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Fachartikel6. Januar 2024

Politik auf dem Wickeltisch

Die Rolle der Bindung bei der Entstehung autoritärer Gesinnungen

Wenn von autoritären politischen Haltungen, Extremismus und Abwertung anderer Menschen die Rede ist, werden als Erklärung oft äußere Umstände angeführt. Etwa, dass Menschen wirtschaftlich in Not geraten, sozial absteigen oder sich durch den raschen gesellschaftlichen Wandel fremd in der modernen Welt fühlen. Diese Erklärungen sind nicht falsch – die Geschichte ist aber viel spannender. Sie beginnt dort, wo wir Menschen klein und abhängig sind: in der Kindheit.

Im Folgenden sei ein zentrales Thema der letzten Jahre genauer beleuchtet, der Rechtspopulismus. Der Begriff hat schon vom Wortbild her einen doppelten Kern. Da ist zum einen der Populismus: Darunter versteht man Richtungen, welche die Vorstellung vertreten, das (gute) Volk sei angeblich schlechten Eliten ausgeliefert, welche dem rechtschaffenen Bürger Einfluss, Macht und Kontrolle vorenthalten. Der andere Kern ist der Autoritarismus: Mit diesem Begriff wird die Neigung von Menschen beschrieben, sich in ein System von Befehl und Gehorsam einzugliedern und gleichzeitig diejenigen abzuwerten, die nicht zur eigenen Gruppe gehören – andere Ethnien etwa. Der Rechtspopulismus wird deshalb treffender auch als autoritärer Populismus bezeichnet.

Die vielen Formen des Autoritarismus

Betrachtet man den Kern des Autoritarismus, also die bedingungslose Eingliederung in eine moralisch überzeichnete Hierarchie, so verwundert es nicht, dass er kein Privileg politisch organisierter Parteien ist – und ein Privileg »rechter« Parteien schon gar nicht. Autoritäres, hierarchisches oder auf soziale Dominanz gerichtetes Denken lässt sich auch bei »linken« politischen Strömungen finden – Stalin und Mao oder ebenfalls ein Andreas Baader von der Roten Armee Fraktion können als Beispiele dienen. Aber auch in den Religionen dieser Welt sind autoritäre Strömungen zu finden – von der Sektengemeinde Colonia Dignidad über die »12 Stämme« (Anfang der 1970er Jahre in den USA von Elbert Eugene Spriggs gegründet) bis zu salafistischen Gruppierungen. Sogar in vordergründig der Freizeitorganisation gewidmeten Gruppen kann es streng autoritär zugehen. In den »Ultra«-Gruppen der Anhängerschaft von Fußballvereinen etwa sind nicht selten frauenfeindliche, antidemokratische, rassistische und antisemitische Haltungen anzutreffen, in einigen Ländern sind die »Ultra«- Gruppierungen sogar oft gleichzeitig Mitglieder rechtsradikaler oder sogar offen faschistischer Gruppierungen. Ja, der Autoritarismus hat sogar ein »systemisches« und damit fast schon anonymes Gesicht. Warum sollte nicht auch ein Bildungssystem »autoritär« sein – wenn etwa die Lernenden darin nicht nur abhängig, sondern auch ohne Macht den Lehrenden gegenüber sind? Und warum sollte nicht ein Wirtschaftssystem als »autoritär« bezeichnet werden – wenn es der Gesellschaft etwa eine unabänderliche Hierarchie von Bevorzugten und Übervorteilten aufzwingt oder die Gesellschaft gar der anonymen und angeblich nicht infragezustellende Macht »der Märkte« unterwirft?

