Macht Euch endlich ehrlich!
Die wahren Hintergründe des Parental Alienation Syndroms - Teil III
Wie wir in den beiden ersten Teilen dieser Reportage gesehen haben entwickelte der US-amerikanische Kinder- und Jugendpsychiater Richard Gardner seine PAS-Theorie bei seiner Tätigkeit als Gutachter in sorgerechtlichen Auseinandersetzungen, bei denen er vornehmlich der Pädophilie angeklagte Väter vertrat. Sein Standpunkt in den allermeisten dieser Fälle: Die ablehnende Haltung der Mutter gegenüber einem Kontakt des Vaters mit dem Kind habe in Wirklichkeit seinen Ursprung darin, dass die Mutter an einer Störung leide. Er nannte sie Parental Alienation Syndrome - elterliches Entfremdungs-Syndrom. Im Rahmen dieser Störung würde die Mutter dem Kind durch eine Art „Gehirnwäsche“ einflüstern, den eigentlich geliebten Vater abzulehnen.
Eine Anmerkung vorweg
Zuerst würde ich dieses Mal gerne ein paar Takte dazu sagen, warum ich mich mit der PAS-Theorie überhaupt so eingehend beschäftige. Ich lese in Kommentaren zu Teil 1 und Teil 2 dieser Reportage manchmal das: Dass Kinder im Sorgerechtsstreit manchmal einem Elternteil bewusst entfremdet würden, das sei nun einmal Fakt. Manchmal geht die Argumentation dann so weiter: … und deshalb sei es eigentlich egal, was für ein schräger Vogel die Theorie der Eltern-Kind-Entfremdung entwickelt habe.
Diese Argumentation wird in der Auseinandersetzung um den Stellenwert der PAS-Theorie schon seit Längerem verfolgt. Da wird dann zum Beispiel betont, man wisse ja nichts Konkretes über Gardners Leben, er sei ja wegen Pädophilie „nie angezeigt“ worden, und darüber hinaus sei sein Werk eben eine wichtige Grundlage. Man beurteile ja auch nicht Einsteins Relativitätstheorie mit Blick auf Einsteins Leben.
Da muss ich widersprechen, und zwar so deutlich wie möglich. Denn Gardner hat nicht über die Laufbahn der Sterne geschrieben, sondern über Beziehungen zwischen Menschen – zwischen Eltern, zwischen Erwachsenen und Kindern. Dieses Beziehungsbild ist erbärmlich, ja, in seinem Kern missbräuchlich. Gardners Frauenbild ist zutiefst misogyn, es wimmelt in seinen Schriften von Hysterie-Vorwürfen und regelrechten Aburteilungen. Dasselbe begegnet mir in seinen Beurteilungen von Kindern. Sein Beziehungsbild ist die Grundlage seines Werkes und die Grundlage seiner Ratschläge. Dieses Bild ist keine Basis, um in Beziehungsnot geratenen Menschen zu helfen. Und vor allem nicht, um der unglaublich komplexen Bindungsdynamik nach Scheidungen und Trennungen gerecht zu werden.
Bindungs-Schwurbelei
Denn auch das will ich hier schon kurz in den Blick nehmen, weil es vielen Gardner-Apologeten auch nicht auffällt: Der Kern von Gardners Annahmen zur Eltern-Kind-Beziehung, also zum menschlichen Bindungssystem, ist schlichtweg falsch. Weil Gardner nämlich die Bindung zwischen Eltern und Kind als eine genetische Konstante beschreibt, die einfach da ist – zu beiden Elternteilen im Gleichmaß. Und genau das stimmt nicht. Bindung spiegelt das gelebte und gefühlte Miteinander, sie ist die Fläche unter der Kurve unseres Beziehungslebens und -erlebens. Sie ist nicht einfach das Resultat von Blutsverwandtschaft. Sie ist kein Besitz der Erzeuger, die mit der Zeugung jeweils eine Einlage von 50 % machen (und diese Einlage dann auch jederzeit für sich fordern können, wenn die Eltern-Beziehung scheitert). Und genau das ist das grundlegende Missverständnis, dem nun auch die Nachfolgemodelle von PAS in weiten Teilen aufsitzen.
