbst wenn die hauptsächliche Bindungsperson wechselt, so folgt die Bindung zumindest im den ersten Lebensmonaten nach, d.h. das Baby stellt sich ohne größere Probleme auf die neue Schutz- und Versorgungsinstanz(en) ein. (Ganz anders also wie ab dem zweiten Halbjahr der Säuglingszeit, jetzt bedeutet der Verlust der primären Bindungsperson eine schlimme Krise für das Kind.)

Dieses Attachment, wie die Bindung des Kindes zu seinem Versorger genannt wird, ist sozusagen die erste Lebensversicherung des neuen Erdenbürgers. Kein Wunder, dass sie ohne Wenn und Aber abläuft. Das Kind stellt keine Bedingungen – ja, es identifiziert sich sogar mit recht zweifelhaften elterlichen Gestalten. Sie können ja nicht einfach sagen, wie Eva Solmaz in ihrem Buch „Die Besucherritze“ bemerkt: „ich scheiss auf die Deppen und zieh fortan allein durchs Leben.“

Wozu Attachment?

In einer gefährlichen Welt ist Schutz gewiss kein Luxus – da sind leckere kleine Geschöpfe, seien sie Mensch oder Tier, an einer Art psychischen Leine gut aufgehoben. Dass gerade Menschenkinder an dieser Leine aber nicht nur Schutz suchen, zeigen die historischen Erfahrungen in Kinderheimen – selbst dort, wo die Babys mit Nahrung, Licht und Hygiene gut versorgt waren, konnten sie nicht gedeihen. Zu was ist Bindung also noch gut?

Einen Hinweis geben die in Nestern oder Bauen aufwachsenden Säugetiere. Ohne dass sich die Mutter ganz handgreiflich um die körperlichen Funktionen des Nachwuchses kümmert, läuft bei diesen kleinen Säugern im wahrsten Sinne des Wortes gar nichts. Kleine Mäuschen etwa können nur dann ihre Blase und ihren Darm entleeren, wenn die Mutter sie leckt. Werden sie nicht regelmäßig abgeschleckt, verenden sie. Auch das Wachstum hängt bei praktisch allen Säugetieren von Berührungen durch die Mutter ab. Berührungen scheinen aber auch die emotionale Entwicklung und die Organisation des Gehirns zu beeinflussen. So dämpft Streicheln bei allen untersuchten Säugetierarten die Stressreaktionen. Aus Rhesusäffchen, die von ihrer Mutter wenig geschleckt werden, werden nervöse, ängstliche Gesellen.

Dieses „Entwicklung-durch-Zuwendung“-Programm gilt auch für menschliche Kinder: früher Hautkontakt hilft den Babys bei der Anpassung ihres Stoffwechsels nach der Geburt. Eine Unterzuckerung etwa kommt am Körper der Mutter weitaus seltener vor. Atmung, Kreislauf und Körpertemperatur sind bei Körperkontakt stabiler, und auch das Stillen klappt Haut an Haut besser. Von Frühgeborenen ist bekannt, dass sie bei „Känguruh-Pflege“ schneller wachsen und ein stärkeres Immunsystem entwickeln.

Die Nähe scheint aber nicht nur dem Körper gutzutun, sondern auch der Seele. Wenn Babys verlässlich getröstet werden, hilft ihnen das beim Aufbau ihrer emotionalen Regulation: sie schreien später eben nicht mehr, sondern weniger als solche, die “warten” mussten. Säuglinge, die regelmäßig am Körper getragen werden, sind ausgeglichener. Sie weinen insgesamt weniger und fühlen sich, wie Tests von Entwicklungspsychologen zeigen, in ihrer Beziehung zu den Eltern sicherer. Und Mütter, die ihre Neugeborenen häufig bei sich haben, leiden seltener an den gefürchteten Wochenbett-Depressionen. Die Bindungserfahrungen am Lebensanfang haben einen Nachhall bis ins Erwachsenenleben: wenn Babys verlässliche und feinfühlige Zuwendung bekommen, können sie in ihrem späteren Leben Belastungen besser wegstecken. Bindung ist also nicht nur eine Lebensversicherung, sondern bildet auch die Leitplanken für die körperliche und emotionale Entwicklung.

