Die neue Vortragsreihe – wissenschaftlich fundiert, praxisnah und mit persönlichem Austausch.
Dauerkonflikt mit aggressivem Fünfjährigen!
Wir haben leider einen Dauerkonflikt in der Familie, der mich sehr verunsichert. Mein Sohn, fast 5, war schon immer sehr temperamentvoll, regulationsschwach mit einer Neigung zu heftigen Wutausbrüchen und dominantem Verhalten. Ich fürchte die Ursache liegt auch in meinem früheren Erziehungsverhalten: mit einer falsch verstandenen „Bedürfnisorientierung“ habe ich einen Mangel an Frustrationstoleranz verursacht und leider dafür gesorgt, dass mein Sohn sich schwer tut die Grenzen anderer zu achten und selbst nicht immer die maximale Aufmerksamkeit zu bekommen.
Nun zum Problem: seit der Geburt seiner Schwester (16 Monate) zeigt er massiv aggressive Verhaltensweisen. Ständig langt er ihr ins Gesicht, schubst sie und zwickt sie. Wenn wir ihn zurecht weisen schlägt, tritt und beschimpft er uns. Mein Mann und ich verbringen beide soviel Exklusiv-Zeit wie möglich im Wechsel mit den Kindern, wir versuchen aber auch schöne Geschwistermomente zu fördern (das klappt durchaus auch, er kann auch sehr liebevoll zu ihr sein, die Beziehung ist aber eben sehr ambivalent). Doch vor allem wenn wir zu viert sind oder (noch schlimmer) einer von uns allein mit den Kindern ist, ist es einfach nur anstrengend und man kann sie keine Sekunde aus den Augen lassen. Wir schwanken zwischen Verständnis, auf ihn eingehen, Gefühle übersetzen und dann wieder ihn schimpfen und strafen und sind einfach alle langsam am Ende mit den Nerven. Er dreht oft völlig auf, egal was wir machen und ist dann durch nichts zu erreichen. Ich schaffe es kaum noch ruhig zu bleiben und diesen ständigen Stress zu ertragen.
Nun zu meiner eigentlichen Frage: Wäre es besser in solchen Momenten das schlechte Verhalten komplett zu ignorieren und sich allein seiner Schwester zuzuwenden? Er möchte ja schließlich Aufmerksamkeit und würde dann dafür keine mehr bekommen? Oder ist es psychische Gewalt ein Kind bewusst zu ignorieren? Selbstverständlich meine ich nicht, dass ich ihn im Nachgang mit Schweigen oder ähnlichem bestrafen würde, sondern nur in der Situation selbst. Auch bin ich im Zweifel, ob ich so ein Verhalten einfach so unkommentiert stehen lassen kann. Auf der anderen Seite weiß er ja eh schon, dass es falsch ist? Über eine Antwort und eine Einschätzung von Dir würde ich mich sehr freuen,
Herzliche Grüße von einer etwas verzweifelten Mama
Gerade diese Probleme mit einer längeren Vorgeschichte quälen uns besonders und machen zudem ein schlechtes Gewissen. Deshalb ganz großen Dank für Deine Offenheit!
Was Du schreibst deutet für mich zwei Sachen an: Da haben sich ungünstige Gewohnheiten eingeschliffen. Und da fehlen vielleicht auch manche Grundlagen, die es noch „nachzuholen“ gilt.
Und ja, bei den Wörtern „eingeschliffen“ oder „nachholen“ ahnst Du bestimmt schon: Ich werde Dir jetzt nicht ein paar Tricks nennen, die das alles prompt ins Lot bringen. Sondern eher etwas dazu sagen, in welche Richtung Ihr vielleicht denken könnt.
Und ich werde dabei ganz bewusst einmal das Thema „Geschwisterkonflikt“ außen vor lassen. Das wird Dich vielleicht verwundern, denn Geschwisterkonflikte werden ja gerne genommen um Probleme von Kindern (und ihren Eltern) zu erklären, Hölzchen rauf, Klötzchen runter. Aber mir scheint Euer Problem in einer Etage tiefer zu liegen. Das Geschwisterproblem wird sich entspannen, wenn Ihr das andere anpackt.
1
Dein Kind VERSTEHEN ist so ein wichtiger Schritt. Dir ist klar, dass bei Euch das “System Familie” eine Zeitlang Schlagseite hatte und noch immer hat. Das ist ein großer Schritt, denn wie nahe liegt oft eine andere Version: MEIN KIND MACHT THEATER! Nein, tut er nicht. Er hat manches noch nicht gelernt – aus Gründen. Und die haben mit Euch als Familie zu tun. „We are all in this together“, heißt die Devise bei solchen Familiengeschichten!
