ADHS – eine Störung oder was?

Über kaum eine Krankheit wird emotionaler diskutiert als über ADHS – auch als Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, Hyperaktivität oder Zappelphilipp-Syndrom bekannt.
Moment einmal: Krankheit? Schon da scheiden sich nämlich die Geister. Für die einen ist ADHS ja ganz einfach ein Erziehungsfehler: Die Kinder sitzen zu viel vor dem Bildschirm, schlafen zu wenig und bekommen keine Grenzen gesetzt. Für die anderen liegt das Problem im Gehirn verankert – bei den betroffenen Kindern funktioniere das Gehirn anders, und das lasse sich mit medizinischen Geräten auch nachweisen. Wieder andere weisen darauf hin, dass das Problem möglicherweise daran liegt, dass die Welt heute nicht mehr so gut zu den Kindern passt – manche brauchen einfach ihren Auslauf und haben es mit dem neuen Programm ungebührlich schwer. Statt langen Stillsitzens bräuchten sie eher Spiel und Bewegung.
Für alle drei Annahmen lassen sich gute Belege finden (womit es eigentlich möglich sein sollte, weniger emotional über das Thema zu reden, aber das ist eine andere Geschichte …). So lassen sich tatsächlich bei manchen Kindern mit ADHS mit modernen Verfahren Veränderungen des Gehirns oder der dort wirkenden Neurotransmitter nachweisen (allerdings sind die Studien teilweise widersprüchlich, was aber nicht gegen diese These spricht). Hierzu könnte passen, dass sich bei etwa einem Drittel der mit ADHS diagnostizierten Kinder auch andere Auffälligkeiten in der Art des Denkens, der Wahrnehmung und des Verhaltens finden lassen (etwa Störungen der Feinmotorik, Teilleistungsstörungen, Tics oder Probleme im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung).

Dahinter könnten tatsächlich schädigende äußere Einflüsse bei der Hirnentwicklung stehen. Das würde die Beobachtung erklären, dass ADHS bei zu früh geborenen Kindern und bei Kindern von Müttern, die während der Schwangerschaft getrunken oder geraucht haben, häufiger auftritt. Auch der in Studien auffällige Zusammenhang zwischen der Pestizidbelastung der Nahrung und ADHS könnte so erklärt werden. Gleichzeitig könnten diese Veränderungen aber auch biologisch veranlagt sein, also auf eine genetisch bedingte Unterschiedlichkeit hinweisen (inzwischen wird hier manchmal der Begriff der „Neurodivergenz“ verwendet, den ich selber nicht mag, weil er alles und nichts aussagt und auch zum Teil sehr unterschiedliche Veränderungen und auch Störungen mit echtem Krankheitswert unter einen „Schirm“ bringen will – ich persönlich glaube nicht, dass das für die Begleitung dieser – sehr unterschiedlichen – Kinder hilfreich ist, denn: sie brauchen am Ende dann doch sehr unterschiedliche Hilfestellungen).
Andererseits ist bekannt, dass Kinder die Fähigkeit zur Kontrolle ihrer Impulse und Emotionen (die sogenannte »exekutive Kontrolle«, die in Kapitel 2 dieses Buches Thema war) in der frühen Kindheit erlernen, und zwar zunächst im Rahmen ihrer Beziehungen zu ihren Bindungspersonen. Die Tatsache, dass überzufällig viele Kinder mit ADHS schon in der frühen Kindheit mit emotionalen Problemen auffallen (zum Beispiel als »Schreibabys«), könnte darauf hinweisen, dass eine mögliche Wurzel für ADHS auch in der frühen Kindheit zu suchen ist. Wobei sich dann auch hier die Frage stellt, ob sich hier ein Anlageproblem zeigt, oder ob dies einen Beziehungsprozess im weitesten Sinn widerspiegelt. Dass auch Beziehungsprozesse eine Rolle spielen dürften zeigt sich möglicherweise daran, dass ADHS-Diagnosen umso häufiger gestellt werden je eher ein Kind in sozial prekären Verhältnissen aufwächst.
