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Kommentar6. August 2025

ADHS – eine Störung oder was?

Über kaum eine Krankheit wird emotionaler diskutiert als über ADHS – auch als Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, Hyperaktivität oder Zappelphilipp-Syndrom bekannt.

Moment einmal: Krankheit? Schon da scheiden sich nämlich die Geister. Für die einen ist ADHS ja ganz einfach ein Erziehungsfehler: Die Kinder sitzen zu viel vor dem Bildschirm, schlafen zu wenig und bekommen keine Grenzen gesetzt. Für die anderen liegt das Problem im Gehirn verankert – bei den betroffenen Kindern funktioniere das Gehirn anders, und das lasse sich mit medizinischen Geräten auch nachweisen. Wieder andere weisen darauf hin, dass das Problem möglicherweise daran liegt, dass die Welt heute nicht mehr so gut zu den Kindern passt – manche brauchen einfach ihren Auslauf und haben es mit dem neuen Programm ungebührlich schwer. Statt langen Stillsitzens bräuchten sie eher Spiel und Bewegung.

Für alle drei Annahmen lassen sich gute Belege finden (womit es eigentlich möglich sein sollte, weniger emotional über das Thema zu reden, aber das ist eine andere Geschichte …). So lassen sich tatsächlich bei manchen Kindern mit ADHS mit modernen Verfahren Veränderungen des Gehirns oder der dort wirkenden Neurotransmitter nachweisen (allerdings sind die Studien teilweise widersprüchlich, was aber nicht gegen diese These spricht). Hierzu könnte passen, dass sich bei etwa einem Drittel der mit ADHS diagnostizierten Kinder auch andere Auffälligkeiten in der Art des Denkens, der Wahrnehmung und des Verhaltens finden lassen (etwa Störungen der Feinmotorik, Teilleistungsstörungen, Tics oder Probleme im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung).

Dahinter könnten tatsächlich schädigende äußere Einflüsse bei der Hirnentwicklung stehen. Das würde die Beobachtung erklären, dass ADHS bei zu früh geborenen Kindern und bei Kindern von Müttern, die während der Schwangerschaft getrunken oder geraucht haben, häufiger auftritt. Auch der in Studien auffällige Zusammenhang zwischen der Pestizidbelastung der Nahrung und ADHS könnte so erklärt werden. Gleichzeitig könnten diese Veränderungen aber auch biologisch veranlagt sein, also auf eine genetisch bedingte Unterschiedlichkeit hinweisen (inzwischen wird hier manchmal der Begriff der „Neurodivergenz“ verwendet, den ich selber nicht mag, weil er alles und nichts aussagt und auch zum Teil sehr unterschiedliche Veränderungen und auch Störungen mit echtem Krankheitswert unter einen „Schirm“ bringen will – ich persönlich glaube nicht, dass das für die Begleitung dieser – sehr unterschiedlichen – Kinder hilfreich ist, denn: sie brauchen am Ende dann doch sehr unterschiedliche Hilfestellungen).