Der autoritäre Doppeldecker

Aber auch das ist noch nicht alles. Denn eine Hierarchie, die auf Befehl und Gehorsam aufgebaut ist, lässt sich ja von oben oder von unten betreten. Der eine wird sich eher im Gefolge eingliedern und sich den Ansagen der Anführer unterordnen. Die andere aber wird eher eine der Ansagepositionen anstreben und sich nicht so gerne unter den Befehl anderer stellen. Genau diese Zweiteilung der rechtsautoritären Welt kann die Autoritarismusforschung heute gut belegen. Sie sieht den modernen Rechtspopulismus im Grunde als eine Art »Doppeldecker« (vgl. , ):

  • Unten sitzen die Gefolgsleute, sie werden nach dem klassischen Autoritarismuskonzept bis heute als »right wing authoritarians« (RWA) bezeichnet; sie orientieren sich an vorgegebenen Normen und Konventionen und zeichnen sich durch ihren Hang zu Konformität, Unterwürfigkeit und durch ihre Aggressionsbereitschaft gegenüber denen aus, die nicht zu »ihrer Ordnung« gehören.
  • Oben sitzen die autoritären Anführer, sie bringen vor allem ein ausgeprägtes Streben nach Dominanz und ihren Willen zu Kontrolle und Überlegenheit mit in den »Bus«. Diese Haltung wird als »social dominance orientation« (soziale Dominanzorientierung, SDO) bezeichnet.

Was beide Etagen teilen, sind Abwertung und Vorurteile gegenüber denen, die nicht zur eigenen Hierarchie gehören. Ansonsten aber herrscht in beiden Etagen eine durchaus unterschiedliche Stimmung. So ist man oben eher flexibel und pragmatisch (»Es geht übrigens an vielen Orten hart zu«, sagt da etwa ein Donald Trump zu seinem Sitznachbarn, um ihm zu erklären, warum ein Kim Jong-un trotz der von ihm angeordneten Massenexekutionen ein guter Mann sei). Unten dagegen ist man eher dogmatisch, da liest man dann gerne auch »heilige« Schriften, von Mein Kampf bis zur Mao-Bibel (das kann man sich in der oberen Etage schon deshalb sparen, weil man da doch eher an die Macht im Allgemeinen und an sich selbst im Besonderen glaubt).

Viele Phänomene des modernen Rechtspopulismus und insbesondere die Situation in den USA lassen sich nur mit Blick auf diesen »Doppeldecker« verstehen (in den USA ist es in den letzten Jahren zu einer politischen Amalgamisierung der beiden beschriebenen Formen des Autororitarismus gekommen; beide Etagen des »Doppeldeckers« sind sozusagen voll bepackt – damit hat die rechte Bewegung in den USA eine enorme Durchschlags- und gesellschaftliche Prägekraft entwickelt).

Erklärungen für den Aufwind des Rechtspopulismus

Dass der politisch verfasste Autoritarismus in den 2010er Jahren einen derartigen Aufschwung erlebt hat, wird oft als ein soziokulturelles Phänomen erklärt: Die Globalisierung habe viele Bürger »abgehängt«, andere seien durch den raschen kulturellen Wandel verunsichert und entwertet worden. Aus Frustration oder Protest wendeten sie sich nun der neuen Rechten zu (vgl. ).

So verständlich diese Erklärungen sind – für sich allein greifen sie zu kurz. Das zeigt sich an ihren Widersprüchen:

