Resilienz: Spannendes Konzept mit vielen offenen Fragen

Dass wir Krisen und Unvorhergesehenes bewältigen müssen, ist Teil des menschlichen Durcheinanders. Im Grunde legen wir Menschen es ja darauf an, immer neue Lebensumstände zu schaffen und müssen uns deshalb immer wieder neuen Herausforderungen stellen. Kein Wunder gehört die Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen, zum tragenden Teil der menschlichen Persönlichkeit und ist eines der wichtigsten Leitthemen der kindlichen Entwicklung.
Leider hat sich das vor über 50 Jahren geprägte Resilienz-Konzept nur wenig weiterentwickelt. Um für die Begleitung der heutigen Kinder und Jugendlichen relevant zu werden, müssen einige Fragen dringend beantwortet werden.
Das Fundament der kindlichen Entwicklung
Die Entwicklungspsychologie beschreibt die fundamentalen Kompetenzen, die ein Kind braucht, um für eine wandelbare Zukunft gerüstet zu sein:
- das Kind muss lernen, mit sich selbst klar zu kommen. Dazu muss es seine eigene Gefühlswelt kennen lernen, seine Impulse und Emotionen in den Griff bekommen und generell lernen, sein Verhalten adäquat und zielgerecht zu steuern (Aufbau von Selbstkontrolle und exekutiver Funktionen)
- das Kind muss aber auch lernen, mit anderen Menschen klar zu kommen und als Gruppe gut zu funktionieren (Aufbau sozialer Kompetenz). Als Voraussetzung hierzu muss es eine “Theorie des Geistes” bilden, also lernen, sich in die Gedanken, Gefühle und Werte der anderen hinein zu versetzen und die Welt auch aus deren Perspektive zu sehen, zu begreifen und zu bewerten (und das nach und nach auch in moralischer Hinsicht).
- zudem muss das Kind lernen schöpferisch zu denken und zu handeln – also nicht nur kopieren, was schon da ist und was die anderen machen, sondern immer auch das Bestehende verändern und zu Neuem formen (Aufbau von Kreativität).
- und schließlich müssen Kinder innere Stärke aufbauen – also eine Art Rückgrat, das ihnen hilft, auch bei Gegenwind zu funktionieren, sich durch Widerstände nicht entmutigen zu lassen und Wunden, die auf dem Weg entstehen, heilen zu können. Diese Fähigkeit im Angesicht von Widrigkeit bestehen zu können wird auch als Resilienz
Alle diese Kompetenzen sind Grundlagen der menschlichen Persönlichkeitsentwicklung – sie können auch als Fundamentalkompetenzen der menschlichen Entwicklung betrachtet werden.

Forschungsthema Resilienz
Im deutschsprachigen Raum wird häufig die Begriffsbestimmung von Wustmann zitiert, nach der Resilienz “die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken“ beschreibt.
In der internationalen Resilienzliteratur spricht man auch von „adaptive development” oder „positive adjustment“. Damit wird klar, dass Resilienz keine passive Eigenschaft ist, sondern die Fähigkeit, „eine positive Entwicklung unter ungünstigen Lebensumständen“ einzuleiten.Als Pionierin der Resilienzforschung gilt Emmy Werner, die mit ihrem Team den gesamten Geburtsjahrgang 1955 der Insel Kauai im Pazifik – etwa 700 Kinder – über 40 Jahre lang beobachtet hat. Fast 30 Prozent von ihnen wurden als Hoch-Risiko-Gruppe klassifiziert, weil sie mindestens 4 Entwicklungsrisiken ausgesetzt waren, wie etwa chronische Armut, geburtsbedingte Komplikationen, familiäre Notlagen, geringes Bildungsniveau der Eltern, dauerhafte Disharmonie oder psychische Erkrankungen der Eltern. Von diesen „Verletztlichsten“ entwickelten sich immerhin ein Drittel zu „kompetenten, selbstsicheren und fürsorglichen Erwachsenen“.