Ganz sicher aber ist ADHS häufig ein Passungsproblem – dem Kind werden Dinge abverlangt, die es entwicklungs- oder persönlichkeitsbedingt (noch) nicht leisten kann. Das erklärt etwa die Tatsache, dass die jüngeren Kinder in einer Klasse deutlich häufiger die Diagnose ADHS bekommen als die älteren – der Abstand zwischen Geburtstag und Einschulungs-Stichtag sollte bei klar definierten Krankheiten ja keine Rolle spielen. Auch zeigt die Verteilung der Diagnose ADHS in Deutschland, dass Kinder in manchen Städten doppelt so oft in der ADHS-Schublade landen. Wie sehr da aus der Hüfte geschossen wird, zeigen neuere Studien, nach denen sich selbst Fachärzte in der Diagnose von ADHS überwiegend nicht einig sind.
Einig sind sich aber selbst Kritiker und die Mainstream-Kinderpsychiater in einer Sache: dass nämlich bei der Behandlung häufig deshalb auf Medikamente gesetzt wird, weil die Umwelt nicht kindgerecht ist. Und das vor allem dort, wo es eigentlich um die Kinder gehen sollte – an den Schulen. Der Psychologe Peter Gray, nennt ADHS ein „school adjustment problem“, und dies scheint durch die historische Forschung bestätigt: »Erst, als Kinder nicht mehr bei der Arbeit ihrer Eltern mitgeholfen haben, sondern in der Schule mit anderen gemeinsam erzogen wurden und ganz neuen Anforderungen ausgesetzt waren, traten die Schwierigkeiten zutage«, so Sarah Hohmann, Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf.
Der bekannte Kinderpsychiater Adam Alfred schließt sich dem in einem Interview (in dem er eigentlich dem »Ritalin-Bashing« entgegentreten will) im Grunde an: »Ja, das ist ja das Traurige. Wir bräuchten sicher weniger Medikamente, wenn das Schulsystem stärker auf Unterstützung ausgelegt wäre. Wir machen immer wieder die Erfahrung: Wenn die Kinder auf verständnisvolle und gut informierte Lehrer treffen, ist das schon die halbe Miete.«
Und die bräuchten sich nicht nur auf ihre Beziehungskompetenzen verlassen, sondern auch auf die Natur. Denn experimentell lässt sich eindeutig zeigen, dass Kinder draußen weniger Aufmerksamkeits- und Verhaltensprobleme haben und dass davon insbesondere Kinder mit ADHS profitieren. Nähmen Kinder- und JugendpsychiaterInnen also ihren eigenen wissenschaftlichen Anspruch ernst, würden sie das Draußensein neben einem kindgerechten Unterricht als weitere Säule der ADHS-Therapie empfehlen (der Naturaktivist Richard Louv spricht in diesem Zusammenhang vom »natureigenen Ritalin«, das es mehr zu nutzen gelte …).
Ganz aus dem Fokus gerät oft, dass ADHS auch eine Ressource sein kann – dann nämlich, wenn die Kinder in der für sie besser passenden Umwelt leben und arbeiten können. Hier bringen sie oft außergewöhnliche (z.B. kreative) Leistungen und tragen auch für ein effektiveres Arbeiten in Gruppen bei (eine gute Übersicht dazu bei Peter Gray ). Ich selbst habe auch schon darauf hingewiesen, dass viele große Entdeckungsleistungen letzten Endes auf den Talenten von Menschen beruhen, die heute eine ADHS Diagnose hätten (anders gefragt: diese ganzen Reisen in eine neue Welt, von Vasco da Gama bis Christopher Kolumbus – könnte die jemand machen, der *nicht* ADHS hat?)
Also ist ADHS jetzt eine „Störung“, eine Ausdruck von „Neurodivergenz“, ein „Persönlichkeitsmerkmal“? Das dürfte in jedem Einzelfall unterschiedlich und auch letzten Endes schwer zu klären sein. Sicher ist aber, dass „ADHS“ nur verstanden werden kann, wenn wir auch den kulturellen Kontext mit betrachten, in dem wir heute leben. Und ganz sicher ist auch, dass für Menschen mit ADHS das für uns Menschen generell geltende Grundaxiom umso stärker gilt: Wir können nur in einer zu uns selbst einigermaßen passenden Umwelt gedeihen. Remo Largos Vermächtnisbuch hießt nicht umsonst: Das passende Leben.
