Beratungsfrage14. Mai 2024

Heikle Esser – Hilfe mein Kind isst nur Nudeln!

Weil die Fragen rund ums Essen so häufig sind, behandle ich diesmal gleich zwei Fälle – auch weil wir dadurch einiges besser klar kriegen werden 😉

Fall 1

Unsere Elvira ist jetzt 3, und sie isst im Grunde kein Gemüse – dabei hat sie das als Säugling immer gemocht! Es ging im zweiten Lebensjahr los, da wollte sie immer öfter Nudeln nur noch ohne Soße. Insbesondere Gemüse legt sie seither auf die Goldwaage, das meiste an Früchten auch. Wir sorgen uns um ihre Gesundheit, laut Kinderarzt gibt es aber nichts zu klagen. Auch ist sie ein echter Wirbelwind, mit viel Energie.

Fall 2

Mein Sohn Elvis ist 8 Jahre alt. Er ekelt sich seit ca. drei Jahren immer mehr vor Essen bzw. Nahrungsmitteln, hauptsächlich vor Obst und Gemüse in Hinblick auf Farbe, Konsistenz, Geschmack, Zubereitung, Geruch. Wir hatten gehofft, dass es nur eine Phase ist, aber es wird immer schlimmer, und er nimmt immer mehr an Gewicht ab, so dass wir dringend Hilfe benötigen. Zudem nässt Elvis noch immer ein, auch tagsüber.

Zwei „Essensfragen“ – mit sehr unterschiedlichen Antworten.

Praktisch alle kleinen Kinder gehen durch eine „heikle“ Essensphase – Elvira im ersten Fall ist ein geradezu klassisches Beispiel. Diese heikle Phase beginnt meist im zweiten Lebensjahr, kann extrem sein (0% Gemüse, kaum Obst), führt aber in aller Regel nicht zu Gewichts- und Wachstumsproblemen. (Und weil das zögerliche Essen den Eltern trotzdem den Schweiss auf die Stirn treibt, werde ich gleich noch mehr dazu sagen).

Der 8-jährige Elvis aus unserem zweiten Fall fällt klar aus diesem „normalen“ Muster heraus. Sein Problem hat erst mit 5 begonnen (da sehen viele Eltern der „normalen Gemüseverweigerer“ schon das erste Licht am Ende des Tunnels) – und wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Und: das Kind wird davon offenbar krank – es kommt zu einer krankhaften Gewichtsabnahme. Typisch auch, dass das Kind nur Nahrungsmittel mit einer ganz eng definierten sensorische Beschaffenheit akzeptiert – hier etwa Farbe, Geruch und Zubereitung – und diese Kriterien werden oft immer enger.

Hier sollte auf jeden Fall eine weitere Diagnostik erfolgen um insbesondere ein sog. ARFID auszuschließen. ARFID steht für „Avoidant and Restrictive Food Intake Disorder“, zu deutsch „Störung mit Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme“ und ist sehr selten. Es handelt sich im Grunde um eine neuropsychiatrische Entwicklungsstörung mit einer ausgeprägten sensorischen Überempfindlichkeit. Da können Nahrungsmittel schlichtweg nicht gegessen werden, wenn sie nicht eine bestimmte äußere Erscheinung haben, einen bestimmten Geruch, Geschmack, Textur, Konsistenz, Farbe (oder Farbkombination), Zubereitung, ja, manchmal sogar auch eine bestimmte Temperatur. Oft liegen dabei gleichzeitig auch andere Entwicklungs-Auffälligkeiten vor, etwa Angst- und Zwangsstörungen, Lern- und Entwicklungsstörungen, ADHS oder Autismusspektrumsstörung. Die Behandlung ist komplex und bedarf der Begleitung duch Kinder- und Jugendpsychiater (neben der sichernden und wohlwollenden Begleitung durch die Eltern) 😉

Und damit zurück zu Elvira. Auch hier machen sich die Eltern Sorgen um das Gewicht, allerdings kann hier glücklicherweise Entwarnung gegeben werden. Denn typisch ist hier das: sie bleiben gesund und munter. Tatsächlich ist das wählerische Essverhalten des Kleinkindes („picky“ eating) nämlich ein ganz normales Durchgangsphänomen. Und zwar eines, das den Kindern evolutionär „einprogrammiert“ ist, und zwar aus sehr positiven Grund: Die jetzt sehr vorsichtige Wahl der Nahrungsmittel soll die Kleinen bei dem früher sehr gefährlichen Übergang vom „fremdbestimmten“ Essen in der Säuglingszeit zum „selbststimmten“ Essen in der Kleinkindzeit schützen! (Eine super spannende Geschichte übrigens, die ich in meinem Buch „Born to be wild!“ schildere).

Dieses Schutzverhalten aktiviert sich recht verlässlich im zweiten Lebensjahr. Jetzt müssen die Kleinkinder ja zum ersten Mal selbst entscheiden, was da hinter die Zahnreihe rutschen darf und was nicht! Und diese Entscheidung treffen sie mit großer Vorsicht: Alles was neu ist, wird abgelehnt, ja, regelrecht mit Angst markiert (Kinderärzte sprechen auch von „Neophobie“). Und: Alles was irgendwie bitter schmeckt, fällt ebenfalls der neuen Vorsicht zum Opfer. (Wobei Kleinkinder jetzt eine viel höhere Empfindlichkeit für Bitterstoffe entwickeln als Erwachsene – und zwar aus gutem Grund: Bitterstoffe stehen in der Natur nämlich für „Vorsicht, das könnte auch giftig sein“. Und gerade kleine Kinder mit ihrem rasch wachsenden Gehirn und ihrer ungeübten Leber müssen da besonders vorsichtig sein!)

