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Reportage22. April 2025

Lasst uns zur Besinnung kommen!

Die wahren Hintergründe des Parental Alienation Syndroms - Teil IV

In diesem vierten und vorletzten Teil unserer großen Übersichtsarbeit zum „Parental Alienation Syndrome“ (PAS) geht es um eine Zusammenfassung und einen Ausblick. Ich zeige noch einmal, warum diese angebliche „Diagnose“ so anfällig für eine missbräuchliche Verwendung in strittigen Sorgerechtsfällen ist, warum sie den Schutz von Frauen und Kindern im Falle von Beziehungsgewalt so oft unterläuft, und vor allem: warum PAS und die daran angehängten Konzepte von „Eltern-Kind-Entfremdung“, „Bindungsintoleranz“ oder „Mutter-Kind-Symbiose“ aus Sicht der heutigen Bindungsforschung nicht haltbar sind.

+++ Die Teile 1 bis 3 dieser Recherche sind hier verfügbar +++

Nach dem jetzt folgenden Teil IV werden wir nächste Woche noch eine Zusammenfassung einstellen (Teil V). Wir werden das ganze Werk dann auch in einem eBook zusammenfassen, damit Ihr am Schluss alles en bloque herunterladen könnt.

Manchmal verzweifle ich regelrecht daran, wie wenig noch immer bekannt ist, welches Unrecht und Leid im Namen der hier aufzuarbeitenden Theorie angerichtet wurde und weiter wird. „Entfremdung“, „Bindungsintoleranz“, PAS oder EKE – der Vorwurf ist schnell gemacht. In der Praxis bekomme ich dann das mit:

Eltern haben sich getrennt, der Vater klagt nun vor dem Familiengericht, dass die Mutter das gemeinsame 3-jährige Kind von ihm „entfremde“, weil dieses nachts bei ihr im Bett schlafe. Das deute auf eine zu enge Bindung hin, das sehe auch der Kinderarzt so.

WHAT?

Oder:

Ein 18 Monate altes Baby. Die Eltern haben sich nach der Geburt getrennt, teilen auf Anordnung des Familiengerichts das Sorgerecht. Jetzt behauptet der Vater, der keinerlei Erfahrung mit kleinen Kindern hat, die Mutter stille das Kind „zu oft“. Und die Umgangspflegerin notiert: Das Stillverhalten sei in der Tat fragwürdig – weil die Mutter während eines Termins dem Kind zwei Mal die Brust gab.

WHAT?

Der faule Kern der Theorie

Ich will deshalb in diesem letzten Beitrag ganz bewusst die Grundannahmen dieser Ideologie untersuchen, ihr Beziehungs- und Familienbild. In aller Ausführlichkeit, die man mir nachsehen möge (sie war mit ein Grund, warum dieser 4. Teil so lange auf sich warten ließ, ich danke für die Geduld!).

Denn wenn man sich mit der von Dr. Richard Gardner begründeten PAS-Theorie beschäftigt, wird vor allem klar, wie konstruiert und falsch ihre grundlegenden Annahmen sind: Die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern spiegle keine gewachsene, sondern eine gesetzte Verbindung wieder, eine genetische Konstante. Sie sei für die gesunde Entwicklung des Kindes so wichtig, dass alles andere, das war Gardner sehr wichtig, relativ sei. Eben auch Gewalt und sexueller Missbrauch.

Ja, mehr noch: Weil das Kind immer Mutter UND Vater bräuchte, um sich adäquat zu entwickeln, würden Kinder grundsätzlich Mutter und Vater gleichermaßen lieben. Bevorzuge ein Kind also einseitig ein Elternteil, so läge nahe, dass es manipuliert würde.

Wie in den vorangegangenen Teilen dargelegt, bin ich nach eingehendem Studium des Werkes von Richard Gardner fest davon überzeugt, dass die PAS-Theorie nur verstanden werden kann, wenn man Gardners Ziel und Arbeitsumfeld mitdenkt. Denn Gardner hat seine Theorie weder anhand von wissenschaftlichen Studien noch überhaupt anhand der typischen Realität von strittigen Sorgerechtsfällen entwickelt. Vielmehr entwickelte er sein Werk größtenteils als Gutachter für Väter, die des sexuellen Missbrauchs an den eigenen Kindern beschuldigt waren. Damit verdiente er sein Geld, diese Arbeit war sein Leben. Und Gardner war auch nicht nur ein einfacher klinisch tätiger familienpsychologischer Gutachter. Er war in seinen Schriften immer auch mit dem Ziel unterwegs, Verständnis für Inzest als eine angeblich normale und evolutionsbiologisch vorteilhafte sexuelle Veranlagung zu schaffen. (Mit dieser Feststellung liegt es mir übrigens absolut fern, VerfechterInnen des Entfremdungsparadigmas in irgendeiner Weise mit Missbrauch, Gewalt oder Pädophilie in Verbindung zu bringen, noch unterstelle ich der Person Dr. Gardner irgendwelche pädophilen Neigungen oder gar Handlungen, ich hoffe ich bin hier deutlich).