((Und noch das hinterher, weil ich auf den sozialen Medien hier gleich mal ans öffentliche Kreuz genagelt wurde. Ich beziehe in dieser Übersicht in keinster Weise Stellung zu der Frage, woher das ADHS DEINES Kindes kommt – dies ist eine Zusammenfassung von möglichen Ursachen, was dafür und dagegen spricht, spreche ich jeweils an. Ich gehe hier auch in keinster Weise auf die Frage der Therapie ein, also ob ADHS behandelt werden soll oder nicht, und wenn ja wie. Ich selbst weiß dass Stimulatien ein Segen sein können, aber Leute, das ist hier nicht Frage. Und dann noch eine Bitte: Wenn ihr ein Problem habt mit dem was ich schreibe, braucht ihr mich nicht persönlich zu kränken. Lasst uns doch einfach besonnen sein und nicht immer sofort auf Angriff gehen, das macht das Leben doch auch nicht besser. Sorry an die 99% meiner LeserInnen, die das verstehen, aber es nervt wirklich!))
Anna
„ Hierzu könnte passen, dass sich bei etwa einem Drittel der mit ADHS diagnostizierten Kinder auch andere Auffälligkeiten in der Art des Denkens, der Wahrnehmung und des Verhaltens finden lassen (etwa Störungen der Feinmotorik, Teilleistungsstörungen, Tics oder Probleme im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung).“
-> das Drittel hat dann sehr wahrscheinlich auch eine Kombination mit Autismus, was sich mit Zahlen aus Studien decken würde
ADHSler haben einen unterversorgten Frontallappen. Das führt zu später entwickelten Fähigkeiten in den Exekutivfunktionen und dem Emotionsmanagement (-30%-Regel). Diese Entwicklungsverzögerung kann durch Medikamente langsam aber stetig wieder ausgeglichen werden sowie ein erhöhtes Demenzrisiko im Alter damit gesenkt werden. Es gibt genug Erwachsene, insbesondere Frauen, die undiagnostiziert durch Schule und Studium gekommen sind und trotzdem die entsprechenden Probleme hatten, die man als Diagnosekriterien in der ICD-11 nachlesen kann. Sie haben es maskiert. Weshalb durchschnittliches Diagnosealter für Männer bei 7 Jahren liegt und bei Frauen bei 30 Jahren (ca mit Kindern, wenn das Kartenhaus zusammenfällt und die Strategien nicht mehr helfen).
Es gibt viele Überlappungen zu Autismus, FASD und anderen Störungen. Wenn man es nicht schafft, diese gründlich und sauber voneinander zu trennen und Kinder dann fehldiagnostiziert werden und in Statistiken und Studien mit einfließen, ist es kein Wunder, wenn nicht ganz auseinander zu halten ist, was ADHS nun ist. Dabei ist ADHS die Entwicklungsstörung, die anhand von Zwillingsstudien, am Besten als hauptsächlich genetisch bedingte Störung untersucht ist. In der Regel haben weitere Familienmitglieder ADHS wenn das Kind ADHS hat.
Herbert Renz-Polster
Herzlichen Dank für die Ergänzungen, insbesondere zum genetischen Hintergrund! hG, HRP
mori
neuere studien zeigen auch das alle dys- stoerungen wir dyspraxia dyskalkulie und dyslexie von einen Mangel an verfuegbarer Aufmerksamkeit kommen und zwar nicht wissentlich sondern schon auf hirn ebene.
Habe selber gemerkt wie sehr sich meine Bewegung verbessert hat nach gabe von medikinet (ie gradlinig wenn es zuvor zT fast torkelig war) weil bereits im Planungsablauf von Bewegung und Erfassung die Ressourcen fehlen. Es wird ja schon gesagt, dass es kein Defizit von Aufmerksamkeit ist sondern eine Verteilungsstörung ist.
Der genetische Hintergrund ganzwichtig , gehr da gerne zurück auf Peter Schillings Goldener Reiter. Bes Frauen wurden entw gar nicht oder mit anderen Krankheiten deren behandlungserfolg geringfügig war behandelt hnd erst heute wird dies erksnnt.
Millie
Danke! Eine andere Schul-Art hätte mir als Kind sicherlich geholfen, doch es wirklich nicht mehr ausgehalten und die Diagnose bekommen habe ich erst nach dem zweiten Kind… ja zu Veränderung im Schulsystem, doch entschieden nein zu der Theorie, dass es dann kein ADHS mehr gäbe.
Ju
das ist doch auch nicht die Theorie? Hier wird davon gesprochen, dass bei einer Veränderung der Umwelt die daraus resultierenden Probleme und der Leidensdruck der Betroffenen nicht entstehen würden.
Friedo Pagel
Absolut!