Die Kinder, die sich ‚trotz allem‘ positiv entwickelten, zeichneten sich durch die unterschiedlichsten Bewältigungs- und Schutzfaktoren aus. Sie hatten einen stabileren Familienzusammenhalt und bekamen schon als Säuglinge mehr Zuwendung und Bestärkung. Die Kinder waren eher pflegeleicht, weinten weniger und lächelten mehr. Im Kindesalter konnten diese Kinder leichter Kontakte knüpfen und hatten ein positives Selbstbild. Ihre schulische Leistungen waren im Vergleich zu den anderen Hochrisikokindern besser. Im Kindes- und Jugendalter hatten die widerstandsfähigen Kinder mehr soziale Kontakte. Vor allem aber hatten sie mindestens eine Bezugsperson, die verlässlich für sie da war und sich fürsorglich und liebevoll um sie gekümmert hat. Dies waren beispielsweise ältere Geschwister, eine Nachbarin oder ein Nachbar, eine Erzieherin oder ein Erzieher oder eine Lehrerin oder ein Lehrer.
In Deutschland sind die bekanntesten Längsschnittstudien zur Resilienzentwicklung bei Kindern bzw. Jugendlichen die Mannheimer Risikokinderstudie durch Laucht et. al (2001) und die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie durch Lösel et al. (1999).
Beide Studien stützen im Wesentlichen die Ergebnisse der Kauai Studie. Weitere Studien brachten neue Resilienzfaktoren ins Spiel (etwa die körperliche Attraktivität), überraschten mit Widerspruch (manche Studien sehen Erstgeborene als resilienter an, andere sehen keinen Einfluss der Geburtenfolge) oder bestätigten Vorbefunde (so zeigt sich in aller Regel das weibliche Geschlecht als ein Schutzfaktor). Eine gängige Übersicht über die “Resilienzfaktoren” zeigt Tabelle 1.
Tabelle 1: In der Literatur häufig genannte Resilienzfaktoren (nach Straßburg 2018)
Überschneidung mit dem Konzept der Salutogenese
Wegen der engen Verbindung zwischen gelungener Entwicklung und Gesundheit befasst sich die Resilienzforschung implizit oder explizit auch mit der Frage, wodurch Menschen ihre Fähigkeit zu einem Leben in Gesundheit erlangen. Damit überschneidet sich ihre Fragestellung zum Teil mit dem sehr ähnlichen Ansatz der Salutogeneseforschung (man kann den Begriff Salutogenese mit ‚Gesundheitsentstehung‘ beschreiben und ihn als Komplementärbegriff zur ‘Pathogenese’, also zur Krankheitsentstehung, auffassen). Das Konzept der Salutogenese wurde von dem israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky entwickelt, der in den 1970er Jahren den seelischen und körperlichen Gesundheitszustand von weiblichen KZ-Überlebenden mit Kontrollgruppen verglich.
Sein überraschendes Ergebnis war, dass ungefähr ein Drittel der Frauen keine langfristigen körperlichen oder seelischen gesundheitlichen Schäden aufwiesen (verglichen mit etwas mehr über 50 % in seinen Kontrollgruppen). Nach seiner Analyse zeichnen sich im salutogenetischen Sinne “resiliente” Menschen durch ein Gefühl von Kohärenz aus. Darunter versteht Antonovsky eine Grundhaltung, die es einem Menschen erlaubt, die Welt als zusammenhängend und sinnvoll zu erleben. Diese Grundhaltung stellt sich nach seinen Analysen dann ein, wenn ein Mensch in Lebenszusammenhängen lebt, die ihm verstehbar sind, die er handhaben und bewältigen kann und in denen er sich als bedeutsam erlebt.Im Grunde hat die Resilienzforschung den Ressorcenansatz der Salutogenese aufgegriffen, auf die Entwicklungsdynamik übertragen und durch die Frage ergänzt, wie genau eine positive Anpassung oder Bewältigung von widrigen Einflüssen gelingen kann.