Aber: Nur wenn man Gardners Werke durch diese „Linse“ liest, wird klar, warum seine Theorie genau so aussieht und nicht anders. Warum er die Liebe zum Vater als unverhandelbar entwicklungsbedeutsam beschrieb – ungeachtet der Realität der gelebten Beziehung zwischen Vater und Kind. Auch warum die „Diagnose“ einer „Entfremdung“ so breit, so vage und interpretationsoffen ist, dass sie in so vielen Fällen passt (Gardners Erfolge für seine Klienten waren offenbar so überzeugend, dass er schließlich in 25 US-amerikanischen Bundesstaaten akkreditiert war).

Um es kurz zu sagen: In Gardners Werk geht es nicht um die Kinder. Es geht um den Vater. Um seine Rechte am Kind. Und wie er diese gegen die Mutter behaupten kann.

Das Kind selbst kommt in Gardners Schriften vor allem als ein manipulatives, von unterdrücktem sexuellem Verlangen auf den Vater gekennzeichnetes Wesen vor. Mütter? Für sie findet er kein gutes Wort. Mütter, die ein Problem damit haben, dass ihr Mann seine naturgegebenen pädophilen Anlagen auslebt, werden voller Spott als „hysterisch“ bezeichnet. Ihnen empfiehlt Gardner Masturbation – durch die dadurch »erhöhte Sexualität« müsse der Vater sich nicht so oft zu seiner sexuellen Befriedigung an seine Tochter wenden (siehe Teil III unserer Serie).

Die Grundannahmen der PAS-Theorie wurden in Deutschland von wichtigen Akteuren im familienrechtlichen Gutachtersystem übernommen. Mit Bezug auf diese Theorie sollte gar eine „konzertierte Aktion“ gestartet werden, um das gesamte familiengerichtliche System in Deutschland für den „Kampf gegen PAS“ umzubauen. Und in Teilen ist das auch passiert. Denn nach dem PAS-Konstrukt wurden über zwei Jahrzehnte lang Jugendamtpersonal, GutachterInnen an Familiengerichten, Verfahrensbeistände und auch FamilienrichterInnen und PolitikerInnen „geschult“ und fortgebildet. Die grundlegenden Annahmen Gardners – etwa die einer „gesetzten“, und per se entwicklungsentscheidenden Beziehung des Kindes zu beiden Elternteilen – wurden auch in Nachfolge-Konstrukten von „Eltern-Kind-Entfremdung“ und „Bindungsintoleranz“ nie wirklich hinterfragt.

Dass in diesen Kreisen eine Distanzierung von dem Werk und Familienbild Richard Gardners unterblieben ist, finde ich, gelinde gesagt, befremdlich.

Denn die von Gardner aufgestellten grundlegenden Annahmen, das haben die bisherigen Teile dieser Recherche gezeigt, werden bis heute benutzt, um vor allem Müttern im Sorgerechtsstreit Erziehungsunfähigkeit zu unterstellen. Sie werden bis heute benutzt, um Gewalt-Vorwürfe der Mütter zu diskreditieren — aktuell in einem großen Hörspiel-Feature beim Deutschlandfunk noch einmal zusammengefasst.  Diese Annahmen sind es auch, aufgrund derer Kinder aus intakten sozialen Verhältnissen gegen ihren Willen, teils mit Gewalt, zum Vater umplatziert oder in Heime verbracht wurden und werden. Und es sind genau diese Annahmen, die bis heute als ideologischer Grundpfeiler der rückwärtsgewandten Teile der sogenannten „Väterrechtsbewegung“ fungieren (zu der ich in Teil 5 noch etwas sagen werde). Es sind diese Annahmen, nach denen in den letzten Jahrzehnten unzählige GutachterInnen, Verfahrensbeistände und JugendamtmitarbeiterInnen ausgebildet wurden. Und es sind diese Annahmen, die von einschlägigen Lobbygruppen auch in die Politik transportiert werden – auch als Grundlage für ein „neues Familienrecht“.  Und es sind genau diese Annahmen, mit denen immer wieder die Tür zu Nachtrennungsgewalt geöffnet wird, eben weil noch immer der Kontakt zu beiden Elternteilen absolut gesetzt wird – und dann der Kontakt zu einem gewaltbereiten Vater manchmal vor den gebotenen Gewaltschutz von Frauen gestellt wird.

