Kommentar9. Juni 2016

Freispiel – schlecht für die Bildung?

Wie hartnäckig das Kinderspiel in der Schublade Spiel und Tand  landet, zeigt der Philosoph Arthur Schopenhauer:

»Zu Erzieherinnen unserer ersten Kindheit eignen die Weiber sich gerade dadurch, dass sie selbst kindisch, läppisch und kurzsichtig, mit einem Worte, Zeit ihres Lebens große Kinder sind: eine Art Mittelstufe, zwischen dem Kinde und dem Manne, als welcher der eigentliche Mensch ist. Man betrachte nur ein Mädchen, wie sie, Tage lang, mit einem Kinde tändelt, herumtanzt und singt, und denke sich, was ein Mann, beim besten Willen, an ihrer Stelle leisten könnte.«

Bestimmt hat der Mann ziemliches Pech mit Mama und Papa gehabt. Und eine besonders lustige Kindheit dürfte er auch nicht genossen haben, wenn ihn das Tändeln und Spielen derart ankratzt. Aber ich sehe nicht, dass diese Haltung heute wirklich so ganz überwunden ist. So waren die ersten Forderungen nach »früher Bildung« (sie gingen vor allem von den deutschen Unternehmerverbänden aus) mit dem Hinweis garniert, dass man in den Kitas doch bitte die Tändelei begrenzen möge: Man wünsche sich, so die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände in einem Memorandum an die Bildungspolitik, eine bessere »Strukturierung« des Kindergartentages mit einer Abwechslung von »Lern- und Übungsphasen, Spiel- und Ruhephasen, mit Einzel- und Gemeinschaftsaktionen …«. Ein bisschen mehr Ordnung bitteschön, der Bildung wegen. Und der Unternehmensberater Prof. Jürgen Kluge, der Initiator der bis heute erfolgreichen Bildungsinitiative »Haus der kleinen Forscher«, knüpfte sich gleich die Erzieherinnen vor: »Viele von ihnen«, schrieb er in einem damals viel beachteten Buch, »sehen eine ihrer vornehmsten Aufgaben gerade darin, das Kind vor den Härten der Realität zu schützen.« Die lassen die Kleinen nur spielen!

Ich will damit niemandem frauen- oder kinderverachtendes Denken à la Schopenhauer unterstellen, aber wenn man den hektischen Umbau der Elementarpädagogik der 2000er Jahre Revue passieren lässt, dann klingeln einem die kritischen Töne gegen das Kinderspiel ziemlich schrill in den Ohren. In dem damals neu aufgestellten Bayerischen Bildungsplan wurde das Freispiel gleich mal zur pädagogischen Problemzone erklärt: Die »Qualität der Freispielprozesse« müsse dringend »verbessert« werden! Und zwar »durch gezielte Unterstützungsmaßnahmen«. Ausgerechnet die Kinder werden dazu als Kronzeugen aufgerufen: kein Kind wolle »nur spielen« – es wolle sich vielmehr auch »mit ernsthaftem Tun« befassen. Einfach nur spielen, nein Danke!

Dass der Ernst des Spiels dann auch glückt, sei Aufgabe der Erzieherinnen. Sie sollen durch »systematische Begleitung und didaktische Aufbereitung« dafür sorgen, dass sich das mit dem Freispiel verbundene »beiläufige Lernen« zum »spielerischen Lernen« hin entwickelt. Dazu sollten sie das Freispiel zum Beispiel »durch weitere Bildungsansätze ergänzen« – etwa durch »Projekte und Workshops.«

Workshops, im Ernst. Was sich Kinder eben so wünschen. Denken wir doch nur an unsere eigene Kindheit zurück: wie gut hätten wir die eine oder andere Arbeitseinheit zur Verbesserung unseres Freispiels gebrauchen können! Überhaupt: was hätte aus uns werden können, hätten unsere Erzieherinnen damals schon die Finessen der Frühen Bildung drauf gehabt!

Das jetzt der Klugheit dienende, verbesserte Spiel wird im Plan übrigens als »unterstütztes Freispiel« bezeichnet. Wie nett! Die Kleinen bekommen bei der Ausübung ihrer Freiheit Unterstützung.

Damit das Freie an der Freiheit nur nicht den anderen Zielen in den Weg kommt.