Die Unschärfen des Resilienzbegriffs
Trotz solch übersichtlicher Listen wie in Tabelle 1 dargestellt bleibt die Resilienzforschung ein unübersichtliches Feld. Nicht nur sind viele der zu “Resilienzfaktoren” erklärten Determinanten subjektiv, situationsabhängig und überaus schwer zu messen (etwa das “positive Selbstwertgefühl”). Oft bleibt auch ungeklärt, ob es sich dabei um Ursachen oder um Folgen der untersuchten Entwicklungsverläufe handelt: ist ein “pflegeleichter” Säugling oder das “positive Selbstwertgefühl” nun Ursache oder Folge günstiger Entwicklungsbedingungen? Ist gute bis überdurchschnittliche Intelligenz Voraussetzung oder Auswirkung eines “resilienten” Entwicklungsweges?
Auch scheint die Resilienzentwicklung teils an Faktoren zu hängen, von denen wir nicht so gerne reden. Wie viel soziale Resonanz ein Kind bekommt (und auch, ob es etwa eine förderliche Beziehung zu Erwachsenen außerhalb des Elternhauses knüpfen kann), hängt – das lässt sich klar zeigen – auch von seiner äußeren Attraktivität ab: hübsch zu sein ist nun einmal eine der Eintrittskarten ins Miteinander, auch wenn uns das gegen den Strich geht. Dasselbe mit der „inneren“ Attraktivität: ein Kind mit eher angenehmen Persönlichkeitszügen (das also gesellig, gewissenhaft, verträglich und nicht allzu introvertiert ist) findet leichter in unterstützende Beziehungen als ein verschlossenes, „schwieriges“ und emotional labiles Kind.

Wo liegt der „Flaschenhals“ der Resilienzentwicklung?
Bei anderen Faktoren steht die Frage der Kulturabhängigkeit im Raum: Ein Kind, das sich einmal als Straßenverkäufer im Ghetto durchschlagen muss, wird Widrigkeiten mithilfe anderer Unterstützungsfaktoren meistern als ein Kind aus dem deutschen Wirtschaftsadel. Und bei einem Kind, das in einem reichhaltigen Bindungsnetz mit vielfältiger sozialer Unterstützung aufwächst, dürfte der Flaschenhals der Resilienzentwicklung woanders liegen als bei einem Kind, dem es an positiven Bindungserfahrungen mangelt.
Insofern ist auch ein kritischer Blick auf die aus der Kauai-Studie abgeleiteten Grundannahmen zur Resilienzentwicklung durchaus angebracht. Denn noch jeder Text, der heute über die Resilienzentwicklung der Kinder geschrieben wird, landet bei dem immer gleichen Mantra: zentral für die Resilienzentwicklung sei eine unterstützende Bindungsperson außerhalb des Elternhauses. Das mag weiterhin stimmen, nur: Die meisten Kinder hier und heute wachsen eben nicht im Slum mit alkoholabhängigen Eltern auf, sondern in stabilen Bindungssystemen. Damit steht zumindest die Frage im Raum, ob diese Kinder für ihre Entwicklung nicht andere oder zusätzliche „Resilienzfaktoren“ brauchen als die von Emmy Werner beschriebenen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht wäre hier etwa zu fragen, ob der Flaschenhals der Resilienzentwicklung heute nicht viel stärker bei Faktoren liegt, die im Zuge der veränderten Kindheiten unter Druck geraten sind – etwa das Erlernen von Selbstregulation und emotionaler Kontrolle, oder auch dem eigenständigen und von Kindern selbst ausgehandelten Spiel.
Auch bleibt die Gewichtung der Resilienzfaktoren eine offene Frage. Für den Lebenserfolg in Deutschland dürfte in vielen Milieus der richtige Nachname (etwa Eleonore Prinz-Wohlfahrt statt Kevin El-Mouhammidi) wichtiger sein als zum Beispiel Klugheit und Intelligenz. Tatsächlich wäre Resilienz der erste Schutz- und Erfolgsfaktor, der nicht auch sozial tradiert würde und abhängig von weiteren sozialen Einflüssen wäre.