Bindung ist aber noch mehr. Denn wenn Säuglinge eine sichere Bindung erfahren, nutzen sie dieses Kapital sofort, um sich der Welt zuzuwenden und ihren Explorations- und Wirksamkeitstrieb auszuleben. Sie begegnen neuen Situationen, sie suchen aktiv nach Erfahrungen mit sich und der sozialen Welt. Sie nutzen ihre „Neulust“ zur Erforschung des Lebens, kurz: Bindung ist auch eine Plattform für das Lernen.

 

Bindung – von den Eltern aus betrachtet

Wie aber stellt sich die Sache von der anderen Seite der Eierschale aus betrachtet dar? Wie bindet sich die Mutter an ihr Kleines? Dieses Bonding, wie der Fachbegriff auch im deutschen Sprachraum heisst, ist eine evolutionsbiologische Konstante aller höheren Arten. Denn anders als Fische oder Amphibien, die einfach mal Tausende oder Millionen von Nachkommen in die Welt setzen und sich dann in der Hoffnung davonmachen, dass ein paar wenige davon schon überleben werden, müssen Vögel und Säugetiere auch nach der „Geburt“ in ihren Nachwuchs investieren. Durch verlässliche Versorgung müssen sie sicherstellen, dass ihre teure Brut auch erfolgreich im Leben besteht. Wie aber motiviert die Natur Eltern dazu, sich für ihren Nachwuchs so ins Zeug zu legen?

Genau, durch Bindung! Sie ist die geheime Macht, die auch die Menscheneltern dazu bringt, alles stehen und liegen zu lassen, um für ihre Kleinen zu sorgen.

Das Bonding der Eltern wird oft als Spiegelbild des kindlichen Attachments gesehen, also als ein recht wahlloser, biologisch fest verankerter Prozess, ja, als Automatismus. Warum auch sollte eine Mutter ihr Ungeborenes mit großem Aufwand austragen, wenn sie sich nach der Geburt nicht bereitwillig und bedingungslos an das kleine Geschöpf bindet? Sollte die Natur nicht auch den Eltern dasselbe robuste, intuitive und bedingungslose Bindungsprogramm auf die Festplatte gespielt haben wie ihren Kleinen?

Und genau hier geht der Streit los: wie genau wird die Mutter denn an ihr Kind gebunden? Welche Rolle spielen dabei biologische Prozesse? Und: Gelten dafür bestimmte Bedingungen? Etwa: ein besonderes „Zeitfenster“?

Schaut man in die Tierwelt, so sind auch für das Bonding mehrere Modelle im Angebot. Mutterschafe etwa binden sich ziemlich zuverlässig an ihre kleinen Lämmchen – allerdings nur in der ersten Stunde nach der Geburt. Ein Lämmchen, das ihnen nach dieser Spanne an die Zitzen geht, stoßen sie weg. Für Herdentiere ist das durchaus sinnvoll: Die Muttertiere sind alle zur gleichen Zeit trächtig, und wenn die Kleinen geboren werden, können sie sofort laufen. Das nur kurz offen stehende Bindungsfenster verhindert ein heilloses Durcheinander, in dem sich reihenweise frisch geborene Schäfchen am Euter fremder Mütter wiederfinden würden.

Mäuse und andere Arten, die ihre Kinder in jeweils eigenen Bauen, Erdhöhlen oder Nestern zur Welt bringen, kennen das notorische Verwechslungsproblem von Herdentieren natürlich nicht. Ihr Bindungssystem ist deshalb nicht „personalisiert“. Legt man einer Mäusemama fremde Mäuschen ins Nest, so werden sie wie die eigenen versorgt.

Und welchem Modell folgt der Mensch?