Also noch einmal, in aller Deutlichkeit: Die PAS-Theorie wurde von Richard Gardner ausgearbeitet und verwendet, um möglichen pädophilen Tätern aus der Patsche zu helfen. Gardners Werk dreht sich in weiten Teilen darum, Pädophilie zu “normalisieren”. Es ist bis zum Rand gefüllt mit unhaltbaren, abstrusen, falschen und oft unvorstellbar widerlichen Behauptungen. Ich persönlich kann zu den Verteidigern dieser Theorie einfach nur sagen: Macht Euch doch endlich ehrlich!
Aber zurück zu Dr. Gardner, wir sind noch nicht fertig.
Gardners Argumentationskette
Schauen wir uns noch einmal das Blatt an, das Dr. Gardner in seinen Publikationen rund um den Themenkomplex sexueller Missbrauch von Kindern und väterliches Sorgerecht schon erarbeitet hatte. Dieses Blatt wirft für mich ein außerordentliches Rätsel auf, nämlich das: Wie, um alles in der Welt, konnte dieser Mann es schaffen, als internationaler „Experte“ für Kindesmisshandlung Anerkennung zu finden?
Erste Karte in Gardners Blatt: Der Mann kann nichts dafür – denn Missbrauch ist Teil seines Naturells. Der genetisch festgelegte Sexualtrieb des Mannes sei „obsessiv-zwanghaft“, und deshalb würde dieser „wenig unterscheiden, in welches Behältnis er sein Sperma deponiere.“ Da würden dann natürlich auch „Gefäße genutzt, die nicht unmittelbar zu einer Vermehrung der Bevölkerung führen, so stark und zwingend ist der Drang.“
Zweite Karte im Blatt: Die meisten Missbrauchsvorwürfe seien sowieso nur erfunden. Gardner präsentiert ganze Listen, aus welchen Gründen Kinder sexuellen Missbrauch erfinden.
Etwa, weil sie dadurch die Bindung zur Mutter festigen wollten. Oder weil die Kinder sich in Wirklichkeit unbewusst Sex mit dem Vater wünschten und ihm deshalb eben dieses unterstellten – aus Gründen der psychologischen Abwehr nämlich. Gardner schreibt dazu das: “Die Fantasie des Mädchens: `ich will dass er mich vergewaltigt` kann dann durch Reaktionsbildung umgewandelt werden in `Ich hasse die Idee, dass er mich vergewaltigt.` Gerade Mädchen würden Missbrauch auch gerne erfinden, weil sie die neue Partnerin des Vaters als sexuelle Rivalin betrachten.Wer Gardner liest, den wird nichts auf dieser Welt mehr überraschen können, wirklich gar nichts.
Dritte Karte im Blatt: Hauptschuldige sind die Mutter – auch weil Frauen generell zu „Störungen“ neigen. Auch hier ist ihm kein Argument abartig genug. So wirft er den Müttern vor, sie würden den sexuellen Missbrauch durch den Vater nur erfinden, weil auch sie in Wirklichkeit Sex mit ihm haben wollten. Und das ist noch harmlos gegen die Behauptung, die er an anderer Stelle macht, nämlich: in vielen Fällen wären es die Mütter selbst, die ihr Baby missbrauchen wollten. Um dies zu verdrängen hielten sie den Vater für gefährlich.
Auch seien in Wirklichkeit oft die Mütter schuld, wenn ein Vater Sex mit dem eigenen Kind hätte. Gerade Mädchen würden sich nämlich oft „sexuell an den Vater wenden, wenn ihre Beziehung zur Mutter schlecht sei.” . Ja, mehr noch: Vor allem die „in ihrem Sexualtrieb gehemmten Mütter“ würde es bewusst oder unbewusst darauf anlegen, dass der Mann die Kinder an ihrer Stelle sexuell benutzt.Selbstbefriedigung zur Missbrauchsprävention
Daraus leitet Gardner dann allen Ernstes den Rat an die Mütter missbrauchter Töchter ab, sie sollten am besten gleich mit Selbstbefriedigung beginnen. Durch die dadurch »erhöhte Sexualität« müsse der Vater sich nicht so oft zu seiner sexuellen Befriedigung an seine Tochter wenden.
