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Bildung ist wie ein Haus. Zuerst braucht es ein gutes Fundament
Herbert Renz-Polster im Gespräch mit Annika Ross, Journalistin beim Schlingel, dem Familienmagazin der Leipziger Volkszeitung
Seit Emmanuel Macron sich in Paris in die Kita hockte und den Dreijährigen eine neue Vorschule versprach, tobt in Deutschland wieder einmal eine Diskussion über die frühkindliche Bildung. Plötzlich haben wir Angst, unsere Kinder könnten abgehängt werden. Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster plädiert in seinen Büchern für mehr Freiräume und verdeutlicht den Wert emotionaler Sicherheit. Und er gehört zu den wichtigsten Gegenstimmen – immer dann, wenn Kinder zu den Leistungsträgern der Zukunft gemacht werden sollen und ihre Kindheit dabei auf der Strecke bleibt.
Neigen wir zu Paranoia, wenn es um die Bildung unserer Kinder geht?
Ich denke es gibt schon gute Gründe, warum Eltern sich um die Bildung ihrer Kinder Sorgen machen – die Aufzüge in der Gesellschaft fahren nicht mehr so verlässlich nach oben wie sie das in den Wirtschaftswunderjahren einmal getan haben. Klar kriegen die Eltern da leicht Panik und fangen an, ihre Kinder zu schieben und zu drängeln. Schließlich hilft gute Bildung auch heute, um sich Chancen zu sichern.
Da wundert es dann also nicht, dass die heutigen Kitas voll sind von Förderprogrammen, Musiknachmittagen, Vorschulprogrammen, wissenschaftlichen Experimenten, oder?
Doch. Denn da unterliegen Eltern einem ersten Missverständnis. Die Früchte der Bildung werden nicht praller, süßer oder zahlreicher, wenn Kinder mit dem schulischen oder beruflichen Bildungsprogramm möglichst früh beginnen. Im Gegenteil. Bildung entsteht im Grunde wie ein Haus entsteht: Da braucht es zuerst ein gutes Fundament. Die Erkerchen und die Innenausstattung, das alles kommt später.
Wie genau sieht dieses gute Fundament aus?
Das wissen doch alle Eltern, und die Lehrerinnen und Erzieher wissen es auch: Ein Kind, das leuchtende Augen hat, das selbstbewusst ist, das also für sich und die anderen eintreten kann, ein solches Kind kann man auf seinem Bildungsweg gar nicht stoppen. Kinder sind bereit, wenn sie mit sich und den anderen Kindern klar kommen, wenn sie mutig, kreativ und neugierig sind. Und genau das ist das Bildungsfundament des Kindes: ihre aufnahmefähige, unbeschädigte Persönlichkeit. Das sollte der Kern einer wirklich am Kind orientierten „frühen Bildung“ sein.
Was bedeutet das für den Kindergarten?
Ja vielleicht wirklich, dass wir dieses Leitprinzip, das einmal für die Medizin ersonnen wurde, auch in der Pädagogik ernst nehmen: Zunächst einmal, füge dem Kind keinen Schaden zu! Und ja, das bedeutet auch, dass wir uns umorientieren müssen – weg von dem Beschleunigungsdenken, das sich in der neoliberalen Ära der Elementarpädagogik breit gemacht hat. Da beginnt ja glücklicherweise inzwischen ein Umdenken. Kitas sind nicht dazu da, um sich für den Job warmzulaufen! Und Erzieherinnen sind kein Animierpersonal, um Kindern die Kompetenzen der Erwachsenen schmackhaft zu machen, die wir gerade am Wirtschaftsstandort brauchen. Natürlich schicken Eltern ihre Kleinen lieber in ein „Haus der kleinen Forscher“ als in ein „Haus der kleinen Altenpfleger“. Aber der Weg, auf dem Kinder zu Forschern – oder Altenpflegern – werden, führt nicht über das möglichst frühe So-tun-als-ob.
Was wäre dann als pädagogisches Programm sinnvoll?
Wie können Erzieherinnen den Kindern helfen, dass sie, wie Sie es ausdrücken „aufnahmefähig“ sind? Dass sie dieses Fundament ihrer Persönlichkeit entwickeln, von dem Sie sprachen?