  • Viele »Modernisierungsverlierer« können der Verlockung von rechts anscheinend gut widerstehen. Sie stellen sich auf den Wandel der Zeit ein, ohne mit dem Finger auf Flüchtlinge, Andersgläubige oder Homosexuelle zu zeigen. Umgekehrt begegnen einem auf der autoritär-rechten Seite aber genauso gut Leute, die eindeutig nicht zu den Verlierern zählen. Sie leben komfortabel wie eh und je – und trotzdem zieht es sie nach stramm rechts. Warum bleiben trotz gleicher äußerer Belastungen die rechten Ideen beim einen haften, beim andern nicht? Warum fühlen sich die einen von dem autoritären Programm angesprochen, ja, geradezu elektrisiert, während andere davon abgestoßen sind?
  • Und auch das passt nicht zu den »äußeren« Erklärungen: Wenn der Wurzelgrund für den Rechtsruck wirklich in realen Verlusten zu suchen wäre, dann würde man von der rechten Programmatik doch eines erwarten: dass sie sich um eine bessere Absicherung der Verlierer, um soziale Gerechtigkeit, um wohnliche Städte, intakte Dörfer und so weiter dreht. Aber um was geht es in Wirklichkeit? Es geht um Kopftücher, den Islam, das »Abendland«, die Flüchtlinge, Gender-Fragen, Homosexualität – und gerne auch wieder um Juden. Neuerdings auch um die Abwehr der Wölfe.
  • Und da sind noch mehr offene Fragen: Warum werfen sich die Verlierer ausgerechnet solchen Führern an die Brust? Man denke nur an Donald Trump – sein Verhalten stellt in etwa das Gegenteil dessen dar, was sich Eltern normalerweise für ihre Kinder wünschen. Und warum fühlen sich Männer von der rechten Programmatik so viel stärker angesprochen als Frauen (70 % der AfD-Wähler sind männlich) – gibt es unter den Frauen etwa weniger »Abgehängte«? Und warum ist das rechtspopulistische Potential in manchen Länder (und Bundesländern) so viel größer als in anderen Gegenden? Und warum grassieren Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus ausgerechnet dort am meisten, wo es am wenigsten Ausländer gibt?

Tatsächlich zeigen die Auswertungen des Wählerverhaltens in Deutschland das: Entscheidende Faktoren, aus denen man auf eine rechtsautoritäre politische Vorliebe schließen kann, sind weder das Bildungsniveau noch das Einkommensniveau noch der sozioökonomische Status eines Menschen. Viel entscheidender sind dagegen die Faktoren Wohnort im Bundesgebiet, Geschlecht – und Alter.

Wie krass diese Faktoren zu Buche schlagen, zeigt das Wählerverhalten bei den letzten Wahlen in den deutschen Bundesländern: Bei den weiblichen Wählerinnen unter 25 Jahren in den westlichen Bundesländern kommt die AfD gerade einmal auf 2,9 %. Bei den ostdeutschen männlichen Wählern zwischen 45 und 60 Jahren dagegen auf 32,4 %. Also auf elfmal so viel.

Das »Missing Link«

Eindeutig: Die gängige Deutungskette des Rechtspopulismus schließt sich nicht, sie weist eine Lücke auf.

Ein erster Hinweis auf das fehlende Glied ergibt sich beim Blick auf die rechte Programmatik. Am auffälligsten ist doch ihr Grundprinzip: Es geht in dieser Agenda nur wenig um die Realität – im Gegenteil, die wird sogar aktiv geleugnet, etwa der Klimawandel. Stattdessen dreht sie sich in ihrem Kern um Fragen der Identität.

Wie stark Identitätsfragen bei der rechtsautoritären Agenda im Vordergrund stehen, zeigte sich zuletzt in den USA. Ein erratischer Präsident hat dort vier Jahre lang regelmäßig moralische menschliche Mindeststandards verletzt und missachtet, zuletzt kollabierte infolge der Corona-Pandemie auch die Wirtschaft, viele seiner Anhängen stehen heute eindeutig schlechter da als zu Beginn seiner Präsidentschaft. Und doch lagen die Zustimmungswerte Donald Trumps stets auf etwa dem gleichen Niveau – bei etwa 40 % der Wahlberechtigten; bei den Wahlen im November 2020 kam er sogar auf gut 47 %. Joe Biden auf etwas über 51 %.. (Ähnliches dürfte – auch wenn es dazu keine Umfragen gibt
– übrigens für Adolf Hitler gegolten haben, der bis zuletzt trotz Krieg und Elend den größten Teil seines Volkes hinter sich wissen konnte.)