Gardner empfiehlt sogar, dass der Therapeut die Mutter dabei selbst praktisch unterstützt – dafür bringt er zum Beispiel den Gebrauch eines Vibrators ins Spiel, der „unter den richtigen entspannenden Situationen“ benutzt werden solle – denn „verbale Aussagen über die Freuden eines Orgasmus werden wahrscheinlich nicht sehr nützlich sein.“Und für die Behandlung von Müttern missbrauchter Kinder hat er dann noch einen expliziten Rat bereit: Mütter, die „hysterisch“ auf den sexuellen Missbrauch durch den Vater reagierten, gälte es am Besten durch den Hinweis „ausnüchtern“, dass das Verhalten ihres Mannes „in der Weltgeschichte wahrscheinlich häufiger war als das beherrschte Verhalten derer, die ihre Kinder nicht sexuell missbrauchen.“
Sogar die Richter und Richterinnen werden in die Verteidigungsstrategie eingebunden. Gardner schreibt allen Ernstes, in Wirklichkeit trügen die Richter und Richterinnen an den Familiengerichten die Schuld am Leiden der pädophilen Väter. Konkret wirft er ihnen vor, sie würden in den Verfahren gegen Pädophile nämlich „stellvertretende Befriedigung“ erfahren – und sie verhängten nur deshalb so schwere Strafen, um dadurch ihre eigenen pädophilen Impulse zu verdrängen.
Und zu diesen Karten in seinem Blatt fügte er nun den absoluten Joker hinzu: die angebliche „Diagnose“ eines Parental Alienation Syndroms.
Wer den PAS-Vorwurf äußert, hat IMMER Recht
Mit der PAS Theorie hat Gardner eine Begründung gefunden, die *immer* funktioniert. Weil sie im Grunde als eine sich selbst erfüllende Prophezeihung angelegt ist:
Lehnt ein Kind nach der Trennung ein Elternteil ab, so fällt der Verdacht automatisch auf den anderen Elternteil. Weil nun einmal ein Kind „von Natur aus“ beide Elternteile gleichermaßen liebe, müsse da doch Gehirnwäsche und Manipulation vorliegen. Gardner geht sogar so weit, dass er behauptet, selbst der Hass eines Kindes auf ein Elternteil sei eigentlich Ausdruck seiner Liebe, denn „zwanghafter Hass ist oft ein Deckblatt tiefer Liebe“.
Und ja, der eingebaute Bumerang findet seinen Weg auch, wenn es um Missbrauchsvorwürfe geht. Äußert etwa eine Mutter den Verdacht, ihr Partner könne das gemeinsame Kind missbrauchen, so kann sich dieser jetzt auf die PAS-Theorie berufen: Der Missbrauchs-Vorwurf sei in Wirklichkeit nur Ausdruck einer Störung bei der Mutter, die sie alle Mittel nutzen lasse, um ihr Kind an sich fesseln zu wollen – auch Vorwürfe von Missbrauch oder Gewalt durch den Vater.
Eingebauter Bumerang
Und ab da ist der Weg für die Mutter vorgezeichnet. Denn egal, was sie jetzt unternimmt – es wird erst recht zum Bumerang. Beharrt sie auf ihrem Vorwurf, so heißt es: Dass sie so hartnäckig und unbelehrbar bei ihrem Vorwurf bleibt, ist ein Beweis für ihre Störung. Sogar wenn eine Mutter die Behörden einschaltet oder auf welche Art auch immer „selbstbewusst“ auftritt, bestätigt sie damit die PAS-„Diagnose“. Gardner schreibt nämlich allen Ernstes das: „Mütter von tatsächlich missbrauchten Kinder sind eher passiv und inadäquate Individuen. Im Gegensatz dazu sind Mütter, die Missbrauch erfinden, eher selbstbewusst. Das sind diejenigen, die sofort ein Theater um den mutmaßlichen Missbrauch veranstalten, sofort die Behörden informieren und diese dann unter Druck setzen oder dazu verführen, den Verdacht zu teilen.”
Auch wenn eine Mutter sich schützend vor ihr Kind stellt und etwa dessen Umgang mit dem Vater ablehnt, bestätigt sie damit die „Diagnose“ eines PAS: die Mutter will das Kind dem Vater entfremden!