Andererseits ist bekannt, dass Kinder die Fähigkeit zur Kontrolle ihrer Impulse und Emotionen (die sogenannte »exekutive Kontrolle«, die in Kapitel 2 dieses Buches Thema war) in der frühen Kindheit erlernen, und zwar zunächst im Rahmen ihrer Beziehungen zu ihren Bindungspersonen. Die Tatsache, dass überzufällig viele Kinder mit ADHS schon in der frühen Kindheit mit emotionalen Problemen auffallen (zum Beispiel als »Schreibabys«), könnte darauf hinweisen, dass eine mögliche Wurzel für ADHS auch in der frühen Kindheit zu suchen ist. Wobei sich dann auch hier die Frage stellt, ob sich hier ein Anlageproblem zeigt, oder ob dies einen Beziehungsprozess im weitesten Sinn widerspiegelt. Dass auch Beziehungsprozesse eine Rolle spielen dürften zeigt sich möglicherweise daran, dass ADHS-Diagnosen umso häufiger gestellt werden je eher ein Kind in sozial prekären Verhältnissen aufwächst.
Ganz sicher aber ist ADHS häufig ein Passungsproblem – dem Kind werden Dinge abverlangt, die es entwicklungs- oder persönlichkeitsbedingt (noch) nicht leisten kann. Das erklärt etwa die Tatsache, dass die jüngeren Kinder in einer Klasse deutlich häufiger die Diagnose ADHS bekommen als die älteren – der Abstand zwischen Geburtstag und Einschulungs-Stichtag sollte bei klar definierten Krankheiten ja keine Rolle spielen. Auch zeigt die Verteilung der Diagnose ADHS in Deutschland, dass Kinder in manchen Städten doppelt so oft in der ADHS-Schublade landen. Wie sehr da aus der Hüfte geschossen wird, zeigen neuere Studien, nach denen sich selbst Fachärzte in der Diagnose von ADHS überwiegend nicht einig sind.

Einig sind sich aber selbst Kritiker und die Mainstream-Kinderpsychiater in einer Sache: dass nämlich bei der Behandlung häufig deshalb auf Medikamente gesetzt wird, weil die Umwelt nicht kindgerecht ist. Und das vor allem dort, wo es eigentlich um die Kinder gehen sollte – an den Schulen. Der Psychologe Peter Gray, nennt ADHS ein „school adjustment problem“, und dies scheint durch die historische Forschung bestätigt: »Erst, als Kinder nicht mehr bei der Arbeit ihrer Eltern mitgeholfen haben, sondern in der Schule mit anderen gemeinsam erzogen wurden und ganz neuen Anforderungen ausgesetzt waren, traten die Schwierigkeiten zutage«, so Sarah Hohmann, Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf. Der bekannte Kinderpsychiater Adam Alfred schließt sich dem in einem Interview (in dem er eigentlich dem »Ritalin-Bashing« entgegentreten will) im Grunde an: »Ja, das ist ja das Traurige. Wir bräuchten sicher weniger Medikamente, wenn das Schulsystem stärker auf Unterstützung ausgelegt wäre. Wir machen immer wieder die Erfahrung: Wenn die Kinder auf verständnisvolle und gut informierte Lehrer treffen, ist das schon die halbe Miete.«

Und die bräuchten sich nicht nur auf ihre Beziehungskompetenzen verlassen, sondern auch auf die Natur. Denn experimentell lässt sich eindeutig zeigen, dass Kinder draußen weniger Aufmerksamkeits- und Verhaltensprobleme haben und dass davon insbesondere Kinder mit ADHS profitieren. Nähmen Kinder- und JugendpsychiaterInnen also ihren eigenen wissenschaftlichen Anspruch ernst, würden sie das Draußensein neben einem kindgerechten Unterricht als weitere Säule der ADHS-Therapie empfehlen (der Naturaktivist Richard Louv spricht in diesem Zusammenhang vom »natureigenen Ritalin«, das es mehr zu nutzen gelte …).

Ganz aus dem Fokus gerät oft, dass ADHS auch eine Ressource sein kann – dann nämlich, wenn die Kinder in der für sie besser passenden Umwelt leben und arbeiten können. Hier bringen sie oft außergewöhnliche (z.B. kreative) Leistungen und tragen auch für ein effektiveres Arbeiten in Gruppen bei (eine gute Übersicht dazu bei Peter Gray ). Ich selbst habe auch schon darauf hingewiesen, dass viele große Entdeckungsleistungen letzten Endes auf den Talenten von Menschen beruhen, die heute eine ADHS Diagnose hätten (anders gefragt: diese ganzen Reisen in eine neue Welt, von Vasco da Gama bis Christopher Kolumbus – könnte die jemand machen, der *nicht* ADHS hat?)