Dass es bei der rechtspopulistischen Agenda nicht um politische Inhalte geht, kommunizierte die amerikanische Rechte vor der Präsidentschaftswahl ganz offen. Sie verzichtete auf die Ausarbeitung eines Wahlprogramms und übernahm stattdessen – als hätte sich in vier Jahren in der Gesellschaft und der Welt nichts geändert – einfach wieder das Programm der letzten Wahl. Aus »Make America great again« wurde »Make America great again, again«.

Identitätsfragen

Schauen wir uns die rechtspopulistische Agenda einmal genauer an. Die ordnet sich, auch das ist auffällig, um die immer gleichen Grundmotive: nämlich um Sicherheit, Anerkennung und Zugehörigkeit. Make America great again! Take back control! Mauern bauen! Endlich eine Stimme haben! Heimat schützen! Stolz, ein Deutscher zu sein!

Und auch etwas Zweites ist offensichtlich: Diese Suche nach Schutz und Bedeutung ist unterlegt mit einem ängstlichen, misstrauischen Blick auf die Welt und ihre Menschen. Überall lauern Bedrohungen: die Fremden, die Andersdenkenden, die Kopftuchmädchen, die Frühsexualisierung, die Islamisierung des Abendlands, die Kriminalität, die faulen Griechen. Sogar die »68er« werden wieder auf die Bühne gezogen. Immer geht der Blick auf eine verdorbene Welt, die es zu reinigen, die es zu ordnen gilt, der man Herrschaft und Struktur aufzwingen muss, die nach Hierarchie und Konvention gesichert und gezähmt werden muss. Alles, was sich nicht (angeblich) durch Härte, Bestrafung und Ausgrenzung lösen lässt, verbleibt als weiße Flecken auf der Landkarte. Themen wie Mitmenschlichkeit, Kooperation, Interessenausgleich oder die Gestaltung der Gemeinschaft sind schlichtweg inexistent. Es gibt kein Miteinander von Verschiedenem, nur ein Gegeneinander. Ich gegen dich. Christen gegen Muslime, Weiße gegen Schwarze. Mein Land gegen dein Land, das wahre Volk gegen die Volksverräter.

Das autoritäre Welt- und Menschenbild

Würde man der autoritären Haltung ein Weltbild – und das dazu gehörende Menschenbild – zuordnen, so wäre es eindeutig ein Weltbild des Misstrauens. Die Welt erscheint als feindlicher Ort, als fremde, chaotische Welt dort draußen, die einem Angst macht und vor der man sich schützen muss. In der jeder nur sich selbst verpflichtet ist und um sein Überleben kämpfen muss. Nicht umsonst werden die Verbindungen zu dieser Welt als unsicher oder gar gefährlich empfunden. Diese Weltsicht könnte am besten mit dem Begriff »Kontrolle« gefasst werden. Denn natürlich muss das Chaos dieses fremden Raums im wahrsten Sinn des Wortes unter Kontrolle gebracht werden – durch Kampf, Verteidigung, Stärke, Autorität, Besitz, Unterjochung, Strafe, Eroberung, Unterwerfung und Einhegung der Natur. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Umweltschutz im rechtsautoritären Lager nicht vorgesehen ist: Man schützt sich vor der Welt, nicht umgekehrt.

Und die Menschen, die in dieser Welt leben? Sie spiegeln diese Sicht perfekt wider. Ihnen ist nicht zu trauen, sie sind von Natur aus problematisch, egoistisch und auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Sie müssen also entsprechend erst geformt und »erzogen« und später geführt und gelenkt werden. Mit solchen Menschen arbeitet man lieber nicht auf Augenhöhe, sondern verlässt sich auf sich selbst. Auch in den Beziehungen zu den Menschen setzt man auf Konkurrenz, Kontrolle und Macht.

Die Kindheit ist politisch

In dem Beschriebenen zeigt sich ein seltsames, ganz offensichtlich mit hoher Angstbereitschaft – und gleichzeitig geringem Vertrauen – unterlegtes Muster.