Kurz, diese Annahmen bilden ein Machtmittel, das immer wieder benutzt wird, um Kinder und Mütter zu entrechten. Bis heute.

Dieses Machtmittel gilt es zu verstehen. Es verdankt seine scharfe Klinge tiefgreifenden Missverständnissen und Fehlentwicklungen, die ich im Folgenden, vor allem aus Sicht der modernen Bindungsforschung, kommentieren will (zwei der Kommentare sind in diesem Teil enthalten, zwei folgen in Teil V).


Lasst uns zur Besinnung kommen! – Vier Kommentare

Fehlannahme 1: Das Kindeswohl beruht auf einer paritätischen Bindung

Die PAS- bzw. die darauf aufbauenden Theorien von Eltern-Kind-Entfremdung basieren auf der Annahme, dass Kinder beide Elternteile lieben und beide Elternteile auch brauchen um sich gesund zu entwickeln. Und das gelte auch nach einer Trennung der Eltern – die seelische und körperliche Gesundheit des Kindes hänge jetzt davon ab, dass es weiter mit seinen beiden Eltern verbunden bliebe. Ursula Kodjoe und Peter Koeppel bringen die These so auf den Punkt:

„Kinder – auch Kinder mit PAS – lieben beide Eltern und wollen beide Eltern lieben dürfen. [Das sei] mittlerweile Allgemeinwissen“.

Nun ist es natürlich wunderbar, wenn Kinder zwei Elternteile haben, und noch wunderbarer, wenn sie beide lieben – und noch viel wunderbarer, wenn sie beide gleichermaßen lieben. Aber die pauschale Annahme, das sei a) eine immer geltende Regel oder b) eine biologisch gegebene Tatsache, oder c) stets die Voraussetzung für eine „gesunde psychische und physische Entwicklung“ – das ist aus bindungstheoretischer Sicht schlichtweg falsch.

Das ist, mit Verlaub, Bindungskitsch.

Kinder sind nicht einfach deshalb psychisch oder physisch „krank“, weil sie etwa nur von einem Elternteil aufgezogen werden. Und ob sie einen „Beziehungstod“ erleiden, wenn ein Elternteil die Familie verlässt, hängt davon ab, welche Rolle diese Beziehung im Leben des Kindes spielt, welche Art der Beziehung bestand, ob sie primär war oder „ferner liefen“, ob sie verlässlich war oder nicht, ob sie fördernd war oder verletzend, ob sie dem Kind Freude gemacht hat oder Stress, ob sie die Familie getragen hat oder nicht, und und und. Ein Kind, das vor der Trennung gut mit der eher beiläufigen Begleitung durch ein Elternteil zurechtkam, wird auch nach der Trennung der Eltern damit klarkommen. Jetzt auf einmal soll das Kind nur durch eine paritätisch aufgeteilte Begleitung gedeihen können?

Das ist Ideologie. Ein Kind, das de facto allein von einem Elternteil erzogen wurde solange Vater und Mutter zusammen lebten, wird nicht auf einmal nach deren Trennung sein „emotionales Grundbedürfnis nach einer von Liebe getragenen lebenslangen Beziehung zu beiden Elternteilen“ entdecken. Ja, das Kind wird vielleicht zurecht ablehnend reagieren, wenn jetzt nach der Trennung auf einmal ein bisher wenig engagiertes Elternteil die „Blut“-Karte spielt und sagt: Dieses Kind braucht aber für eine gesunde Entwicklung jetzt auch mich, und zwar zu gleichen Teilen.(Nicht missverstehen: Es ist wunderbar, wenn ein Elternteil auf einmal nach einer Trennung in seine Elternrolle hineinwachsen will, aber was das Kind stärkt, ist dann das, was er mit diesem Elternteil im alltägliches Miteinander erlebt).

Der in die Politik gut vernetzte Lobbyverein „Väteraufbruch“ formuliert es supersweet – entlang der genetischen Spur:

“Die einzige Konstante im Leben eines Kindes ist die Abstammung von seinen beiden Eltern. Zu diesen besteht in der Regel auch eine enge Bindung. Die genetische Abstammung prägt das Kind und seine Fähigkeiten.“

Ja, schon – das Kind ist genetisch von seinen Eltern geprägt. Für sein Wohlbefinden und seine Entwicklungsmöglichkeiten sind aber seine realen und alltäglichen Lebensumstände ganz entscheidend. Und die Bindung(en), die das Kind dort auch mit Menschen außerhalb seiner “genetischen Abstammung” unterhält und aufbaut, gehören dazu.