Kontrollmittel in gewaltvollen Beziehungen
Der Vorwurf von PAS, „Eltern-Kind-Entfremdung“ oder „Bindungsintoleranz“ erweist sich aber immer wieder auch als eine ideale Strategie für gewaltausübende Partner, um auch nach der Trennung Kontrolle über ihre Ex-Partnerin zu behalten oder zu erlangen. Wie perfide und grausam diese Fälle sind, zeigt das mit dem Prix Europa und dem Robert-Geisendörfer-Preis ausgezeichnete Hörspiel-Feature von SWR, MDR und WDR „Ihre Angst spielt hier keine Rolle“, das sich alle FamilienrichterInnen dieses Landes einmal anhören sollten. Hier fassen Familien-Anwälte das Totalversagen des Gewaltschutzes so zusammen:
[00:42:49] “Me too”, diese Debatte dazu, das ist ja in der Theorie alles ganz nett, in der Praxis sieht es auch ganz anders aus. Da müssen Sie sich mit der Mandantin fragen: “Macht das eigentlich Sinn, dass wir das anzeigen?“ Was passiert denn, wenn es nicht bewiesen wird? – Dann dürfen sie das auch argumentativ nicht mehr aufrechterhalten! – Dann gibt es dieses Argument schlicht nicht! Und wenn dann einer sagt: die ist immer noch so darin verfangen, dass es das gegeben hätte und kann nicht loslassen, kann nicht nach vorne gucken. – Ja, also ich komme zu der Auffassung, die Mutter ist bindungsintolerant. Das Kind ist besser beim Vater aufgehoben! Der kriegt das besser hin! – Zack! Da lebt das Kind ab morgen beim Vater!“
Und genau das schreiben mir auch betroffene Mütter:
„Wenn ich mich heute als Frau von meinem gewalttätigen Mann trenne, dann riskiere ich die Kinder an ihn zu verlieren – so wie in meinem Fall. Wäre es da nicht besser gewesen, ich hätte mich weiter der häuslichen Gewalt ausgesetzt?“
Wie oft Mütter durch den jederzeit drohenden Vorwurf eines PAS oder einer „Bindungsintoleranz“ zum Freiwild eines gekränkten und gewaltbereiten Ex-Partners werden, zeigen auch die Falldokumentationen in den Buch „Im Zweifel gegen das Kind“. Das immer wiederkehrende Motiv: Der Gewalttäter hat über das geteilte Sorgerecht für das Kind weiter Zugriff auf seine Ex-Frau, diese kann sich aber wegen der Drohung einer Inobhutnahme aufgrund angeblicher „Bindungsintoleranz“ behördlich oder gerichtlich nicht zur Wehr setzen, da ein ultimativer Beweis für erfahrene Misshandlung aus naheliegenden Gründen nun einmal nur in seltenen Fällen möglich ist. Die Dimension des Problems lässt sich an den Zahlen zur Spitze des Eisbergs der häuslichen Gewalt erkennen: Jährlich suchen in Deutschland etwa 34.000 Frauen und Kinder Schutz in Frauenhäusern.
Ein Systemversagen, wieder
Ich sehe im Fall Gardner ein Systemversagen, und ich will es bewusst in einen Zusammenhang mit dem Fall Winterhoff stellen. Denn beides Mal verschaffte sich ein „Experte“ mit simplen Botschaften einen Ruf und konnte Teile der Fachwelt von seinen Theorien überzeugen. Bei Winterhoff waren es alte, aus den Freudschen Theorien zur psychosexuellen Entwicklung zusammengebastelte Schablonen, mit denen er seine Diagnose-Orgien von wegen „frühkindlicher Narzissmus“ und „symbiotische Bindung“ begründete. Dass er damit ein vermeintliches Werkzeug gegen gesellschaftliche Missstände lieferte (Stichwort: unsere angeblich „lebensunfähige“ Generation von Kindern), brachte ihm dann weiter Anklang, auch und gerade auf der konservativ-rechten Seite der Gesellschaft. Und in diesem Hype geriet dann die entscheidende Frage komplett aus dem Fokus: Stimmen diese Theorien denn überhaupt? Passen sie denn überhaupt zu den Kindern und ihrer Entwicklung? Passen sie zu dem, was wir heute über Bindungs- und Familiendynamiken wissen? Sind sie wissenschaftlich haltbar?