Wo bildet es sich? Woran lesen Menschen ab, ob sie sich vor der Welt fürchten müssen oder ob sie vertrauen können? Wo erfahren wir, ob Wohlwollen und Kooperation geeignete »Lebensinstrumente« sind – oder ob wir besser auf Konkurrenz, Strenge und Ausgrenzung setzen? Wo bildet sich dieser innere Kompass, der die einen zu Kooperation, Fürsorge und Vertrauen zieht, die anderen aber zu Macht, Ausgrenzung und hierarchischer Ordnung?

Diese Muster – hier sind wir bei einer zentralen Grundannahme der Entwicklungspsychologie – bilden sich dort, wo wir zum ersten Mal die Ordnung der Welt kennenlernen: in der Kindheit. Hier werden wir zum ersten Mal »regiert« – und lesen daran ab, wie die uns Überlegenen mit Macht und Herrschaft umgehen. Ja, hier erleben wir überhaupt, worauf sich Beziehungen gründen: ob auf Vertrauen und Kooperation – oder auf Überlegenheit und Stärke. Und auch das erfahren wir in dieser Zeit unserer existentiellen Abhängigkeit von mächtigen Menschen: ob die Welt ein Kampfplatz ist oder eine Heimat. Ob sie trägt oder ob wir jederzeit verstoßen werden können. Ob wir eine Stimme haben oder »hörig« sein müssen.

Tatsächlich kann die Kindheit ja mit Fug und Recht auch als »Herrschaftserfahrung« verstanden werden (, ). Wo sonst spielen Macht und Autorität eine derart wichtige Rolle? Es wäre verwunderlich, wenn sich in dieser Zeit des »Regiertwerdens« nicht auch innere »Herrschaftsbilder« entwickeln würden, die auch die Vorstellungen vom Funktionieren einer Gesellschaft mit prägen.

Grundmotive der Herrschaftserfahrung

Betrachten wir die grundlegenden, in der kindlichen Abhängigkeit gemachten Grunderfahrungen, so ist eines unübersehbar: Sie lassen sich wieder den bereits angesprochenen Grundmotiven zuordnen: Sicherheit, Anerkennung und Zugehörigkeit.

Tatsächlich dreht sich die Kindheit nämlich um genau diese Themen, sie sind der Stoff unseres inneren Wachstums. Kinder verhandeln diese Motive tagtäglich, im ganz normalen Alltag, ob in den Familien oder in den Einrichtungen: Bin ich okay? Schützen die Großen mich, wenn ich in Not bin? Oder lassen die mich allein? Kann ich mitgestalten oder muss ich immer tun, was andere mir vorgeben? Bin ich der Welt gewachsen, oder bin ich beständig überfordert und gestresst? An den Antworten, die Kinder auf diese Fragen bekommen, eicht sich der Kompass, mit dem sie die Welt gestalten werden. Zeigt er auf Vertrauen oder auf: »Vorsicht, pass auf!«? Sehe ich die Welt als gebenden Ort – oder als Kampfplatz? Kurz: Trage ich in mir das Grundgefühl einer »Heimat« – oder fühle ich mich heimatlos?

Und genau dies ist die Grundthese meiner Beschäftigung mit dem Rechtspopulismus: Menschen, die in ihrer Kindheit gute Antworten auf ihre Entwicklungsfragen bekommen, sind vor den Verlockungen des autoritären Denkens geschützt. Diejenigen, denen gute Antworten hartnäckig verweigert werden, werden dadurch auf eine lebenslange Suche nach Ersatz geschickt: Die Sicherung, die sie innerlich nicht erfahren haben, suchen sie dann im Äußeren. Sie sind verletzlich – auch gegenüber den Verheißungen des Rechtspopulismus. Erst wenn wir diese Kindheitsdimension mit einbeziehen, schließt sich die Deutungskette, die die autoritäre Neigung erklären kann.

Stimmt die These?