2
Du darfst deshalb nicht verzweifeln. Auch wenn Ihr es jetzt super anstrengend miteinander habt! Vielleicht hilft Dir das als Trost: Die Bindung, die Ihr aufgebaut habt, ist ja nicht einfach weg, man kann das nicht genug abfeiern. Und so vieles hat Dein Sohn doch schon gelernt, auch das klingt in Deiner Mail an – etwa, dass er auch liebevoll mit seiner Schwester umgehen kann. Und Du hättest bestimmt noch mehr Feines von Deinem Sohn zu berichten!
3
Jetzt aber mitten rein in die Familie. Euer Kind ist offenbar unzufrieden und überfordert. Ich bin mir sicher: Er wird sich da „rausentwickeln“. Aber es wird das nicht alleine können. Ihr werdet es gemeinsam tun.
Denn eines der wichtigsten Geheimnisse beim Zusammenleben ist das: Wenn Du willst, dass der andere sich ändert, dann musst Du auch Dich selber ändern. Darin liegt oft der entscheidende Impuls. Es muss von Dir und Deinem Mann kommen, denn ein kleines Kind hat nicht die Kraft, um tiefgreifende Änderungen anzustoßen, das können nur Erwachsene – *sie* schieben den Zug an. Erst wenn er rollt, schafft es das Kind aufzuspringen.
4
Aber wie könnt ihr euch ändern, und wohin? Es scheint mir, wie wenn die Bahnen in Eurem Familienuniversum nicht rund laufen. Da fehlt die Balance. Euer Sohn scheint in die Mitte des Planetensystems gerutscht zu sein und von dort aus das Familienleben kontrollieren zu müssen. Wie aufgeschmissen und überfordert er da ist, das seht Ihr. Ihr werdet Euer Familienuniversum jetzt neu austarieren müssen. Und zwar indem Ihr als Eltern Euren Platz neu findet. Die Kinder folgen dann nach. Der Zug muss schon mal rollen, wie gesagt.
5
Wo ist Euer Platz? Er ist dort, wo Ihr selbst wieder mehr Freude haben könnt – an Euren Aufgaben, und auch an Euch selbst. Und er ist dort, wo Ihr ECHT sein könnt. Wo Ihr also Eure Bedürfnisse, Eure Gefühle und auch Eure Grenzen zeigen könnt. Wo Ihr nicht nur reagiert, sondern auch agiert: SO stellen wir uns das Zusammenleben vor, SO wollen wir es haben. Weil uns das gut tut. Oder: Weil es uns richtig erscheint.
Ich kann es nicht oft genug sagen: Probleme kannst Du nicht mit “Techniken” beseitigen. Sie führen oft mittenrein in: Wer Du bist. Wer Du sein willst, und wie Du das alles momentan zusammenbringst. Da hilft eines immens, und beim Leben mit Kindern ist es vielleicht sogar ein Zauberspruch: Folge der Spur der Freude. Und der Echtheit. Ich weiß, dass das nicht immer einfach “machbar” ist. Aber zumindest ist das die Wünschelrute, mit der Ihr wieder die Adern des Lebens als Familie findet. Das bringt Euch weiter als jede “Technik”.
6
Und dann sind da noch die wunderbaren „Entwicklungshelfer“, ich will zu jedem was sagen, ganz kurz:
Dein Sohn ist jetzt bald fünf 🚀. Er kann jetzt unglaublich viel von anderen Kindern lernen, auch Selbstregulation. Gerade das “selbst gemachte” Spielen und Entdecken enthält so viel Stärkendes! „Exklusivzeit“ mit anderen Kindern ist für ein Kind etwas Geniales! Also, wenn Ihr da ein Türchen in die Kinder-community seht: macht es auf.
Und auch in der Familie unbedingt dran denken: diese Kinder-Menschen wollen ihren Tatendurst stillen! Zu viel ground control macht sie tiefengestresst, und das Rumgezwicke am Geschwisterkind fängt ja nicht an, wenn ein Kind atemlos vor Entdeckerglück ist. Wie könnt Ihr etwas Spannendes gemeinsam erleben? Spannendes sorgt für Entspannung. Lasst Euren Sohn so viel wie möglich Teil des Teams sein, zeigt ihm Wertschätzung für das was er wuppt. Und vergesst nicht, dass Euer Kind noch immer viel Balsam braucht, aufmunternde Worte, liebe Blicke und Gesten. Eben das, was Du bei Deinem Partner so sehr liebst 😉
7
Lass mich zum Schluss trotzdem noch ein Wort zum Ignorieren sagen: Dein Kind will, dass Ihr ihm als echte Menschen begegnet. Mit Euren Gefühlen, Euren menschlichen Reaktionen. Dein Kind will erleben, wer Ihr seid! Passt da das Ignorieren dazu? Das Ignorieren von etwas, das Dich bis ins Knochenmark NERVT? Ich glaube nicht. Zeige Dich klar, und zeige, was in Dir vorgeht. Und was für Dich geht und was nicht. Wenn Dein Sohn seine Schwester quält, dann BIST Du ein Stopp-Zeichen. Und Du machst das auch zum Thema in den guten Stunden, die Ihr habt. Oder in den Geschichten, die Du ihm erzählst.