Resilienz entsteht in den Lebenswelten der Kinder
Gerade die soziale Komponente wird manchmal vergessen. Der Entwicklungserfolg eines Kindes hängt nun einmal nicht nun an einer ‚resilienten Persönlichkeit ‘ sondern auch an einer ‚resilienten sozialen Umwelt ‘ – erstere entsteht ja nur im Wechselspiel mit letzterer. Ob ein Kind etwa entwicklungsförderliche Erfahrungen in der Schule macht, hängt nicht nur vom Kind, sondern auch ganz stark von der Schule ab. Und hier darf die Frage dann schon die sein: Wie gut sind eigentlich unsere auf Konkurrenz und Auslese ausgerichteten Bildungseinrichtungen in der Förderung von Resilienz?
Insofern gibt es auf der Landkarte der Resilienzforschung nach wie vor nicht wenige weiße Flecken. So sind die Auswirkungen einiger wichtiger und oben bereits angesprochener Entwicklungseinflüsse bisher kaum systematisch im Hinblick auf ihre stärkende, resilienzfördernde Wirkung untersucht. Das gilt etwa für die Qualität der Bildungsinstitutionen (von Krippe über Kita bis Schule), oder auch für die Auswirkungen des kindlichen Spiels oder die Zusammensetzung der Kindergruppen. Was bedeutet etwa eine Sozialisation in gleichaltrigen versus gemischtaltrigen Kindergruppen für die Resilienzentwicklung? Und was ist überhaupt der Beitrag des freien, von Kindern selbst verantworteten Spiels? Es gibt wichtige Hinweise, dass es der Resilienzentwicklung ganz entscheidende Impulse geben kann.
Der Forschungsstand zur Resilienz lässt sich deshalb am besten so zusammenfassen: Das Resilienz-Konzept ist attraktiv, stützt sich aber in weiten Teilen auf Studien aus Settings, die für die meisten Kinder heute nicht repräsentativ sind. Und: Wir müssen insbesondere besser verstehen, wie die Bildungseinrichtungen zur Resilienzentwicklung beitragen können und welche Rolle den aus den heutigen Kindheiten stark verdrängten Erfahrungen, wie etwa dem selbstständigen Spiel, zukommen.

Das Besondere an unserem Shop: Du kannst Dir das bestellte Buch auch signieren lassen, auch mit einem bestimmten Widmungstext – zum Beispiel für Freunde, die sich über ein persönliches Exemplar deines Lieblingsbuches bestimmt freuen werden.
3 Kommentare

Monika Kindler
“Das Fundament der kindlichen Entwicklung” – all die aufgeführten Punkte sind wichtige Ziele besonders in der heutigen Zeit. (Früher hat sich das alles von allein entwickelt, heute muss man diese Ziele im Auge halten und zusammen mit dem Kind erarbeiten, mit diesem Artikel wird das sehr erleichtert!) Vielen DANK!
Maria
Nicole Strübners Buch “Risiko Kindheit. Die Entwicklung des Gehirns verstehen und Resilienz fördern” bietet einige Hintergrund Informationen zum Zusammenhang Oxytocin und Resilienz. Ebenfalls empfehlenswert ist ihr neues Buch “Das soziale Gehirn, warum wir mehr Miteinander brauchen”. Ich finde es bemerkenswert, wie sehr sie dafür plädiert, dass Kinder mehr Körperkontakt brauchen, in Krippe, Kita und Schule!!
Welli
Eine gewisse Not ist aus meiner Sicht hilfreich.
Damit meine ich beispielsweise Anstrengungen wie die Bewältigung eines unannehmlichen Schulweges (kalt, weit, dunkel, müde) oder Entbehrungen, wie auch mal ein paar Stunden (auf Essen o.ä.) warten, verzichten, Schmerz oder Unlust aushalten.
Im Umfeld ist zu beobachten, dass sich diese Kinder als zufriedener, dankbarer und resilienter erweisen.