Ich möchte das noch etwas krasser ausführen, wobei ich hoffe, dass sich dadurch niemand in seinen Gefühlen verletzt fühlt:
1. Schule: Meine beiden ältesten Kinder haben schließlich mit Hilfe dieser Schule ihre Abschlüsse gemacht: https://www.youtube.com/watch?v=yVr4A0GVJsg
2. Diagnose und Therapie: In den 90ern wurden eigentlich nur die ADHS Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten für dringend therapiebedürftig (also mit Medikation) erklärt. Mein jüngster also nicht. Er musste zwar auch öfters die Schule wechseln, hat aber seine Mittlere Reife auf einer ganz normalen Schule gemacht. Also alles gut? Ganz im Gegenteil. Nicht etwa die mit Ritalin behandelten haben als Erwachsene eine Sucht entwickelt, sondern jener unbehandelte. Dennoch denke ich nicht, dass die medikamentöse Behandlung (ja oder nein) für die unterschiedlichen Entwicklungen verantwortlich war. Der Indikator für späteren Erfolg oder Misserfolg war ihr Gruppenverhalten in der Kindheit:
– Der älteste hatte viele gleichaltrige Freunde und seine Geburtstagsfeier musste immer die beste, ja legendärste der Klasse sein. Er hat eine später eine gute Partnerin gefunden und steht gut im Leben.
– Der zweite hatte schon früh den Hang zu älteren Kindern, und zwar zu den verrufendsten der ganzen Gegend. Er lernt alles in Windeseile, von geistigen Sachen wie Programmieren über körperlichen wie Nähen bis zu Handel treiben. Nur leider bleibt er bei nichts. Alles ist für ihn nur so lange interessant, wie er dabei die Grenze zur Illegalität ausloten kann. (Gott sei dank kratzt er dann noch rechtzeitig die Kurve, war aber Investitionen wegwirft und i.d.R. auch Schulden hinterlässt.)
– Und der jüngste hatte schon als Kleinkind einen Selektiven Mutismus. Nur in der Familie fällt da ja nichts auf, außer dass er sich weigerte, in den Kindergarten zu gehen, oder wenn man woanders war nur auf dem Schoß hockte. Später hatte er in Berlin außer Familienmitgliedern nur Kontakt zu einem einzigen Freund – über Jahrzehnte.
Und ohne Schule kein ADHS? Ha ha ha. ADHS (oder zumindest die Angewohnheit von ADHS Kindern, ihre Eltern unflätig zu beschimpfen, ist doch schon in der Bibel beschrieben: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebest auf Erden.” Das erschreckende ist, die Beobachtung, dass diese sich gegenüber ihren Eltern oft ungebührlich verhaltenden Kinder früher sterben als andere, die gilt sogar noch heute unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten: https://www.esanum.de/today/posts/adhs-erhoht-die-sterblichkeit
Unfallhäufigkeit aus Übermut und Schusseligkeit a’la Struwwelpeter Geschichten, was bedeutete das in den Zeiten vor Antibiotika? Jede Wunde konnte zu einer Sepsis führen, eine Gefahr, die wir heute weitestgehend verdrängt haben https://www.gesundheitsforschung-bmftr.de/de/sepsis-fordert-viel-mehr-todesopfer-als-gedacht-3068.php
Alexandra
Es ist wirklich sehr schade, dass eine nachträgliche Ergänzung dieser Art notwendig ist. Der Beitrag ist, wie immer, so klasse geschrieben, dass man sich schon anstrengen muss da etwas persönlich zu nehmen…
Bitte lassen Sie sich von diesen 1% nicht entmutigen! Ich glaube die restlichen 99% schätzen Sie so enorm. Mich begleiten Sie schon viele Jahre als Mutter und ich bin Ihnen wahnsinnig dankbar für was Sie sowohl online als auch in Buchform schreiben.
Alex S.
Wunderbar! Ich hatte diese Mail im Postfach und dachte: “Dünnes Eis – mal sehen, wie er da durch kommt”
Sehr gut, für diese differenzierte Betrachtungsweise, schätze ich bereits seit Jahren Ihren Blog.
Ich bin 40 und habe vor zwei Jahren davon erfahren, dass ich auf dem Autismus-Spektrum bin und auch ADHS habe. Nach diversen Erschöpfungsdepressionen bin ich mal zum Arzt gegangen. Bis dahin dachte ich auch, dass das Aufmerksamkeits-Defizit seitens der Eltern entstünde und die Kinder nur auf sich aufmerksam machen wollen.