Vielleicht nähern wir uns dieser Frage zuerst aus der Sicht der Biographieforschung. Schon von der Frankfurter Schule – Else Frenkel-Brunswik arbeitete am in die USA emigrierten Institut für Sozialforschung mit – wurde die Frage gestellt, ob die autoritäre Haltung eines Menschen auf bestimmte biografische Erfahrungen zurückzuführen sei . Tatsächlich konnten diese vor allem psychoanalytisch argumentierenden Sozialwissenschaftler empirisch nachweisen, dass Kinder, die eine auf Unterdrückung und Unterwerfung beruhende Erziehung erfahren haben, als Erwachsene zur gewaltsamen Unterdrückung anderer neigen (vgl. , ,

Die neuere Autoritarismus-Forschung geht allerdings über das Konzept von »Repression« als Erklärungsansatz hinaus. In seinem sicherlich mit Bedacht so benannten Grundlagenwerk Flucht in die Sicherheit schlägt der Autoritarismusforscher Detlef Oesterreich (, S. 108) ein erweitertes Modell zur Rolle der Kindheit bei der Entstehung autoritärer Persönlichkeitsstrukturen vor: Rechtsautoritarismus sei »das Ergebnis einer das Kind überfordernden Sozialisation.« (Hervorhebung durch HRP) »Kinder, die in ihrer Kindheit einer sozialen Realität gegenüberstehen, die sie nicht bewältigen können, sind gezwungen, sich in den Schutz und die Sicherheit von Autoritäten zu flüchten« (beide Zitate, vgl. , S. 69). Statt eigene, innere Stärke aufzubauen, bleiben diese Kinder von äußerer Stärke abhängig. Oesterreich beschreibt den Autoritarismus damit als eine lebenslange Abhängigkeit von Autorität. Dieses Muster entspräche also einer nachwirkenden Sozialisationskrise – es wäre Folge und Spiegel einer Kindheit, in der die Kinder keine eigene emotionale Sicherheit haben aufbauen können.

Man kann sich der Frage nach den Wurzeln autoritärer Haltungen aber auch von der positiven Seite, dem Gegenpol, her nähern. Genau das hat zuletzt der Kriminologe Christian Pfeiffer getan: In einer Studie hat er die Gemeinsamkeiten von Menschen zusammengefasst, die durch ihr hilfsbereites und mutiges Verhalten andere gerettet haben. Er wertete dazu vor allem die biografischen Untersuchungen zu etwa 400 Judenrettern aus (vgl. ). Das Ergebnis: Faire, hilfsbereite, zugewandte Erziehung fördert faires, hilfsbereites, zugewandtes Verhalten.

Landkarten der kindlichen Not

In einem größeren Maßstab lässt sich den prägenden Kindheitsmustern des Autoritarismus aber auch durch die Auswertung länderübergreifender Datenbestände näher kommen.

Dazu würde ich gerne ein paar der Landkarten vorstellen, die ich für mein Buch Erziehung prägt Gesinnung analysiert habe. Wirft man ein grobes Raster über die Erde und lässt darauf die Diktaturen und Oligarchien aufleuchten, dann decken sich diese politischen Hotspots ziemlich genau mit einer anderen Landkarte – nämlich der von der Unicef und anderen Organisationen erstellten Landkarte widriger Kindheiten. In diesem Datenbestand von etwa 100 Ländern weltweit werden vor allem die Gewalt- und Missbrauchserfahrungen durch Eltern und Angehörige erfasst. Und eindeutig lässt sich daran eines ablesen: Wo Kinder schlecht behandelt werden, hat der politische Autoritarismus leichtes Spiel . Dass sich diese Landkarte nicht einfach über den Faktor Armut erklärt, zeigt sich schon daran, dass zu den Ländern mit den widrigsten Kindheitsbedingungen auch sehr reiche Länder wie etwa die Golfstaaten gehören.