Ich glaube, dasselbe ist bei Gardner und seiner Theorie zur kindlichen Entfremdung passiert: Gardner produzierte – vor allem in seinem eigenen, eigens dafür gegründeten Verlag – festmeterweise Bücher und Artikel zu seiner Theorie. Er meldete sich, wo er nur konnte, mit steilen Behauptungen in Missbrauchsfällen zu Wort. Und bald galt er als „der Experte“ in Sachen Kindesmisshandlung.
Hat sich jemand die Mühe gemacht, Gardners Bücher zu lesen?
Zumindest was Deutschland angeht, glaube ich das nur zum Teil. Zwar wehrte sich die universitäre Kinder- und Jugendpsychiatrie gegen die angebliche Diagnose (der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Jörg Fegert, bezeichnete PAS als „Parental Accusation Syndrome“, also elterliches Beschuldigungssyndrom, weil es in Sorgerechtsfragen so oft als taktische Waffe zum Einsatz komme, um den anderen Elternteil vor Gericht zu belasten). Nicht wenige der in Sorgerechtsfällen involvierten PsychologInnen und JuristInnen aber übernahmen die Theorien dieses Mannes in den 1990er Jahren ohne jeden kritischen Kommentar – praktisch eins zu eins. Namhafte VertreterInnen der rund um die Familiengerichte angesiedelten Gutachterzunft legten gar ein Strategiepapier vor, wie das gesamte familiengerichtliche System in Deutschland für den „Kampf gegen PAS“ umzubauen sei. Die damals propagierte „konzertierte Aktion“ diskutierte auch, wie die “symbiotische Fesselung” des Kindes “aufzubrechen” sei. Dabei wird auch klargestellt, dass dabei letztendlich „vor dem Einsatz von Gewalt gegenüber dem Kind nicht zurückgeschreckt werden“ dürfe – schließlich drohe nicht nur der “Beziehungstod” des Kindes, sondern nicht weniger als die „Zerstörung der Bindungskultur“ unserer Gesellschaft.
Ich führe dies übrigens nicht an, um die AutorInnen dieser Thesen vorzuführen, denn ich nehme jetzt einfach mal an, dass sich der Eifer für Gardners Konstrukt dann mit fortschreitender Erfahrung mit dieser Schablone rasch gelegt hat – so wie ich überhaupt generell niemandem einen Vorwurf mache, wenn er/sie mal auf dem falschen Pferd zu sitzen kommt und dann irgendwann absteigt und sagt: das läuft nicht gut.
Der faule Kern blieb unbeachtet
Ich führe diese unkritischen Positionen deshalb an, weil sie mir zeigen, wie leicht es passieren konnte, dass der faule Kern der PAS-Theorie lange Zeit gar nicht auffiel. Nämlich dass hier kein Instrument zur Lösung von Konflikten im Sinne des Kindes präsentiert wurde, sondern eine Schablone aus Versatzstücken einer längst widerlegten „genetischen“ Bindungstheorie, eingewoben in ein geradezu boshaftes, abfälliges Frauen- und Kinderbild.
Und auch hier überschneiden sich Winterhoff und Gardner: Beide Theorien SIND attraktiv, weil sie an tatsächlichen Problemen ansetzen – und dafür eine simple Antwort bereithalten. Bei Winterhoff war es die „Führungsfrage“, die Frage nach der elterlichen Autorität, wenn man so will. Und ja, das IST für Eltern ein riesiges Thema, und für die ExpertInnen auch. Und bei Gardner war es das oft schwer zu ordnende Beziehungschaos nach Trennungen der Eltern. Und ja, auch das IST ein riesen Thema. Und dass darin auch Entfremdungsprozesse verschiedenster Ursachen eine Rolle spielen, ist sonnenklar.