Kinder brauchen dazu einen stabilen, verlässlichen Rahmen von Beziehungen. Sie brauchen Sicherheit und Schutz durch präsente, ihnen wohlgesonnene, belastbare Erwachsene. Die zu ihnen stehen und an sie glauben. Vom Kind aus betrachtet kann eine Krippe oder eine Kita wirklich nur funktionieren, wenn es ihm eine „Heimat“ bietet: Hier kann ich sein wer ich bin, hier komme ich nicht in Not, hier lebe ich mit Menschen, die mich gut kennen, und denen ich etwas bedeute. Dieses Beziehungsgerüst ist das wichtigste pädagogische Programm, das es geben kann! Wir vergessen das aber oft und sparen gerade hier. Und es ist gleichzeitig die Eintrittskarte in den zweiten Teil, den es für den Aufbau eines Persönlichkeitsfundaments braucht: Dass das Kind aus sich heraus wirksam sein kann, spielen kann, sich bewähren kann, sein Ding machen kann. Wirklich sein Ding! Kinder werden nicht stark, indem sie brav das machen, was die klugen Erwachsenen von ihnen wollen, im Gegenteil. Sie brauchen kein pädagogisches Catering, sie brauchen eigene Erfahrungen in unstrukturierten Welten – etwa in der Natur. Aber wer lässt sich da drauf ein?
Braucht es für die frühe Bildung dann überhaupt den Besuch von Krippen?
Ich glaube, wenn wir das ernst nehmen, was ich gerade gesagt habe, dann ergibt sich daraus schon die Antwort: Kinder brauchen für ihre Entwicklung zunächst einmal innere Sicherheit, sie brauchen ein Gefühl von Zugehörigkeit und Geborgenheit – funktionierende Beziehungen, wie gesagt. Dieses Kapital nutzen sie, um sich die Welt zu „erspielen“, sich an den brennenden Dingen des Alltags zu bewähren – und dabei zu lernen. Und wenn sie dann aus dem gröbsten raus sind, wollen sie das am liebsten auch mit anderen Kindern tun. Gibt es diese Zutaten nur in der Krippe? Eindeutig nein. Ich kenne sogar viele Krippen, in denen es genau diese Zutaten NICHT gibt, oder viel zu wenig davon. Natürlich steigt so ziemlich jedes Kind, dessen Mutter zu Hause rauchend vor dem Fernseher sitzt durch den Besuch so ziemlich jeder Krippe in eine bessere Liga auf. Aber bei den anderen Kindern müssen wir schon die Qualitätsfrage stellen: Füllen die wirklich den Schuh? Viel zu viele Eltern lassen sich von dem Wort „frühe Bildung“ hypnotisieren, als sei jede Einrichtung von vorn herein ein „Bildungsort“. Und die Familie deshalb ein Verdummungsort. Wir haben doch viel mehr Optionen als wir manchmal denken, die Betreuung zu Hause ist für manche eine Option, für andere ist es die Betreuung durch Verwandte, durch Tageseltern, oder auch in der Nachbarschaft selbst organisierte Spielgruppen, und und und.
Warum glaubt der Staat zu wissen, was gut für unsere Kinder ist?
Wir müssen uns da vielleicht zuerst einmal reinen Wein einschenken: Der Krippenausbau war nie ein pädagogisches Programm für die Kinder. Also dass Experten auf einmal herausbekommen hätten, dass Kinder sich in Krippen generell besser entwickeln. Der Krippenausbau war ein Programm, um den in den 1990er Jahren zunehmend am Arbeitsmarkt gefragten Müttern einen Betreuungsort für ihre Kinder anzubieten. Das ist gut und richtig, auch für die Mütter und auch als Angebot für die Familien. Nur muss man dann auch bei den Tatsachen bleiben: Der Staat meinte nicht zu wissen, was gut FÜR DIE KINDER ist. Er meinte vielmehr zu wissen, was es braucht, damit mehr Mütter erwerbstätig sein können. Und diese Auftragsbeschreibung sieht man den Krippen bis heute an, und da sollten wir im Interesse der Kinder wenigstens ehrlich sein: Wäre der Krippenausbau von den Bedürfnissen der Kinder getrieben gewesen, hätten wir andere Einrichtungen. Wir würden uns mit den vielen faulen Kompromissen, die wir jetzt machen, nicht abfinden.
Dieses Interview mit Dr. Herbert Renz-Polster wurde zuerst veröffentlicht in der Juni-Ausgabe des Schlingels, dem Familienmagazin der Leipziger Volkszeitung. Autorin: Annika Ross, Fotos in der Print-Ausgabe: Fotolia, privat. Print-Version des Interviews als pdf downloaden.
Maren
Danke
für dieses tolle Buch, welches mir als Mutter, Lehrerin und Erzieherin aus der Seele spricht und den Rücken stärkt.
Interessant und aufschlussreich regt es zum Fragen, Weiterfragen und Hinterfragen an.
Simone Kopatz
Sie haben es mal wieder sehr gut zusammen gefasst und es auf den Punkt gebracht.
Es ging doch noch nie um die Kinder,sondern darum,die Kinder von der Bezugsperson zu trennen,damit er oder sie wieder zum Arbeitsplatz zurückkehren kann.
Es profitieren Kinder aus unterprivilegierten Famiilien sehr von diesen Institutionen ,in denen sie Gemeinschaft,Rituale und regelmäßiges Essen erfahren dürfen.