Dieser Beitrag ist übrigens ein mir wichtiger Gedankenschnipsel aus meinem Buch: Menschenkinder: Artgerechte Erziehung - was unser Nachwuchs wirklich braucht. Mit dem Buch beziehe ich Stellung zu den aktuellen Debatten rund um Erziehung, Bildung und Förderung unserer Kinder. Ich gehe insbesondere der Frage nach, wie sich die uralten Bedürfnisse der Kinder mit dem modernen Abenteuer vertragen, in dem wir da gelandet sind.
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11 Kommentare

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  • Maria Caiati

    Vielen Dank, ganz wunderbar, sie sprechen mir aus dem Herzen! Auch vor 30 Jahren wurde das Freispiel weder verstanden noch wertgeschätzt. Damals habe ich mit zwei Kolleginnen ein Buch zu diesem Thema “FREISPIEL- FREIES SPIEL?” herausgegeben. Es gab noch keinen “Förderwahn”, aber bald wurden die Vorschulen gegründet, die bis heute nicht mehr aus den Köpfen der Eltern und Erzieher weg zu denken sind. Die Eltern haben Angst etwas falsch zu machen, vertrauen nicht mehr der normalen Entwicklung ihres Kindes, lassen sich auf viel versprechenden Förderangebote ein. So wird den Kindern ihre Kindheit gestohlen, ihr Spiel, ihr Dasein.

    • Susanne Weger

      Oh ja!
      Das Freispielbuch steht in meinem Fachbuchschrank und es muss immer noch jede Praktikantin lesen.

  • Ida von A Bullerbü Life

    Die Verachtung des Freispiels und Missachtung der Freiheit des Menschen – auch schon des Kindes! – kommt einer humanitären Katastrophe gleich. Offenbar mag man den Mensch nicht mehr Mensch sein lassen.

  • Wibke Dihrberg

    Spielen, einfach nur Spielen, das ist so unschätzbar wichtig! Langeweile tut so gut, dann kann die Kreativität wachsen und so wunderbare Blüten hervorbringen, aus “nichts” kann dann “alles” werden, im Spiel! 🙂

  • Kerstin

    Freispiel wird bei uns groß geschrieben und ich liebe es meine Kinder dabei zu beobachten, wie sie ihrer Fantasy freien Lauf lassen und aus dem Bett ein Piratenschiff wird oder unter dem Tisch die dunkle Höhle entsteht…
    Einfach mal machen lassen!

  • Ronja Philippsen

    Toller Artikl, man muss einfach die Konder lassen damit sie selbst meinche Dinge herausfinden. Dadurch entwickeln sie ihre Persönlichkeit und ihr Karakter. Wir sollten ihnen nur den Weg zeigen alles andere machen sie alein.

  • drspitzmackiewicz

    Bewahrt man sich selbst das “Kind” in der Frau, im Manne, so ist Kind sein, damit verbunden in das Leben wachsen, ein gern rückblickendes Ergebnis, vor allem weitergebendes.

  • Jennifer

    Ich kannte das “Freispiel” bisher nur ohne das Attribut “unterstützt”, fand aber schon diesen Begriff immer sehr eigenartig. Spielen ist für mich immer eine freie Sache gewesen, alles andere ist kein Spiel. Wenn man also das Wort “frei” voranstellen muss, wirft das ein seltsames Licht darauf. Umso irritierter bin ich nun von der unterstützten Variante…

  • Lena

    Ich fördere ja meine Kinder sehr gerne. Allerdings finde ich in jeder Sache sollte die goldene Mitte gewählt werden. Ich setze mich nicht mit meinen Kindern von morgens bis Abends hin und verdonnere sie mit mir genau das zu malen o.ä. Was ich verlange. Es ist eher der Versuch einige Malde die Woche ein Thema heraus zu fischen, welches altersgemäß ist und hierzu einige Spiele und Aktivitäten auszudenken. Merk ich aber dass mein Kind gerade nicht einen Kreis ausschneiden will, sondern einfache Streifen schneidet, dann ist das ok für mich und wir improvisieren ganz nach den Anweisungen der Kinder. Manchmal haben die Jungs auch gar keine Lust und sagen es auch. Hier zwinge oder überrede ich auch nicht. Doch es gibt auch Tage an denen meine Kinder zu mir kommen und mich bitten mit ihnen gemeinsam etwaszu spielen was ich mir ausdenken darf.

  • Meike

    Wir haben früher auf Birken gesessen (die sind toll, weil die Äste wie eine Leiter sind und der Stamm so dünn, dass er oben hin und her wiegt) und haben uns Geschichten und Reime ausgedacht. Aber je nach Wohnort gab es auch den Hausmeister, der aus “Sicherheitsgründen” die unteren Äste abgesägt hat. Ja, die Sicherheit. Da wird das Spiel der Kinder der Sicherheit wegen eingeschränkt und zwanzig Jahre später wird sich darüber beklagt, dass Kinder motorisch unterentwickelt sind, es ihnen an Körpergefühl und Gleichgewicht mangelt. Propagierte Lösung: mehr Schulsport, am Besten noch Förderprogramme am Nachmittag, um mit Zwang das zu erreichen, was bei uns noch automatisch passierte. Zum Heulen.

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