ADHS – eine Störung oder was?

Über kaum eine Krankheit wird emotionaler diskutiert als über ADHS – auch als Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, Hyperaktivität oder Zappelphilipp-Syndrom bekannt.
Moment einmal: Krankheit? Schon da scheiden sich nämlich die Geister. Für die einen ist ADHS ja ganz einfach ein Erziehungsfehler: Die Kinder sitzen zu viel vor dem Bildschirm, schlafen zu wenig und bekommen keine Grenzen gesetzt. Für die anderen liegt das Problem im Gehirn verankert – bei den betroffenen Kindern funktioniere das Gehirn anders, und das lasse sich mit medizinischen Geräten auch nachweisen. Wieder andere weisen darauf hin, dass das Problem möglicherweise daran liegt, dass die Welt heute nicht mehr so gut zu den Kindern passt – manche brauchen einfach ihren Auslauf und haben es mit dem neuen Programm ungebührlich schwer. Statt langen Stillsitzens bräuchten sie eher Spiel und Bewegung.
Für alle drei Annahmen lassen sich gute Belege finden (womit es eigentlich möglich sein sollte, weniger emotional über das Thema zu reden, aber das ist eine andere Geschichte …). So lassen sich tatsächlich bei manchen Kindern mit ADHS mit modernen Verfahren Veränderungen des Gehirns oder der dort wirkenden Neurotransmitter nachweisen (allerdings sind die Studien teilwesie widersprüchlich, was aber nicht gegen diese These spricht). Hierzu könnte passen, dass sich bei etwa einem Drittel der mit ADHS diagnostizierten Kinder auch andere Auffälligkeiten in der Art des Denkens, der Wahrnehmung und des Verhaltens finden lassen (etwa Störungen der Feinmotorik, Teilleistungsstörungen, Tics oder Probleme im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung).

Dahinter könnten tatsächlich schädigende äußere Einflüsse bei der Hirnentwicklung stehen. Das würde die Beobachtung erklären, dass ADHS bei zu früh geborenen Kindern und bei Kindern von Müttern, die während der Schwangerschaft getrunken oder geraucht haben, häufiger auftritt. Auch der in Studien auffällige Zusammenhang zwischen der Pestizidbelastung der Nahrung und ADHS könnte so erklärt werden. Gleichzeitig könnten diese Veränderungen aber auch biologisch veranlagt sein, also auf eine genetisch bedingte Unterschiedlichkeit hinweisen (inzwischen wird hier manchmal der Begriff der „Neurodivergenz“ verwendet, den ich selber nicht mag, weil er alles und nichts aussagt und auch zum Teil sehr unterschiedliche Veränderungen und auch Störungen mit echtem Krankheitswert unter einen „Schirm“ bringen will – ich persönlich glaube nicht, dass das für die Begleitung dieser – sehr unterschiedlichen – Kinder hilfreich ist, denn: sie brauchen am Ende dann doch sehr unterschiedliche Hilfestellungen).
Andererseits ist bekannt, dass Kinder die Fähigkeit zur Kontrolle ihrer Impulse und Emotionen (die sogenannte »exekutive Kontrolle«, die in Kapitel 2 dieses Buches Thema war) in der frühen Kindheit erlernen, und zwar zunächst im Rahmen ihrer Beziehungen zu ihren Bindungspersonen. Die Tatsache, dass überzufällig viele Kinder mit ADHS schon in der frühen Kindheit mit emotionalen Problemen auffallen (zum Beispiel als »Schreibabys«), könnte darauf hinweisen, dass eine mögliche Wurzel für ADHS auch in der frühen Kindheit zu suchen ist. Wobei sich dann auch hier die Frage stellt, ob sich hier ein Anlageproblem zeigt, oder ob dies einen Beziehungsprozess im weitesten Sinn widerspiegelt. Dass auch Beziehungsprozesse eine Rolle spielen dürften zeigt sich möglicherweise daran, dass ADHS-Diagnosen umso häufiger gestellt werden je eher ein Kind in sozial prekären Verhältnissen aufwächst.