Frühe Bindungstheoretiker wie etwa die Kinderärzte Marshall Klaus und John Kennell schlugen sich eindeutig auf das Modell der Paarhufer – sie schlossen aus ihren (allerdings unsystematischen) Beobachtungen, dass es auch beim Menschen für den Bindungsaufbau von Mutter zu Kind ein kritisches Zeitfenster von wenigen Stunden nach der Geburt gäbe. Ihre Überzeugung formulierten sie 1976 in der ersten Auflage ihres einflussreichen Buches „Maternal-Infant Bonding“:

„There is a sensitive period in the first minutes and hours of life during which it is necessary that the mother and father have close contact with their neonate for later development to be optimal.“ (in: Klaus/Kennell: Maternal-Infant Bonding, 1976) .“

(Auf Deutsch: „Es gibt ein sensible Phase in den ersten Minuten und Stunden des Lebens, in der Mutter und Vater engen Kontakt mit ihrem Neugborenen haben müssen, damit deren spätere Entwicklung optimal verläuft.“)

Damit lösten die beiden Kinderärzte eine heisse Debatte aus, die damals übrigens auch in den populären Medien aufgegriffen wurde – von den New York Times bis zum Spiegel.

Die Einwände gegen die Theorie eines kritischen Zeitfensters kamen von mehreren Seiten:

  • … die kulturvergleichende Forschung wies darauf hin, dass viele traditionelle Kulturen recht locker mit den angeblich »magischen« ersten Stunden nach der Geburt umzugehen. Bei den jagend und sammeln lebenden Efe in Zentralafrika etwa wird das Neugeborene zunächst einmal für ein paar Stunden der Mutter vorenthalten und von weiblichen Verwandten der Eltern verwahrt – man glaubt, der Säugling würde sonst Schaden nehmen. In immerhin 92 Prozent der beschriebenen Kulturen der Erde ist es nicht die Mutter, die ihr Kind als Erstes berührt oder in die Arme nimmt! (In manchen traditionellen Kulturen wird das Neugeborene sogar zuerst von einer anderen Frau des Stammes gestillt.)
  • … Sozialpsychologen führten ins Feld, dass sich offensichtlich auch Mütter erfolgreich an Babys „binden“ können, wenn ihnen ganz elementare biologische Erfahrungen wie Schwangerschaft und Geburt gänzlich fehlen – etwa wenn Kinder adoptiert werden. Tatsächlich ist eine sichere Bindung in Adoptivfamilien nicht weniger häufig anzutreffen als in „biologisch zusammengefügten“ Familien.
  • … auch die empirische Bindungsforschung brachte Einwände vor: zwar kam es zwischen Müttern und ihren Babys insgesamt zu mehr „zärtlichem Austausch“, wenn Mutter und Baby die erste Stunde nicht getrennt wurden. Dies liess sich aber nur dann beobachten, wenn es sich um eine geplante Schwangerschaft handelte. Auch waren die Unterschiede schon nach einer Woche nicht mehr nachweisbar.
  • … vor allem aber erhoben Evolutionsbiologen ernsthafte Einwände. Die Natur, so ihr Argument, müsse eigentlich gerade bei der Geburt eines Menschenbabys (die im Vergleich schwieriger und komplikationsträchtiger ist als bei anderen Arten) immer auch ungünstige Ereignisse mit einkalkulieren – etwa eine durch protrahierte Verläufe oder Blutverluste erschöpfte Mutter oder aber eine nicht ganz optimale Geburtssituation (Stichwort: der Bär ist los). Es könne nicht sein, dass die erhebliche Investition der Schwangerschaft, für die die Mutter immerhin 13 Millionen Kalorien aufs Spiel setzt, nur dann optimal aufgehen könne, wenn in der ersten Stunde des Lebens alles glatt läuft. Die Natur müsse vielmeher gerade beim „teuersten“ Lebewesen überhaupt, dem Menschen, auch einkalkulieren, dass der Start holpert. Denn natürlich sei es sinnvoll, dass sich die Entwicklung an den vorgefundenen Lebensbedingungen ausrichte, allerdings sei gerade die erste Lebensstunde oft ein „Ausreisser“ und spiegele womöglich eben nicht die zu erwartende Normalität wieder. Aus evolutionärer Sicht sei deshalb ein automatischer, lebenslanger Nachhall der Erfahrungen in den ersten Lebensstunden nicht zu erwarten.