Und auch der jetzt gerne verwendete Hinweis auf Studien, nach denen Kinder in ihrer Entwicklung und Zufriedenheit besser fahren, wenn sie nach der Trennung Kontakt zu BEIDEN Elternteilen haben, führt in diesem Zusammenhang nicht weiter. Was ist denn anders zu erwarten? Dieser Kontaktstatus ist ja gleichzeitig ein Marker für eine insgesamt günstigere, konfliktfähige Familienkonstellation, mitsamt einer eher unterstützenden Beziehungsgeschichte. Und das belegt ja auch die Forschung: der Umgang des Kindes mit einem Elternteil klappt nach der Trennung umso besser, je tragfähige die Beziehung zwischen Elternteil und Kind schon vorher war.

Und umgekehrt: ob ein (zeitweiser) Kontaktabbruch zu einem Elternteil langfristige, auf die Entwicklung des Kindes nachteilige Auswirkungen hat, liegt nicht an dem Kontaktabbruch per se – sondern an einer ganzen Menge an Begleitfaktoren, darunter ganz prominent: wie stabil, verlässlich und bedeutsam die Beziehung schon vorher war. Gerade in einer stark konflikthaften oder gar von Gewalterfahrung belasteten Familienkonstellation kann ein Kontaktabbruch für das Kind auch ein Segen sein. Wieder: je nach individueller Situation, Bindungskonstellation und Beziehungsgeschichte.

Und damit ich nicht missverstanden werde, noch einmal: Natürlich profitieren Kinder davon, wenn sie mit Mutter *und* Vater zwei solide Steine in ihrem Bindungsbrett haben! Ich bin der Letzte, der dagegen argumentieren würde. Aber für ihre Entwicklung entscheidend ist die Qualität dieser Beziehungen und wie ihr Bindungsnetz insgesamt aufgestellt ist. Ein Elternteil, das ihm Sicherheit gibt, wiegt für ein Kind und seine Entwicklung eindeutig mehr als ein Elternteil, der dieses nicht tut.

Was für eine faule Annahme, Eltern seien allein durch ihren Status als Vater oder Mutter Garanten für die kindliche Entwicklung! Sie können das doch nur sein, wenn sie diesen Schuh auch füllen!

Tatsächlich können sich Kinder auch wunderbar bei nur einem Elternteil (oder auch Großelternteil oder Adoptivelternteil) entwickeln – wenn dabei ihre Bindungsbedürfnisse gut genug abgedeckt sind und die Bindungsübergänge nicht übermäßig belastend oder gar traumatisch verlaufen. Und dass solche ungünstigen Übergänge entstehen, dazu können pauschale, nicht an der individuellen Familien- und Bindungssituation ausgerichtete Umgangsregeln durchaus beitragen.

 

Fehlannahme 2: Wenn Kinder nach einer Trennung den Kontakt zu einem Elternteil (zeitweilig) ablehnen, dann liegt das zumeist an einer Manipulation durch den anderen Elternteil

Lassen wir einmal Begriffe wie PAS oder überhaupt „Entfremdung“ mitsamt der daran geübten Kritik beiseite und werfen einen Blick in die Welt der hochstrittigen Trennungen. Was begegnet uns da? Nicht nur zwei Elternteile in überwältigender Not, sondern auch ein Kind in überwältigender Not. Und oft verweigert dieses Kind den Kontakt zu einem der Elternteile (das ist im heute meist gelebten Bindungssystem in der Regel der Vater, was nicht heißt, dass es auch anders sein kann). Manchmal tut es das nur für eine begrenzte Zeit, manchmal auch dauerhaft.

Und ja, in diesem Komplex begegnen uns manchmal auch Eltern, die tatsächlich „schummeln“, auch dem Kind gegenüber. Also eben doch mal schlecht vom Partner reden oder Geschichten von früher aufwärmen, und und und. Sehen wir da also doch die typische PAS-Konstellation samt „entfremdeter“ Kinder?

Hier sind wir an einem für die Diskussion rund um die entwicklungspsychologische Dynamik von Trennungen enorm wichtigen und aktuellen Punkt angelangt: Was steht hinter diesen Kontaktabbrüchen? Passen sie in das Konstrukt der „Entfremdung“? (Ich verweise hier ausdrücklich auf die Arbeiten von Barbara Khalili-Langer und von Janin Zimmermann et al. – wer sich mit der komplexen Dynamik familiärer Kontaktprobleme auseinandersetzen will, kommt um diese aktuellen Übersichtsarbeiten nicht herum, auch weil sie die in Fachkreisen teils noch immer rezipierten Erklärungsmodelle nach dem ursprünglichen Entfremdungskonstrukt geduldig aufgreifen und widerlegen.