Das Gute aber ist: die Kinder haben auch ein Gegenprogramm: Sie lernen allmählich, was vor Ort an sicheren Nahrungsquellen nutzbar ist. Sie lernen das, indem sie beobachten, „was die anderen vor Ort so machen“. Kurz, sie schauen, was ihre Bezugspersonen essen, und auch: wie es ihnen dabei geht. Das merken sie sich – und machen es dann irgendwann nach. Auf ihre vorsichtige Art eben. Herrscht Zwang und Druck am Tisch, dann speichern die Kinder ab: „das mit diesen Brokkoli ist offenbar eine stressige Sache, die hier niemand gut tut, da lasse ich lieber die Finger von“. Viel leichter fällt das Lernen, wo die Stimmung gut ist und die Kinder ihrem eigenen Tempo folgen dürfen.

Ganz grob kann man sagen:

  • die Kleinen müssen 8 bis 15 mal beobachten, dass ein bestimmtes Nahrungsmittel bei den ihnen vertrauten Menschen Anklang findet
  • Druck, Zwang oder Sorgen blockieren den Erforschungtrieb
  • Gute Stimmung, mitmachen dürfen und entspannt sein dagegen ermutigen.

Noch Fragen? Bestimmt. Verständlich, denn das Essen-Lernen ist ein super spannendes Abenteuer. Jedes Kind wird in eine andere Nahrungs-Umwelt geboren und muss sich selbst einen Reim daraus machen, was ihm wohl gut tut. Ich bespreche diesen „Reim“, und wie wir als Eltern am besten damit umgehen können, auf meinem Blog.

Und natürlich in meinem Buch „Kinder verstehen – Born to be wild! Wie die Evolution unsere Kinder prägt“.

Dieser Beitrag beruht auf dem Buch des Kinderarztes und Wissenschaftlers Dr. Herbert Renz-Polster: „Kinder verstehen. Born to be wild - wie die Evolution unsere Kinder prägt". Es beschreibt die Entwicklung der Kinder aus dem Blickwinkel der evolutionären Verhaltensforschung.
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5 Kommentare

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  • Monika K.

    – Mir hatte einmal eine Kinderärztin gesagt, ein neues Essen auftischen dauert 30 mal, sich daran zu gewöhnen.
    – Ich bin Nachkriegskind und kann die heutigen Wohlstandsprobleme nur schwer verstehen. Damals hatte uns meine Mutter bei einem neuen Essen gesagt: Wenigstens einen Löffel probieren, ohne Druck, aber als Hilfe gesagt, sich daran gewöhnen zu können. Dafür bin ich ihr heute noch dankbar, weil mir alles gut schmeckt.

    • Lena

      es schmeckt Ihnen ja nicht alles gut, weil Sie alles probieren müssten.
      das picky eating als Wohlstandsproblem zu bezeichnen, zeigt, dass Sie den Inhalt des Artikels nicht verstanden haben.
      dass einem Menschen alles gut schmeckt ist keine Eigenschaft, die einen irgendwie besonders macht oder die erstrebenswert ist.

      • Monika K.

        Schade, dass Sie meine Worte nicht verstehen. Es geht halt auch gegen die heutige Methode, dass Kinder schon alles selbst bestimmen und entscheiden sollen, dürfen, könnten. Das können sie aber nicht, bevor sie nicht wissen, wie es schmeckt, beim Anziehen, wie das Wetter ist, und andere Komponenten nicht übersehen können. Eltern und Erwachsene können Vorbild sein, Orientierungshilfe, die Kinder behutsam führen, so wie beim Fahrradfahren-Lernen: Vor der Straße bitte halten usw. Kinder sind noch lange keine Erwachsenen.

        • Monika K.

          Ergänzung: Fähigkeiten machen Selbstbewusstsein, nicht überfordernde Kleinkind-Entscheidungen. In kleinen Schritten zum Erfolg führen, begleiten, altersgerecht.

        • Nika

          Man kann ja debattieren. Über Erziehung, bzw. Nichterziehung, über Grenzensetzen/Grenzenwahren. Und es gibt nicht den einen richtigen Weg, sondern lediglich eine gute Richtung.
          Aber in diesem Beitrag geht es um heikle Esser und da gibt es eine ganz klare Antwort! Zumindest in Fall 1 heißt diese:
          Kinder sind so! Von der Natur so gestrickt. Keiner hat etwas falsch gemacht, das Kind ist nicht kaputt und wird keine Schäden davontragen. Also kein Problem und kein Grund dagegen anzukämpfen, nicht mit „iss deinen Teller auf!“, und auch nicht, scheinbar drucklos, mit „bitte probier doch wenigstens..“
          Ich muss einen Känguruhoden auch nicht erst probieren, um zu wissen, dass ich ihn zu 1000% absolut nicht essen will!
          Gewöhnung geht anders (s. Text).
          Und nein, Kinder sind noch lange keine Erwachsenen. Und nicht jeder Erwachsene ist ein angesehener Kinderarzt und Wissenschaftler, der uns immer wieder aktuelle Forschungsergebnisse liefert und uns mit seinem fundierten, anthropologischen Wissen schon mehr als einmal beruhigen konnte. Vielen Dank dafür, HRP!
          Zu behaupten, es sei ein Wohlstandsproblem (wessen Problem auch immer und warum auch immer Wohlstand, ich habe es leider auch nicht verstanden), ist schlichtweg Käse und geht mir persönlich zu sehr in Richtung Trotz, Verwöhnung und Undankbar-Sein. Alles Vorurteile also, mit denen dieser Blog unermüdlich versucht aufzuräumen!

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