Ganz sicher aber ist ADHS häufig ein Passungsproblem – dem Kind werden Dinge abverlangt, die es entwicklungs- oder persönlichkeitsbedingt (noch) nicht leisten kann. Das erklärt etwa die Tatsache, dass die jüngeren Kinder in einer Klasse deutlich häufiger die Diagnose ADHS bekommen als die älteren – der Abstand zwischen Geburtstag und Einschulungs-Stichtag sollte bei klar definierten Krankheiten ja keine Rolle spielen. Auch zeigt die Verteilung der Diagnose ADHS in Deutschland, dass Kinder in manchen Städten doppelt so oft in der ADHS-Schublade landen. Wie sehr da aus der Hüfte geschossen wird, zeigen neuere Studien, nach denen sich selbst Fachärzte in der Diagnose von ADHS überwiegend nicht einig sind.
Einig sind sich aber selbst Kritiker und die Mainstream-Kinderpsychiater in einer Sache: dass nämlich bei der Behandlung häufig deshalb auf Medikamente gesetzt wird, weil die Umwelt nicht kindgerecht ist. Und das vor allem dort, wo es eigentlich um die Kinder gehen sollte – an den Schulen. Der Psychologe Peter Gray, nennt ADHS ein „school adjustment problem“, und dies scheint durch die historische Forschung bestätigt: »Erst, als Kinder nicht mehr bei der Arbeit ihrer Eltern mitgeholfen haben, sondern in der Schule mit anderen gemeinsam erzogen wurden und ganz neuen Anforderungen ausgesetzt waren, traten die Schwierigkeiten zutage«, so Sarah Hohmann, Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf.
Der bekannte Kinderpsychiater Adam Alfred schließt sich dem in einem Interview (in dem er eigentlich dem »Ritalin-Bashing« entgegentreten will) im Grunde an: »Ja, das ist ja das Traurige. Wir bräuchten sicher weniger Medikamente, wenn das Schulsystem stärker auf Unterstützung ausgelegt wäre. Wir machen immer wieder die Erfahrung: Wenn die Kinder auf verständnisvolle und gut informierte Lehrer treffen, ist das schon die halbe Miete.«
Und die bräuchten sich nicht nur auf ihre Beziehungskompetenzen verlassen, sondern auch auf die Natur. Denn experimentell lässt sich eindeutig zeigen, dass Kinder draußen weniger Aufmerksamkeits- und Verhaltensprobleme haben und dass davon insbesondere Kinder mit ADHS profitieren. Nähmen Kinder- und JugendpsychiaterInnen also ihren eigenen wissenschaftlichen Anspruch ernst, würden sie das Draußensein neben einem kindgerechten Unterricht als weitere Säule der ADHS-Therapie empfehlen (der Naturaktivist Richard Louv spricht in diesem Zusammenhang vom »natureigenen Ritalin«, das es mehr zu nutzen gelte …).
Ganz aus dem Fokus gerät oft, dass ADHS auch eine Ressource sein kann – dann nämlich, wenn die Kinder in der für sie besser passenden Umwelt leben und arbeiten können. Hier bringen sie oft außergewöhnliche (z.B. kreative) Leistungen und tragen auch für ein effektiveres Arbeiten in Gruppen bei (eine gute Übersicht dazu bei Peter Gray ). Ich selbst habe auch schon darauf hingewiesen, dass viele große Entdeckungsleistungen letzten Endes auf den Talenten von Menschen beruhen, die heute einen ADHS Diagnose hätten (anders gefragt: diese ganzen Reisen in eine neue Welt, von Vasco da Gama bis Christopher Kolumbus – könnte die jemand machen, der *nicht* ADHS hat?)
Also ist ADHS jetzt eine „Störung“, eine Ausdruck von „Neurodivergenz“, ein „Persönlichkeitsmerkmal“? Das dürfte in jedem Einzelfall unterschiedlich und auch letzten Endes schwer zu klären sein. Sicher ist aber, dass „ADHS“ nur verstanden werden kann, wenn wir auch den kulturellen Kontext mit betrachten, in dem wir heute leben. Und ganz sicher ist auch, dass für Menschen mit ADHS das für uns Menschen generell geltende Grundaxiom umso stärker gilt: Wir können nur in einer zu uns selbst einigermaßen passenden Umwelt gedeihen. Remo Largos Vermächtnisbuch hießt nicht umsonst: Das passende Leben.