Schauen wir uns zuerst die Erklärungen an, die das PAS-EKE-Universum für solche Kontaktprobleme bereithält. Die Vorannahme ist hier, dass Manipulation durch einen Elternteil immer dann im Spiel sein müsse, wenn sich kein äußerer Grund für den Kontaktabbruch finden lässt, wie etwa Gewalterfahrung oder generell eine bereits vorbestehende schlechte Beziehung zum abgelehnten Elternteil. Die intendierte „Entfremdung“ durch den anderen Elternteil erscheint dann als klare Sache.

Die Kontaktverweigerung des Kindes wird also auf nur einen Einfluss zurückgeführt – eine Manipulation durch den (in der Regel) betreuenden Elternteil nämlich.

Eine Täter-Opfer-Erzählung

Es handelt sich also um eine lineare, monokausale Erklärung, in der feststeht, wer Täter und wer Opfer ist. Alle weiteren Einflüsse, wie etwa neue belastende Faktoren, die sich durch die Trennung ergeben, oder auch ein indirekter Beitrag des abgelehnten, entfremdeten Elternteils oder auch ein Beitrag des Kindes selbst, bleiben außen vor. Das Kind fungiert lediglich als Marionette des entfremdenden Elternteils (dessen eigener Wille wurde von Gardner und seinen SchülerInnen als durch die „Gehirnwäsche zerstört“ angenommen). Und die „entfremdende“ Mutter? Sie gilt als krankhaft beziehungsgestört – „bindungsintolerant“ nämlich (oder gleich „psychopathisch“ oder paranoid, wie Gardner es behauptet). Jedenfalls ist sie jetzt keine ernst zu nehmende oder gar gleichwertige Konfliktpartnerin mehr. Und eine Konflikt*lösungs*partnerin erst recht nicht.

Dieses monokausale, auf die immer gleiche Ursachenerklärung zulaufende Modell entspricht in keiner Weise dem heute in der Familienforschung und Entwicklungspsychologie etablierten systemischen Ansatz. Im Gegenteil, “bei solchen einfachen „Täter-Opfer-Erzählungen“ sollten bei allen im Bereich des Familienrechts Tätigen die „Alarmglocken schrillen“, wie Barbara Khalili-Langer schreibt.  Anstelle von linearen Schuld- und Ursachenzuschreibungen erfordern die überaus komplexen familiären Kontaktprobleme stets differenzierte, einzelfallbezogene Betrachtungen, um das komplizierte Zusammenspiel von Wirkfaktoren zu verstehen. Denn bei hochstrittigen Trennungsfällen kommt ja noch hinzu, dass die Eltern aufgrund ihres eigenen tiefgreifenden Konflikt- und Stresserlebens auf der Paarebene oft auch in ihrer Rolle als Eltern überfordert sind – erst recht, wenn es darum geht, effektive Konfliktlösungen zu finden. Und das Kind? Ist im Mahlstrom der Familienauflösung ebenfalls oft komplett überfordert und „durch den Wind“.

Das Allerletzte, was der verletzten Familie jetzt hilft, sind pauschale Vorwürfe von Psychopathie und Schuld, oder gar Alleinschuld. Oder eine „one-size-fits-all“-Lösung.

Auch zeigt sich, dass oft kaum zu klären ist, wo genau die Grenze zwischen bewussten Entfremdungsstrategien, unbewussten Loyalitätsforderungen an das Kind, aber auch Loyalitätskonflikten beim Kind selbst verläuft. Letztere sind in der einen oder anderen Form im Kind immer vorhanden, denn natürlich verspüren Kinder, gutmütig wie sie sind, auch regelmäßig Loyalitätsdruck und rutschen schon dadurch leicht in eine „Überdistanzierung“ zu einem Elternteil – etwa, wenn sie diesem die Schuld für die Trennung geben (ungeachtet einer vielleicht vorher funktionierenden Beziehung!). Oder wenn sie sich zum Beispiel aufgrund ihrer Bindungsgeschichte stärker mit ihrer Hauptbindungsperson identifizieren. „Das wurde dem Kind doch einfach eingeredet!“ – eine solche Annahme wird der komplexen Wirklichkeit in der Regel nicht gerecht. Dieser Wirklichkeit kann nur mit einem multifaktoriellen Ansatz begegnet werden.