Was dann nach vielen Diskussionen und Kommentaren in Fachzeitschriften folgte, war ein in der Wissenschaft eher seltenes Ereignis: das Forscherpaar Klaus/Kennell liess sich von den vorgebrachten Argumenten überzeugen! In der 1983 erschienenen zweiten Auflage ihres Buches schrieben sie deshalb folgendes:

„We don ́t agree with this statement now. The human is highly adaptable, and there are many fail-safe routes to attachment. Sadly, some parents who missed the bonding experience have felt that all was lost for their future relationship. This was (and is) completely incorrect. (in: Parent-Infant Bonding, 2. Auflage, 1983)

(Auf Deutsch: „Wir stimmen dieser Aussage heute nicht mehr zu. Der Mensch ist hoch anpassungsfähig, und es gibt viele sichere Wege zur Bindung. Leider haben manche Eltern, die die Bindungserfahrung [nach der Geburt] verpasst haben, geglaubt, dass jetzt für ihre zukünftige Beziehung [mit ihrem Kind] alles verloren sei. Das war (und ist) völlig falsch.“)

Die ersten Stunden… – also wertlos??

Genau das wurde in dieser Diskussion nie behauptet – auch von den Kritikern nicht. Es scheint nur alles etwas komplexer, etwas tiefgründiger und auch ja, in gewissem Sinn auch „menschlicher“ zu sein. Denn alles spricht dafür, dass das Bonding beim Menschen kein biologischer Urknall ist sondern vielmehr ein sozialer Entwicklungsprozess. Hormone sind dabei wichtig, aber sie sind lediglich „Mittler“ und keine automatischen „Binder“. Bindung schiesst also nicht ein wie Muttermilch, sie entsteht vielmehr durch den gelungenen gemeinsamen Weg – die alltäglichen positiven emotionalen Erfahrungen bei den Begegnungen zwischen Eltern und Baby. Gut, wenn bei diesen Begegnungen von Anfang an Rückenwind herrscht, aber das scheint nicht als Voraussetzung für den langfristig gelungenen Bindungsaufbau einkalkuliert zu sein.Entscheidend für den Bindungsaufbau sind vielmehr die sozialen und biographischen Randbedingungen:

  • Wie viel Unterstützung die Mutter selbst erfährt: „Helfer an der Krippe“ schaffen für das Bonding Rückenwind (und bei den Unterstützern stechen wiederum insbesondere die Väter und die Großmütter hervor). Sozialer Stress, psychische Erkrankungen, Sorgen und soziale Ausgrenzung bedeuten dagegen Gegenwind.
  • Auch die eigene Beziehungsbiographie spielt im Bindungsaufbau eine Rolle: wer in seinem Leben selbst gelungene Beziehungen erfahren hat und wer die eigene Schwangerschaft positiv erleben konnte, kann den emotionalen Weg zum Kind mit Hilfe dieses positiven „Arbeitsmodells“ leichter finden
  • Rückenwind für den Bindungsprozess kommt auch von ganz praktischen Pflegeerfahrungen: wer auf seinem Lebensweg Erfahrungen im Umgang mit kleinen Menschen sammeln konnte (etwa mit jüngeren Geschwistern, Nichten, Neffen etc), dem fällt der Start auch mit dem eigenen Kind insgesamt leichter.

Kein Effekt der ersten Stunde?

Auch das lässt sich aus dem Gesagten NICHT ableiten: dass die ersten Stunden egal seien. Denn wenn Bindung ein Entwicklungsprozess ist, dann kommt es da aufs gemeinsame Lernen an – und dafür braucht es Rückenwind. Von der ersten Stunde an. Denn jetzt bildet sich die „Kompetenzkette“, in der die Mutter lernt, ihr Baby immer besser zu beruhigen, zu trösten und zu nähren. Jede gelungene Interaktion unterstützt nicht nur die emotionale Regulation des Neugeborenen, sie schafft auch Selbstvertrauen – was wiederum das Stillen erleichert und damit für weitere positive Erfahrungen und Ermutigung sorgt…

Und für das Ingangkommen dieser „Engelskreise“ scheinen die ersten Lebensstunden tatsächlich so etwas wie ein privilegiertes Lernfenster zu sein. Denn nach der Geburt haben zumindest vaginal geborene Kinder eine ein- bis zweistündige Phase der »konzentrierten Wachheit«. Ihre Muskeln sind auf Aktivität eingestellt, ihre Pupillen sind weit, und wenn man sie lässt, beginnen sie sich am Körper der Mutter entlangzuschieben, um die Brust zu finden. Auch die Mutter ist von der Geburt »aufgekratzt« – beste Voraussetzungen also für ein erstes Kennenlernen.