((Und noch das hinterher, weil ich auf den sozialen Medien hier gleich mal ans öffentliche Kreuz genagelt wurde. Ich beziehe in dieser Übersicht in keinster Weise Stellung zu der Frage, woher das ADHS DEINES Kindes kommt – dies ist eine Zusammenfassung von möglichen Ursachen, was dafür und dagegen spricht, spreche ich jeweils an. Ich gehe hier auch in keinster Weise auf die Frage der Therapie ein, also ob ADHS behandelt werden soll oder nicht, und wenn ja wie. Ich selbst weiß dass Stimulatien ein Segen sein können, aber Leute, das ist hier nicht Frage. Und dann noch eine Bitte: Wenn ihr ein Problem habt mit dem was ich schreibe, braucht ihr mich nicht persönlich zu kränken. Lasst uns doch einfach besonnen sein und nicht immer sofort auf Angriff gehen, das macht das Leben doch auch nicht besser. Sorry an die 99% meiner LeserInnen, die das verstehen, aber es nervt wirklich!))

4 Kommentare

Anna
„ Hierzu könnte passen, dass sich bei etwa einem Drittel der mit ADHS diagnostizierten Kinder auch andere Auffälligkeiten in der Art des Denkens, der Wahrnehmung und des Verhaltens finden lassen (etwa Störungen der Feinmotorik, Teilleistungsstörungen, Tics oder Probleme im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung).“
-> das Drittel hat dann sehr wahrscheinlich auch eine Kombination mit Autismus, was sich mit Zahlen aus Studien decken würde
ADHSler haben einen unterversorgten Frontallappen. Das führt zu später entwickelten Fähigkeiten in den Exekutivfunktionen und dem Emotionsmanagement (-30%-Regel). Diese Entwicklungsverzögerung kann durch Medikamente langsam aber stetig wieder ausgeglichen werden sowie ein erhöhtes Demenzrisiko im Alter damit gesenkt werden. Es gibt genug Erwachsene, insbesondere Frauen, die undiagnostiziert durch Schule und Studium gekommen sind und trotzdem die entsprechenden Probleme hatten, die man als Diagnosekriterien in der ICD-11 nachlesen kann. Sie haben es maskiert. Weshalb durchschnittliches Diagnosealter für Männer bei 7 Jahren liegt und bei Frauen bei 30 Jahren (ca mit Kindern, wenn das Kartenhaus zusammenfällt und die Strategien nicht mehr helfen).
Es gibt viele Überlappungen zu Autismus, FASD und anderen Störungen. Wenn man es nicht schafft, diese gründlich und sauber voneinander zu trennen und Kinder dann fehldiagnostiziert werden und in Statistiken und Studien mit einfließen, ist es kein Wunder, wenn nicht ganz auseinander zu halten ist, was ADHS nun ist. Dabei ist ADHS die Entwicklungsstörung, die anhand von Zwillingsstudien, am Besten als hauptsächlich genetisch bedingte Störung untersucht ist. In der Regel haben weitere Familienmitglieder ADHS wenn das Kind ADHS hat.
Herbert Renz-Polster
Herzlichen Dank für die Ergänzungen, insbesondere zum genetischen Hintergrund! hG, HRP
mori
neuere studien zeigen auch das alle dys- stoerungen wir dyspraxia dyskalkulie und dyslexie von einen Mangel an verfuegbarer Aufmerksamkeit kommen und zwar nicht wissentlich sondern schon auf hirn ebene.
Habe selber gemerkt wie sehr sich meine Bewegung verbessert hat nach gabe von medikinet (ie gradlinig wenn es zuvor zT fast torkelig war) weil bereits im Planungsablauf von Bewegung und Erfassung die Ressourcen fehlen. Es wird ja schon gesagt, dass es kein Defizit von Aufmerksamkeit ist sondern eine Verteilungsstörung ist.
Der genetische Hintergrund ganzwichtig , gehr da gerne zurück auf Peter Schillings Goldener Reiter. Bes Frauen wurden entw gar nicht oder mit anderen Krankheiten deren behandlungserfolg geringfügig war behandelt hnd erst heute wird dies erksnnt.
Millie
Danke! Eine andere Schul-Art hätte mir als Kind sicherlich geholfen, doch es wirklich nicht mehr ausgehalten und die Diagnose bekommen habe ich erst nach dem zweiten Kind… ja zu Veränderung im Schulsystem, doch entschieden nein zu der Theorie, dass es dann kein ADHS mehr gäbe.