Kinder sind im Trennungsgeschehen auch eigene Akteure

Schauen wir uns deshalb ruhig noch einmal in dem multifaktoriellen Geschehen der Kontaktabbrüche um. Befragt man die im PAS- und EKE-Modell als eigene Akteure oft vergessenen Trennungskinder, so nennen sie etwa Gründe für die Umgangsverweigerung wie: dass sie sich bei der ursprünglichen Festlegung der Kontaktregelung übergangen gefühlt hätten und die Regelungen nicht zu ihren Bedürfnissen gepasst hätten. Auch dass sie die Schuld beim abgelehnten Elternteil sahen, spielte eine Rolle, ebenso wie dass der Elternteil unter psychischen oder Suchtproblemen gelitten hätte. In einer anderen Befragung wurde am öftesten die „fehlende Wärme“ in der Beziehung des Kindes zum Vater genannt und am zweithäufigsten „Trennungsängste der Mutter“ (hier ist er also wieder, der Loyalitätskonflikt des Kindes, der zur elterlichen Trennung gehört „wie das Fieber zur Grippe“). An dritter Stelle genannt wurde „das mütterliche Untergraben der Beziehung zum Vater“ – auch in der mehrdimensionalen Welt ist aktives Faulspiel also Teil der Konfliktmatrix, und wen würde das wundern? Interessanterweise lässt sich hierzu zeigen, dass gerade das beabsichtigt entfremdende Elternverhalten die Beziehung zum entfremdenden Elternteil stärker schädigt als die zum anderen Elternteil – also genau das Gegenteil als die PAS-Theoretiker annehmen.

Keine vorschnellen Annahmen bei Kontaktverweigerung!

Schauen wir uns die unaufgeräumte, multifaktorielle Welt der Kontaktverweigerungen noch einmal mitten aus dem Leben heraus an. Da stoßen wir auf viele Ursachen für Kontaktprobleme. Etwa, dass der andere Elternteil auch vorher nur wenig mit dem Kind involviert war und das Kind einfach keinen „Draht“ zu ihm hat. Tatsächlich bestehen asymmetrische Bindungsmuster oft schon lange vor dem Sorgerechtsstreit und manifestieren sich dann teils erst durch die Trennung mit einem ablehnenden Verhalten. Weitere Ursachen für ablehnendes Verhalten können sein, dass das Kind sich beim anderen Elternteil zuhause nicht wohl fühlt, dass es auf die Trennung mit Rebellion reagiert und erst mal die Schotten dicht macht, dass es durch die Trennung (oder auch “nur” durch den dadurch erlebten Streit zwischen den Eltern!) seelisch belastet und vielleicht sogar traumatisiert ist und sich deshalb zurückzieht.

Auch darf nicht vergessen werden, dass gerade konflikthafte Trennungen das Bindungssystem des Kindes extrem aktivieren und dass Kinder sich dann, wie in anderen Überforderungssituationen auch (etwa bei Angst- und Stresserfahrungen), verstärkt an seine primäre Bindungsperson hält (und ja, das ist auch heute noch sehr häufig die Mutter). Die Kontaktverweigerung kann manchmal aber auch eine Strategie des Kindes sein, um seinen Loyalitätskonflikt zu lösen.

Denn im Grunde wollen sich Kinder aus dem Konflikt ihrer Eltern so gut es geht heraushalten – schließlich werden sie selbst dabei indirekt auch verletzt. Etwa weil sie miterleben müssen, wie die Eltern streiten und die Familie zerbricht. Erleben Kinder nun, dass sich am Streit der Eltern sowieso nichts ändert und dass sie selbst dabei ein Zankapfel sind, dann ziehen sie sozusagen die Notbremse – und entscheiden sich für eine Partei („Ich sage jetzt, ich bleibe da, wo ich bin“).

Tragisch und auch nicht immer gerecht – und doch normal

All das sind normale kindliche Verhaltensweisen. Ja sie können sogar zeitweilige Überlebensstrategien für das Kind sein. Sie können grausam sein bzw. der Grausamkeit der Familienauflösung eine weitere hinzufügen. Aber sie haben deshalb noch lange nichts damit zu tun, dass irgend jemand das Kind manipuliert. Oft ist bei den Kindern sogar ein gegenteiliges kindliches Verhalten zu beobachten: Dass sie ohne Murren viel zu oft auch für sie stressige und sogar nachteilige Beziehungs- und Umgangsvarianten akzeptieren und ihre Kritik oder auch die eigenen Wünsche hintenanstellen, aus Angst ihre Eltern zu verlieren.

Auch agieren Kinder teilweise im Nachtrennungskonflikt „vorausschauend“ und schlagen sich auf die Seite eines Elternteils und übernehmen aus eigenem Antrieb dessen ablehnende Argumentation. Also nicht, weil sie dazu manipuliert werden, sondern weil sie abwägen: Was wäre Mama bzw. Papa wohl recht? Und natürlich wollen sie es dabei dann oft vor allem ihrer primären Bindungsperson recht machen.