DOCH heute sehe ich das viel differenzierter. Das Wichtigste, das ich gelernt habe: Ein Fisch hat nur im Wasser ein “erfülltes” Leben. Jeder braucht seinen Platz und wenn man den gefunden hat, dann erledigt sich viel von der – ich betone: Symptomatik.
Denn die Grundlage ist für viele nachvollziehbar. Wer schon mal so richtig unter Druck stand, entwickelt ebenfalls Symptome einer ADHS. Diese verschwinden aber wieder, wenn der Druck schwindet. Nicht so, wenn der Fisch weiterhin an Land bleibt.
Und dabei ist nicht jeder Fisch, sondern es gibt noch tausende Arten, anders zu sein.
Danke!
PS: Nicht von den “Hatern” entmutigen lassen. Ich empfehle das Stichwort Myside-Bias für diejenigen, die schnell Menschen aufgrund einer Äußerung oder eines Standpunktes gleich auf den Scheiterhaufen schmeißen wollen. Ist leider menschlich und leider auch in der Mehrheit der Fall. Und gerade unter Menschen, die sich für gebildet halten, besonders gefährlich.
Christine B.
Hallo lieber Herbert Renz-Polster,
Welche Anlaufstellen für den Akut Fall gibt es für ADHS betroffene Familien? Ein ADHS im Freundeskreis Kind sieht gerade zu, wie der Papa im KKH liegt und sich dadurch aktuell vieles umzu verändert im Alltag. Ich habe gestern eine ganz schlimme Situation für die Mama erlebt, die ihr Allerbestes gibt, nur eben wirklich Unterstützung braucht. Vlt ist das Kind auch in einer Trauma „Zustand“. An wen kann sie sich wenden, um hörende Ohren und helfende Worte zu bekommen? Viele Grüße, Christine
Friedo Pagel
Mittlerweile ist es ca. 35 Jahre her, dass ich erstmalig auf das Thema ADHS gestoßen bin. Vieles hat sich seither verbessert und vieles wissen wir heute mehr darüber. Und dennoch drehen wir uns bei vielen der von Ihnen angesprochenen Punkte noch immer im Kreise.
Ja, ich war ein „ADHS Aktivist der ersten Stunde“ Auf diesen halbseitigen Artikel in der NN vom 8.10.1992 (https://x.com/FriedrichPagel/status/1546244671806095360/photo/1) bekam ich am darauf folgenden Wochenende ca. 300 Anrufe von Eltern und Großeltern. Dann zeigte das Franken Fernsehen am 10.11.1993 in ihrem Gesundheitsmagazin einen Bericht über unsere Selbsthilfegruppe und so kam ADHS zum ersten Mal in das deutsche Fernsehen. Aus meinen Kontakten zu Schule&Wir wurde 1997 schließlich die (Mit-)Übersetzung des Thom Hartmann Buches (https://x.com/FriedrichPagel/status/1476234767519600645 ).
Ab 2003 dann bis auf wenige Vorträge im Jahr Pause, denn es begann eine Zeit, wo die medizinische und psychologische Versorgung immer besser wurde. Nach der Pandemie stieg allerdings der Bedarf an Kinder- und Jugendpsychiatrie, was für ADHS Verdachtsfälle zu Monate langen Wartezeiten führte. Also wurde ich zurückgerufen (https://x.com/FriedrichPagel/status/1679926394531266567 ).
Die Elternseite kenne ich aus dem FF, detaillierte Schilderungen aus über 500 Familien, oft mit Sachen, die sie aus Scham nicht mal dem Kinderarzt erzählt haben. Auf der medizinischen Seite waren es aber nicht nur die „ADHS ist eine von der Pharmaindustrie erfundene Krankheit“ Erzählung aus Scientology-Kreisen, die unbefriedigend waren, sondern eigentlich auch all die medizinischen Ursachen-Erklärungen. Nichts, aber auch gar nichts war zuverlässig reproduzierbar.
Ich habe daher schon früh (d.h. schrittweise und so richtig erst nach gut 15 Jahren) die Ursachensuche „Wie funktioniert die Krankheit bzw. Störung?“ aufgegeben. Viel größere Erkenntnisse brachten die Fragen „Wie funktioniert Gesundheit?“ und „Wie funktioniert der Mensch, bzw. das Leben an sich?“ Und daran anschließend dann erst die Frage: „Wie funktioniert ADHS? Was ist da anders? Und wie kann man dieser Andersartigkeit entgegenkommen?“
Meilensteine auf diesen Weg waren
– Zänker „Kommunikationsnetzwerke im Körper“ https://x.com/FriedrichPagel/status/1644116883174506497
Selbst Erziehungsberater sagten begeistert „Auf einmal haben alle recht“.