Das wird durch die Erfahrung körperlicher Nähe in den ersten Lebensstunden eindeutig leichter – für beide Seiten. Kinder, die unmittelbar nach der Geburt am Körper der Mutter liegen dürfen, sind noch drei Stunden später wesentlich ruhiger und schreien weniger. Wenn sie dann einschlafen, schlafen sie länger und ruhiger.

Die frühe Kontaktaufnahme zahlt sich aber auch für die Mutter aus. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass zumindest Erstlingsmütter ihre Babys in den folgenden Tagen öfter in den Arm nehmen und mehr mit ihnen reden als Mütter, die ihr Kind erst mehrere Stunden nach der Geburt »in Empfang nehmen«. Diese zusätzliche Nähe wirkt stressmildernd und kann bei »Risikomüttern«, also Müttern, die in schwierigen sozialen Verhältnissen leben und mit dem Gedanken spielen, ihr Baby aufzugeben, auch langfristig positive Auswirkungen auf die Bindungsqualität haben.

Auch das Stillen wird erleichtert, wenn die Kleinen schon in den ersten Stunden nach der Geburt angelegt werden. Klappt dann das Stillen, so wirkt dies wiederum positiv auf den Bindungsaufbau. Aber auch hier zeigt sich, dass die Natur geduldig ist: Selbst wenn die Mutter nicht gleich mit dem Stillen beginnt, bleibt das »Stillhormon« Prolaktin etwa vier Tage lang auf hohem Niveau, um erst dann abzufallen. So lange hat eine Mutter von Natur aus also Zeit, um das für ihr Baby unter »natürlichen« Bedingungen lebenswichtige Projekt Stillen aufzunehmen. Aus der Beobachtung, dass stillende Mütter ihre Kinder praktisch nicht mehr aufgeben, schließt die Verhaltensforscherin Sarah Blaffer Hrdy, dass die ersten Tage nach der Geburt weniger eine kritische Zeit für die Bindung seien, als vielmehr eine kritische Zeit für die generelle Entscheidung für oder gegen das Kind.

Alles spricht also dafür: es gibt beim Menschen zwar keine »Verschweißung« direkt nach der Geburt – der frühe Kontakt führt aber dazu, dass Mütter (und übrigens auch Väter) in den ersten Tagen und Wochen feinfühliger und sicherer mit ihren Babys umgehen, was das Kennenlernen eindeutig erleichtert. Man könnte es also positiv auch so ausdrücken: Das „Bindungsfenster“ scheint gerade beim Menschen so essentiell wichtig zu sein – dass es sich eben NICHT schon nach wenigen Stunden schließt, sondern offen bleibt – unter günstigen Bedingungen sogar lebenslang, wie das Beispiel von Adoptionen zeigt. Und auch das Leben mit Kindern weist ja im Grunde weg von einem „Fenstermodell“ – da wird Bindung ja immer wieder erneuert, Beziehungen ändern sich, geraten unter Druck, und werden dann vielleicht wieder neu belebt und geknüpft. Ja, unsere menschliche Beziehungsgeschichte ist wichtig.

Aber sie wird nicht in wenigen Stunden geschrieben.

In meinem Buch »Kinder verstehen« habe ich ein ganzes Kapitel dem Thema Bindung gewidmet. Hier findet ihr eine exklusive kostenlose Leseprobe des Kapitels zum Download. Wenn's euch gefällt: das Buch könnt ihr bei mir im Shop oder in jeder Buchhandlung (online und offline) kaufen.
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1 Kommentar

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  • Ricarda

    Vielen Dank für diese wunderbare Erklärung und Zusammenfassung. Ich werde sie vielen Eltern empfehlen. Mir fällt nur eine Kleinigkeit auf. Während im ersten Teil des Artikels von der Hautbezugsperson die Rede war, ging es ab der Mäusemama vorrangig um Mutter und Kind. Ich weiß, dass Sue es anders meinen. Ist mir nur aufgefallen. Viele Väter versuche ich als Hebamme schon in der Schwangerschaft einzubinden und sie genießen es sehr, sich kompetent einbringen zu können. Genauso machen sie das natürlich nach der Geburt und es schützt auch Väter vor einer Depression nach der Geburt ☺️.