Lass mich das alles vielleicht so zusammenfassen: Es geht darum, dass Du Kraft schöpfst. Und Ihr als Paar. Und als Familie. Du hast gute Vorstellungen, wie Ihr Familie leben wollt, ja, wie Ihr Familie SEIN wollt. Setze sie um, hartnäckig, immer wieder aufs Neue. Entwicklung ist ein Chancen-Weg.
Maren
Für mich sehr hilfreich, auch wenn die Konstellation eine andere ist. Authentisch sein ist super wichtig, das musste ich auch erst verstehen. Die Spur der Freude immer zu finden, ist in erschöpften Momenten oder Phasen allerdings nicht einfach. Aber der Impuls ist super! Vielen Dank für den Beitrag und die Antwort!
Jale
Auch von mir ganz vielen Dank für den Beitrag und die Antwort!
Man darf, ja sollte(!) als Eltern das leben, was uns selbst Freude macht.
Und das Leben so gestalten, dass es uns als Eltern nährt und es das Leben ist, das WIR führen wollen. Häufig genug kann man die Kinder dabei mit “einspannen”.
Was ebenfalls ganz häufig mit am besten funktioniert: Andere Kinder anderen Alters. ZB große Cousins, Cousinen oder so bzw. die Kinder von Freunden. Also sich selber verabreden und dann das große Kind mit denen losschicken. Da klappt vieles auf einmal, auch mit Kooperation und den Grenzen anderer…
Wenn man auch nur den Hauch einer Möglichkeit dazu hat, geht “raus in die Natur” ..!
Wenn Kleinere und Schwächere gepiesackt werden, darf man durchaus auch energisch “SO WOLLEN WIR HIER NICHT MITEINANDER UMGEHEN!” sagen und klarmachen, dass Gewalt nur dann erlaubt ist, wenn einen Größere und Stärkere quälen. Und im Zweifel sagen, “ich hab Dich auch lieb, wenn Du eine kratzende Kampfkatze bist, aber vor der Kampfkatze muss ich jetzt mal das Kleinere/Schwächere schützen”.
Monika K.
Sehr guter Beitrag, gut reflektiert, und sehr gut beantwortet von HRP! – Als Erzieherin in Familien habe ich irgendwann gelernt, dass aggressives Verhalten leicht zu bändigen ist, wenn ich sage: “Nein! Hör auf!” und danach das Kind ignoriere und mich anderem zuwende, das auch bei leichten provozierenden Gesten, Irgendwann weiß der Provokateur, dass sein Verhalten unerwünscht ist (weil es zu keinem guten Zusammenleben führt), dann drehe ich mich auch wortlos weg, gebe auf jeden Fall keine Aufmerksamkeit mehr für sein Verhalten. Mit Konsequenzenz ist das Kind in drei Tagen geheilt. Manchmal reicht auch ein kurzer ernster Blick.
Charlotte
Das ist doch so ungefähr das Gegenteil von dem, was er hier schreibt. “Das Kind ist geheilt” (wovon?) bedeutet ja, dass das Kind “das Problem” ist, dabei geht es hier darum, dass dem ganzen System die Balance abhanden gekommen ist. Einem Kind muss nichts ausgetrieben werden, das ist grob vereinfacht und unfair. Klar ändert das Kind sein Verhalten wenn man es streng behandelt und ignoriert, aber das ist auch verletzend und der Bindung nicht zuträglich, ich verstehe nicht, wie man das im Jahr 2024 noch als Erfolgsmodell verkaufen kann.
Monika K.
“weil es zu keinem guten Zusammenleben führt”
Jale
ich sehe es auch wie Charlotte, dass das Ignorieren nur Symptomkosmetik ist. Und die Problematik nicht ursächlich verbessert. Sicher, es “funktioniert”, aber eben nur oberflächlich – und zu welchem Preis?
Mal ganz “orthodox”:
Das Kind hat gelernt, sein Verhalten ist schlecht und wird bestraft (Ignorieren also Entzug ist mit die härteste Strafe). Es hat also irgendwie gelernt, es “ist nicht richtig”.
Die Wut bzw. der Grund für die Wut ist ja da, also so gar nicht geklärt – nur jetzt eben als unerwünscht gelabelt. Im schlimmsten Fall wird die Wut unterdrückt oder sucht sich andere Ziele, zB eben gegen sich selbst.
Die schreienden Babys haben auch irgendwann aufgehört – es “funktionierte” also – aber zu welchem Preis, das ahnen wir mittlerweile schon.