Möglich ist auch – wir sind in der Realität, wie sie manchmal ist – dass das Kind beim abgelehnten Elternteil Gewalt oder Verletzung erfährt, ob seelisch oder körperlich, oder dass es in dessen neuer Familie Ablehnung oder neue Konflikte erfährt. Oder dass die hauptbetreuende Bindungsperson ihr Kind vor eben diesen Ereignissen schützen will.

Und das ist bis heute ein normales, elterliches Verhalten.

Und, noch einmal, natürlich gibt es auch Fälle einer intentionalen Manipulation der kindlichen Beziehungen. Nur: auch diese Reaktionen können zumeist nicht einfach nach einem Täter-Opfer-Raster verstanden werden, sondern sind in der Regel eingebettet in eine vielschichtige familiäre Konfliktdynamik. Und ja, Teil dieser Konfliktdynamik kann tatsächlich in Einzelfällen auch eine psychische Erkrankung sein. Etwa eine Persönlichkeitsstörung wie ein Borderline-Syndrom oder eine narzisstische Persönlichkeitsstörung.

Nur: genau hier zeigt sich dann, wie inadäquat und fahrlässig das PAS-Konstrukt ist. Psychische Krankheiten liegen außerhalb des Kompetenzbereiches familienpsychologischer Sachverständiger (letztere sind zumeist DiplompsychologInnen oder auch SozialpädagogInnen, PädagogInnen, aber meist keine PsychiaterInnen). Als Minimum wäre deshalb zu fordern, dass gutachterliche Expertisen, die den PAS-Vorwurf – und erst recht einen Münchhausen by proxy-Vorwurf! – erheben, durch eine entsprechende Zweitmeinung von dafür ausgebildeten ExpertInnen aus dem psychiatrischen und ggf. kinderpsychiatrischen Fachgebiet validiert werden. Tatsächlich entstehen viele der grausamen Fehlurteile nach dem PAS-Konstrukt bis heute dadurch, dass hier Fachpersonen in Fällen mit-entscheiden, für die sie gar keine Kompetenz haben (wobei das “mit”-entscheiden vielfach eine Verharmlosung ist, da familienpsychologische Gutachten oft die zentrale Entscheidungsgrundlage für FamilienrichterInnen sind).

Weg mit dem „Entfremdungs“-Begriff!

Im Grunde spricht das Gesagte dafür: Wir sollten den Begriff der „Entfremdung“ ganz ersetzen. Etwa durch „Kontaktprobleme“ oder „Kontaktvermeidung“. Denn der phänomenologische Begriff der „Entfremdung“ suggeriert von seiner Bedeutung her immer auch eine unlautere Handlung oder Entwicklung. Er enthält immer schon einen Hinweis auf einen Täter und auf ein Opfer. Er dreht sich immer um Schuld. Und wie wir gesehen haben, führt genau das ins Niemandsland. Denn die für die „Entfremdung“ entwickelten Kriterienkataloge – von Gardners „8 Diagnosekriterien“ bis zum kaum weniger problematischen „5-Faktor-Modell zur Erkennung einer Eltern-Kind-Entfremdung“ – können im Grunde „für alles und gegen alles verwandt werden“ (Prof. Jörg Fegert). Schließlich kann das nach außen zu beobachtende Verhalten (etwa: ein Kind redet schlecht über ein bestimmtes Elternteil) einmal die eine, ein anderes Mal eine andere Ursache haben. Und diese Ursachen wiederum entstehen in der einen Familie so, in der anderen so.

Ja, wenn wir die monokausalen Zuschreibungen der Befürworter des „Entfremdungs“-Konzeptes radikal betrachten, dann sind sie im Grunde selbstbestätigend – die „Diagnose“ ist in das beobachtete Phänomen schon eingebaut. Wie bei einem mittelalterlichen „Hexentest“. (Apropos Hexentest: Es gibt in Deutschland – allen Ernstes – „Entfremdungs-Experten“, die ratsuchenden Elternteilen ein angeblich wissenschaftlich entwickeltes Punktesystem vorlegen, an dem sie angeblich ablesen können, ob der andere Elternteil Entfremdung betreibt. So an einem angeblich der Universität Tübingen angeschlossenen, aber dann doch wohl spendenfinanzierten „KiMiss-Institut“).

Kurz, Kontaktvermeidungen nach Trennungen haben viele Gesichter und viele Ursachen, pauschale Urteile und Urteilsraster verbieten sich.