Nur, mit ihren Theorien lieferten beide „Experten“ eben gleich den Pferdefuß mit: nämlich dass ihre weit reichenden, pauschalen Theorien vermeintlich ALLES erklären – in Wirklichkeit aber GAR nichts erklären, weil sie Schablonen sind, die der komplexen, individuellen und von Bedürfniskonflikten geprägten Wirklichkeit nicht gerecht werden. Und was dann passiert, haben wir gesehen: Dann grassieren auf einmal die Diagnosen von wegen “frühkindlicher Narzissmus”, „zu enger“ Bindung, „Bindungsintoleranz“ oder eben PAS – eben WEIL das die Diagnosen du jour sind. Und bei manchen ExpertInnen und GutachterInnen gar die einzigen Pfeile im Köcher. Aber der Vorwurf einer „zu engen Bindung“ ist schnell gemacht – die Folgen dann kaum mehr einzufangen. Dasselbe mit der „Bindungsintoleranz“.
Und genau das ist deshalb das vergiftete Erbe von Winterhoff und von Gardner gleichermaßen: dass sie eine delikate Landschaft mit one-size-fits-all Erklärungen – und dem dazu gehörenden überholten Beziehungsbild – geflutet haben. Mit klaren Zuschreibungen von Schuld auch. Und wie die hier gesammelten Falldokumentationen zeigen, erleiden viele Eltern, darunter vor allem Mütter – und alleinerziehende Mütter im Besonderen – dadurch oft unglaubliches Leid. Wie viele JugendamtsmitarbeiterInnen haben sich über Winterhoffs Theorien über die Mutter-Kind-Symbiose “fortgebildet”, selbst JA-MitarbeiterInnen schütteln ja manchmal den Kopf wenn sie sehen, welche abstrusen „Fälle“ daraus dann von den entsprechenden KollegInnen konstruiert werden. Wie viele Verfahrensbeistände, psychologische GutachterInnen, aber auch FamilienrichterInnen (und neuerdings auch PolitikerInnen) sind mit der PAS-Schablone „fortgebildet“ worden – und zwar ohne auch nur den Hauch von Informationen zu bekommen, was daran das Problem sein könnte.
Bleib informiert: Teil 4 unserer Recherche kommt bald!
Das habe ich in dieser Reportage getan. Sie wird im neuen Jahr mit dem vierten Teil zuende gehen, in dem ich noch einmal auf das Problem der „Entfremdung“ von einem Elternteil nach Trennungen eingehe – aus Sicht des heutigen Verständnisses des kindlichen Bindungssystems.
Und bei diesem Ausblick will mich ganz herzlich bei den vielen SpenderInnen bedanken, die diese Arbeit unterstützt haben, und weiter unterstützen. Ihr seid großartig, für mich bedeutet dieser Zuspruch viel.
Alles Gute zum Jahreswechsel wünscht
Herbert Renz-Polster
Diese Recherche hat unglaublich viel Zeit gekostet, und Geld für die zu sichtende Original-Literatur dazu. (Ich habe mich mit diesem Projekt mehrfach an Investigativ-Portale, auch öffentlich-rechtliche, gewendet, die Resonanz war ehrlich gesagt bescheiden). Wir haben deshalb diesen Spendenbanner eingerichtet, so kannst Du unsere Arbeit unterstützen.
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b.lucke
100000mal Dank für Ihre genaue und gescheite Arbeit, solange es solche wie wie Sie gibt, haben wir gesellschaftlich gesehen trotz allem Hoffnung…
Kerstin
Unglaublich. Das ist so wild… dass man denkt, das kann doch gar nicht echt sein.
Tausend Dank für Ihre Aufklärung (und bitte lassen Sie sich nicht von einigen echt seltsamen Kommentaren dazu davon abbringen)!
Anonym
Tatsächlich ist mir zufällig gestern folgendes Untergekommen:
Zitat: „Leider hat sich in den letzten Jahren um die Inobhutnahme von Kindern eine regelrechte Industrie entwickelt, die eines ständigen Nachschubs an Kindern bedarf. Die Anzahl der Inobhutnahmen ist seit 1995 von 23.432 Kindern bis 2018 auf 52.590 Kinder bzw. um 124% gestiegen. Bis 2019 haben sich die Ausgaben dafür von ca. 15 Milliarden Euro (1995) auf 50,6 Milliarden Euro vervielfacht. In Extremfällen musste sogar die „übermäßige Liebe der Mutter“ als Entzugsgrund herhalten.“
Die Quelle lasse ich außen vor.
Anonym
Die Quelle ist aus dem Wahlprogramm der AFD aus 2021, was Sie sicher dazu bewegt hat, sie nicht zu nennen.