Ohne Ihnen, Monika, zu nahe treten zu wollen:
Es gibt denke ich bessere und vor allem nicht strafende Mittel, ein Verhalten als nicht konstruktiv zu benennen und gleichzeitig eigenen Selbstschutz zu betreiben und ein positives Zusammenleben zu etablieren.
Ich hoffe mal, Sie betreiben flankierend genügend positive Kontaktpflege und erklären (kindgerecht) ausführlich die positiven Prinzipien des Zusammenlebens und dass Sie das betreffende Kind absolut schätzen und vor allem bieten Sie dem Kind andere Auswege an, wie es sich ausleben kann.
Friedo Pagel
Ich würde bei dieser Beschreibung auch nicht mit dem Geschwisterkonflikt beginnen. Was überdeutlich wird sind sicher seine Schwierigkeiten mit der Emotionsregulierung. Schwierig, dafür Tipps zu geben, denn da steckt er mit 5 ja noch mitten in der Entwicklung.
Grundsätzlich natürlich die Botschaft “Du darfst Emotionen haben und Du darfst sie auch zeigen.”, wobei die Botschaft “Du hast doch gar keinen Grund für Deine Emotionen” fatal und kontraproduktiv wäre.
Aber … Du hast auch Emotionen und auch Du hast jedes Recht darauf, sie zu haben und anderen zu zeigen. “Zeigen” heißt dabei nicht “erklären”, sondern sie ihm erleben lassen, so wie er Euch seine Emotionen erleben lässt. So wie Du die Sache schilderst bist Du ja nicht weniger wütend, traurig oder verzweifelt – nur gehst Du anders damit um. Diese ihm gegenüber verdrängen und verbergen, quasi nach außen hin zu leugnen, das sehe ich weder als gute Lösung noch als gutes Vorbild.
Aber bei Deiner Schilderung würde ich noch einige weitere Aspekte in Erwägung ziehen, die auf den ersten Blick wohl scheinbar gar nichts damit zu tun zu haben:
– Wie ist sein Sozialverhalten im Kindergarten?
– Wie steht es mit mit seiner sensomotorischen Entwicklung? (Etwa in der Feinmotorik gegenüber Gleichaltrigen deutlich zurück?)
– Wie steht es mit mit seiner intellektuellen Entwicklung? (Etwa gegenüber Gleichaltrigen spürbar voraus?)
– Und wie gut kann/konnte er sich an die ihm von außen angetragenen Rhythmen des Lebens (Schlafen, Essen, usw.) anpassen?
Und auch von mir ein “Danke für die Offenheit”
–
Monika K.
Sehr richtig: Fähigkeiten machen Selbstbewusstsein.
“Spätestens ab dem Kleinkindalter ist es wichtig, zwischen den Bedürfnissen des Kindes und den unterbewusst entwickelten Strategien zu unterscheiden, mit denen sie ihre Bedürfnisse bzw Wünsche! erfüllt bekommen möchten.
Wenn ein Kind z.B. jedes Mal einen Wutanfall bekommt, sobald ihm die Eltern etwas verwehren, wird es vielleicht Wutausbrüche als Strategie beibehalten, wenn als Reaktion darauf seine Wünsche schließlich doch erfüllt werden. Die Eltern können dem Kind dabei helfen, das Bedürfnis herauszufinden, was hinter dem Verhalten steht und dann darauf eingehen. Die Lösung dafür kann jedoch ein ganz anderer Weg sein, als den das Kind sich vorgestellt hatte.
Neben den Bedürfnissen der Kinder dürfen auch die elterlichen Bedürfnisse nicht zu kurz kommen. Ein weiser Satz lautet: ‚Aus einem leeren Krug kann man nicht einschenken.‘ Wenn die eigenen Ressourcen erschöpft sind, wie soll man dann für jemand anderen sorgen?
Grenzen setzen
Eine Beziehung bleibt nur dann langfristig gesund und stabil, wenn sie so gestaltet ist, dass das Wohl aller berücksichtigt wird. Die Verantwortung für das Wohl der Kinder liegt einzig und allein bei den Erziehungspersonen.
Das bedeutet z.B., dass ein Kind mitentscheiden darf, ob es lieber das eine oder das andere Gemüse essen möchte, aber über die Auswahl, dass nicht nur Süßigkeiten oder Fastfood bereitstehen, bestimmen die Eltern. Gleiches gilt für die Vereinbarung der Schlafenszeiten, den Medienkonsum uvm. Erziehung bedeutet daher auch oft, klare und einhaltbare Grenzen zu setzen und diese verlässlich den Kindern gegenüber zu vertreten.
„Bedürfnisorientierte Erziehung funktioniert nicht ohne persönliche Grenzen.” Zitat von Cacilia W.