Und das auch deshalb, weil sie die Suche nach dem eigentlichen Grund des kindlichen Verhaltens verhindern: Warum genau will dieses Kind einen Elternteil nicht mehr sehen? Bei keiner der genannten Möglichkeiten wird man dem Kind gerecht, indem man seine bevorzugte Bindungsperson mit Haft bedroht oder mit empfindlichen Strafzahlungen belegt (beides von manchen PAS/EKE-Verfechtern vorgeschlagen). Oder es gar mit Gewalt zum Umgang mit dem momentan abgelehnten Elternteil zwingt. Etwa indem man das ablehnende Kind mit dem abgelehnten Elternteil in Hotels oder sonstigen Einrichtung zusammenbringt, etwa unter fachpsychologischer Aufsicht (in den USA hat sich dafür eine ganze Industrie von kaum regulierten privaten Angeboten von „reunification camps“ entwickelt – Traumatisierungen werden teils mitgeliefert).

Existenz- oder bindungsbedrohender Zwang erreicht das Gegenteil – die Zwangsmaßnahmen treffen auf eine nach einer Trennung sowieso schon überaus verletzliche Restfamilie. Eskalationen und weitere Verhärtungen sind damit im Grunde vorprogrammiert, und Lösungswege werden erst recht blockiert. Und die Rechnung – bezahlt dann meist das Kind. Denn das ist der vielleicht tiefste und hinterhältigste Aspekt der „Entfremdungs“-Annahme: Es gibt in der entwicklungspsychologischen Literatur keinen Zweifel daran, dass das Wohlergehen des Kindes direkt mit der emotionalen Verfügbarkeit und dem Wohlbefinden seiner momentanen Bindungsperson(en) zusammenhängt.

Der im Streit um das Kind vorgebrachte „Entfremdungs“-Vorwurf bringt regelhaft genau diejenige Person in Not, von der das Wohlergehen des Kindes am meisten abhängt.

Bleib informiert: Der letzte Teil unserer Recherche kommt bald!

 

Unsere Reportage wird nächste Woche mit dem fünften Teil zuende gehen, in dem ich auch viele positive Entwicklungen aufzeigen werde.

Denn das ist mir wichtig: Wenn wir hier auf Missstände an manchen Familiengerichten hinweisen, dann heißt das nicht, dass das ganze familienrechtliche System kaputt wäre. Ja, wir werden sogar sehen, dass sich so manches – endlich – in die richtige Richtung entwickelt.


Und auch bei diesem Ausblick will mich ganz herzlich bei den vielen SpenderInnen bedanken, die diese Arbeit unterstützt haben, und weiter unterstützen. Ihr seid großartig, für mich bedeutet dieser Zuspruch viel.

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4 Kommentare

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  • Kerstin

    Danke für Ihre wertvolle Arbeit!

  • Anonym

    Besten Dank für Ihre wertvolle Arbeit – Sie verhelfen mit ihrem fundierten Kenntnis und klaren Analyse hier eine eklatante Fehlentwicklung an Familiengerichten zu beschreiben. Das Leid so vieler muss endlich beendet werden – und mit Ihren Argumenten kann man selbst in einem Gerichtssaal vielleicht besser gegen PAS-Unterstellungen vorankommen. Unter dem natürlich wertvollen Siegel der Unabhängigkeit der Justiz haben sich Familienrichter und -Richterinnnen, Gutachter und Gutachterinnen, Jugendämter mit ihren Mitarbeitern einen unfassbaren Machtmissbrauch erlaubt – über viele Jahre. Renommierte Rechtsanwältinnen wie Hedayati, Clemm und Dr. Nadolny haben in den letzten Monaten Bücher darüber geschrieben! Was soll noch passieren? All dem muss ein Ende gesetzt werden, die Politik muss endlich handeln! … schreibt eine betroffene Mutter mit Kind (13)

  • Barbara Lucke

    Vielen Dank für die wieder so supergründliche Arbeit! Wie kommt diese Abhandlung denn nun in die Gerichte, wo der oder die eine und andere naiv und ohne bösen Willen dem Herrn Gardner folgt? Und in die Jugendämter?
    Beste Grüße
    Barbara

  • Jale

    Tausend Dank für diese fundierte, strukturierte, systematische Aufdeckung derart grotesker Missstände! So eine wertvolle Arbeit!!
    Ich bin entsetzt, aber ehrlich gesagt, wundert mich die inhaltliche Inkompetenz der verantwortlichen (und natürlich unterbesetzten, überlasteten…) Stellen bei diesen Themen überhaupt nicht. Auch solchen Demagogen und, ja, Verbrechern wie Winterhoff hat man ja aus der Hand gefressen.
    Wieder ein Symptom dafür, dass es gesamtgesellschaftlich leider nur zu häufig auf Kosten der Schwächeren, der Frauen und Kinder geht…