– Gazzaniga’s Split Brain Patient Joe (hier schön erläutert https://www.youtube.com/watch?v=W5312J0LedQ&t=7s ) — Alle! Nicht „wir normal, die anderen krank“!
– Dann. Die besten ADHS Biografien sind jene, wo die Autoren nicht wissen, dass es sich hier um ADHS dreht und daher dieses Kürzel überhaupt nicht vorkommt: z.B. BR-Lebenslinien „Der Jensei“. Ist leider nicht mehr in der Mediathek. Aber selbst die Diskussion darüber, ein Zwiespalt zwischen Bewunderung und Ablehnung seiner Verhaltenssucht “Wildern”, ist charakteristisch für das Unverständnis der anderen.
– Dabei ist gerade das sehr einfach zu verstehen: https://www.youtube.com/watch?v=axrywDP9Ii0 . Das stinknormale Belohnungssystem, wie wir es alle haben. Nur bei Hormonen und Neurotransmittern geht es eben nicht von 0 auf 100, sondern sie schwanken um einen günstigen Ruhe-Wert. „If you block that rise of Dopamine from occurring, you don’t get the work, you don’t get the behavior“ – und genau das sehen wir täglich. Das war auch mit ein Grund, warum ich das ADHS meiner Kinder so spät entdeckt habe. Ich habe immer gesagt: „Die sind nicht hyperaktiv, die sind hyperpassiv. Sie springen zwar dauernd von einer Tätigkeit zur anderen, können aber nichts wirklich etwas mit sich anfangen. Die spielen nicht, sondern wollen ständig bespielt werden.“‘
Wichtig noch das „maybe“ in jenem Clip. Beinhaltet es doch einerseits das hohe Risiko, eigentlich jede Art von Sucht zu entwickeln, ist es andererseits aber auch eine große Chance, sie an der Stelle in eine auch von allen anderen als nützlich und sinnvoll erachtete Tätigkeit einzubinden. Wir kennen das längst aus den für ADHS-ler geeigneten Berufen wie Notfall-Sanitäter oder Notarzt.
Und nicht vergessen, eines der stärksten natürlichen Stimulantien ist emotionale Verbindung, und zwar als durchaus schwierig erachtetes Ziel (maybe->spannend) und nicht als Ergebnis, das einem quasi in den Schoß fällt (langweilig). Eltern müssen sich aber bei letzterem bleiben, sonst würden sie diesen Kindern, die sich ohnehin auch mit dem Selbstwertgefühl schwer tun, den Halt nehmen, den sie auf Grund ihrer Anpassungsschwierigkeiten ja noch dringender brauchen als andere. Es ist also vor allem die Umwelt gefragt. Aber die stellt sich i.d.R. stur, und zwar allen voran die Eltern der anderen Kinder und nicht unbedingt die Lehrer.
– And finally Dr. Taz: (https://x.com/FriedrichPagel/status/1531594144191332352/photo/1)
Individualität bedeutet eben nicht Autarkie. Ohne unser Mikrobiom (auf und in uns leben mehr Mikroben in Symbiose mit uns als wir Zellen im Körper haben) sind wir nicht lebensfähig, und genauso wenig ohne die soziale menschliche Gemeinschaft, die uns trägt. Beides hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Und je labiler wir sind, mit weniger erworbener und/oder ererbter Resilienz wir ausgestattet sind, desto wichtiger ist die Pflege jener beiden Ebenen.
Dieser letzte Punkt gilt selbstverständlich nicht nur für ADHS. Er betrifft praktisch alle Krankheiten, die auf einer physiologischen Grundlage existieren, deren Ausprägung gleichzeitig aber auch stark durch psychosozialen Stress beeinflusst wird. Ich fürchte, unser Menschenbild mit der Trennung von Körper und Geist/Psyche/Seele führt uns da in eine Falle. Egal ob bei ADHS, dem Autistischem Spektrum, Erschöpfungssyndromen, usw., immer wieder kommt der Vorwurf „psychisch“, und damit implizit „selbst Schuld“. Verletzend und kontraproduktiv.