Also ist ADHS jetzt eine „Störung“, eine Ausdruck von „Neurodivergenz“, ein „Persönlichkeitsmerkmal“? Das dürfte in jedem Einzelfall unterschiedlich und auch letzten Endes schwer zu klären sein. Sicher ist aber, dass „ADHS“ nur verstanden werden kann, wenn wir auch den kulturellen Kontext mit betrachten, in dem wir heute leben. Und ganz sicher ist auch, dass für Menschen mit ADHS das für uns Menschen generell geltende Grundaxiom umso stärker gilt: Wir können nur in einer zu uns selbst einigermaßen passenden Umwelt gedeihen. Remo Largos Vermächtnisbuch hießt nicht umsonst: Das passende Leben.

 

((Und noch das hinterher, weil ich auf den sozialen Medien hier gleich mal ans öffentliche Kreuz genagelt wurde. Ich beziehe in dieser Übersicht in keinster Weise Stellung zu der Frage, woher das ADHS DEINES Kindes kommt – dies ist eine Zusammenfassung von möglichen Ursachen, was dafür und dagegen spricht, spreche ich jeweils an. Ich gehe hier auch in keinster Weise auf die Frage der Therapie ein, also ob ADHS behandelt werden soll oder nicht, und wenn ja wie. Ich selbst weiß dass Stimulatien ein Segen sein können, aber Leute, das ist hier nicht Frage. Und dann noch eine Bitte: Wenn ihr ein Problem habt mit dem was ich schreibe, braucht ihr mich nicht persönlich zu kränken. Lasst uns doch einfach besonnen sein und nicht immer sofort auf Angriff gehen, das macht das Leben doch auch nicht besser. Sorry an die 99% meiner LeserInnen, die das verstehen, aber es nervt wirklich!))

Dieser Artikel ist eine etwas erweiterte Fassung aus einem Kapitel in meinem Buch: Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen. Beltz 2022.
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7 Kommentare

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  • Anna

    „ Hierzu könnte passen, dass sich bei etwa einem Drittel der mit ADHS diagnostizierten Kinder auch andere Auffälligkeiten in der Art des Denkens, der Wahrnehmung und des Verhaltens finden lassen (etwa Störungen der Feinmotorik, Teilleistungsstörungen, Tics oder Probleme im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung).“
    -> das Drittel hat dann sehr wahrscheinlich auch eine Kombination mit Autismus, was sich mit Zahlen aus Studien decken würde

    ADHSler haben einen unterversorgten Frontallappen. Das führt zu später entwickelten Fähigkeiten in den Exekutivfunktionen und dem Emotionsmanagement (-30%-Regel). Diese Entwicklungsverzögerung kann durch Medikamente langsam aber stetig wieder ausgeglichen werden sowie ein erhöhtes Demenzrisiko im Alter damit gesenkt werden. Es gibt genug Erwachsene, insbesondere Frauen, die undiagnostiziert durch Schule und Studium gekommen sind und trotzdem die entsprechenden Probleme hatten, die man als Diagnosekriterien in der ICD-11 nachlesen kann. Sie haben es maskiert. Weshalb durchschnittliches Diagnosealter für Männer bei 7 Jahren liegt und bei Frauen bei 30 Jahren (ca mit Kindern, wenn das Kartenhaus zusammenfällt und die Strategien nicht mehr helfen).

    Es gibt viele Überlappungen zu Autismus, FASD und anderen Störungen. Wenn man es nicht schafft, diese gründlich und sauber voneinander zu trennen und Kinder dann fehldiagnostiziert werden und in Statistiken und Studien mit einfließen, ist es kein Wunder, wenn nicht ganz auseinander zu halten ist, was ADHS nun ist. Dabei ist ADHS die Entwicklungsstörung, die anhand von Zwillingsstudien, am Besten als hauptsächlich genetisch bedingte Störung untersucht ist. In der Regel haben weitere Familienmitglieder ADHS wenn das Kind ADHS hat.

    • Herbert Renz-Polster

      Herzlichen Dank für die Ergänzungen, insbesondere zum genetischen Hintergrund! hG, HRP

      • mori

        neuere studien zeigen auch das alle dys- stoerungen wir dyspraxia dyskalkulie und dyslexie von einen Mangel an verfuegbarer Aufmerksamkeit kommen und zwar nicht wissentlich sondern schon auf hirn ebene.
        Habe selber gemerkt wie sehr sich meine Bewegung verbessert hat nach gabe von medikinet (ie gradlinig wenn es zuvor zT fast torkelig war) weil bereits im Planungsablauf von Bewegung und Erfassung die Ressourcen fehlen. Es wird ja schon gesagt, dass es kein Defizit von Aufmerksamkeit ist sondern eine Verteilungsstörung ist.

        Der genetische Hintergrund ganzwichtig , gehr da gerne zurück auf Peter Schillings Goldener Reiter. Bes Frauen wurden entw gar nicht oder mit anderen Krankheiten deren behandlungserfolg geringfügig war behandelt hnd erst heute wird dies erksnnt.

    • Millie

      Danke! Eine andere Schul-Art hätte mir als Kind sicherlich geholfen, doch es wirklich nicht mehr ausgehalten und die Diagnose bekommen habe ich erst nach dem zweiten Kind… ja zu Veränderung im Schulsystem, doch entschieden nein zu der Theorie, dass es dann kein ADHS mehr gäbe.

      • Ju

        das ist doch auch nicht die Theorie? Hier wird davon gesprochen, dass bei einer Veränderung der Umwelt die daraus resultierenden Probleme und der Leidensdruck der Betroffenen nicht entstehen würden.

  • Alexandra

    Es ist wirklich sehr schade, dass eine nachträgliche Ergänzung dieser Art notwendig ist. Der Beitrag ist, wie immer, so klasse geschrieben, dass man sich schon anstrengen muss da etwas persönlich zu nehmen…

    Bitte lassen Sie sich von diesen 1% nicht entmutigen! Ich glaube die restlichen 99% schätzen Sie so enorm. Mich begleiten Sie schon viele Jahre als Mutter und ich bin Ihnen wahnsinnig dankbar für was Sie sowohl online als auch in Buchform schreiben.

  • Alex S.

    Wunderbar! Ich hatte diese Mail im Postfach und dachte: “Dünnes Eis – mal sehen, wie er da durch kommt”

    Sehr gut, für diese differenzierte Betrachtungsweise, schätze ich bereits seit Jahren Ihren Blog.

    Ich bin 40 und habe vor zwei Jahren davon erfahren, dass ich auf dem Autismus-Spektrum bin und auch ADHS habe. Nach diversen Erschöpfungsdepressionen bin ich mal zum Arzt gegangen. Bis dahin dachte ich auch, dass das Aufmerksamkeits-Defizit seitens der Eltern entstünde und die Kinder nur auf sich aufmerksam machen wollen.

    DOCH heute sehe ich das viel differenzierter. Das Wichtigste, das ich gelernt habe: Ein Fisch hat nur im Wasser ein “erfülltes” Leben. Jeder braucht seinen Platz und wenn man den gefunden hat, dann erledigt sich viel von der – ich betone: Symptomatik.

    Denn die Grundlage ist für viele nachvollziehbar. Wer schon mal so richtig unter Druck stand, entwickelt ebenfalls Symptome einer ADHS. Diese verschwinden aber wieder, wenn der Druck schwindet. Nicht so, wenn der Fisch weiterhin an Land bleibt.

    Und dabei ist nicht jeder Fisch, sondern es gibt noch tausende Arten, anders zu sein.

    Danke!

    PS: Nicht von den “Hatern” entmutigen lassen. Ich empfehle das Stichwort Myside-Bias für diejenigen, die schnell Menschen aufgrund einer Äußerung oder eines Standpunktes gleich auf den Scheiterhaufen schmeißen wollen. Ist leider menschlich und leider auch in der Mehrheit der Fall. Und gerade unter Menschen, die sich für gebildet halten, besonders gefährlich.

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