Eine noch eindrücklichere Landkarte liefern die USA: Ordnet man die Zustimmungsraten der Bürger zur körperlichen Züchtigung von Kindern in eine Rangfolge, so sind die 22 höchstplatzierten Bundesstaaten allesamt republikanische: Strenge Vorstellungen von Erziehung münden in strenge Vorstellungen von Politik.

Eine dritte Landkarte betrifft Deutschland, sie ist für mich die überraschendste. Ein Team um die Autoritarismusforscherin Gerda Lederer verglich nämlich direkt nach dem Fall der Mauer die bei jugendlichen Schülern und Schülerinnen diesseits und jenseits der innerdeutschen Grenze zu messenden autoritären Haltungen – wie z. B. Fremdenfeindlichkeit oder auch die fehlende Bereitschaft, sich ungerechten Befehlen zu widersetzen. Die Erwartung war, dass die in einer auf Solidarität, Völkerverständigung und Antifaschismus ausgerichteten Gesellschaft aufgewachsenen Jugendlichen der DDR eine geringere Neigung zu autoritären Positionen hätten. Das krasse Gegenteil war der Fall – in allen befragten Dimensionen, und zwar deutlich.

Welche Einflüsse?

Die letzte Landkarte ist deshalb interessant, weil sie einen Hinweis enthält, dass im Hinblick auf Autoritarismus nicht nur die Erziehung in der Familie, sondern auch die in den Bildungseinrichtungen wirkmächtig sein kann. Denn der Erziehungsstil in den meisten Familien war damals in der DDR nicht viel anders als in der BRD (dass gewisse Unterschiede in einer Minderheit von Familien bestanden, werden wir gleich noch sehen). Sicher aber waren die Kinder in der DDR außerhalb der Familien von klein auf sehr intensiven Sozialisierungserfahrungen in den Bildungseinrichtungen ausgesetzt. Und dass diese in weiten Teilen von Überforderung und einem Mangel an Bedürfnisorientierung gekennzeichnet waren und auch eindeutig autoritäre Züge trugen, zeigen z. B. Übersichtsarbeiten von Agathe Israel und anderen (, ). Kinder mussten sich in den Krippen und Kitas größtenteils von klein auf unterordnen, die Betreuungszeiten waren extrem lang. Die meiste Zeit haben die Kinder also in »hörigen« Positionen ohne Widerrede verbracht. Sie sollten im Kollektiv funktionieren, die Bedürfnisse des einzelnen Kindes standen nicht im Fokus. Der Personalschlüssel war außerdem so eng bemessen, dass der Tagesablauf nur durch ein striktes Reglement zu schaffen war. Dass ein solches Aufwachsen zumindest Spuren hinterlässt – und bei manchen vielleicht sogar einen Mutterboden für autoritäre politische Versprechungen – erscheint mir als plausibel.

Dass aber die familiären Einflüsse dabei keineswegs aus dem Blick geraten sollten, zeigte kurz vor der Jahrtausendwende ein Team um den Autoritarismusforscher Klaus Ahlheim. Er nahm sich die 1989 an 900 west- und ostdeutschen Jugendlichen erhobenen Daten noch einmal vor und untersuchte sie im Hinblick auf die Erziehungsstile, die in den jeweiligen Elternhäusern praktiziert wurden. Ihn interessierte brennend, ob eine Erziehung, die Selbstakzeptanz und Mitsprache fördert, vor Fremdenfeindlichkeit schützen kann. Als Kennzeichen einer solchen Erziehung definierte er vier Kriterien: liebevoll, demokratisch, zuverlässig und gewaltfrei.

Das Ergebnis beschreibt er selbst als »ebenso eindeutig wie eindrucksvoll«: Jeder der Faktoren hatte schon für sich allein einen deutlichen Einfluss auf die gemessene Fremdenfeindlichkeit . So zeigten liebevoll erzogene Jugendliche nur in 10 % der Fälle eine fremdenfeindliche Orientierung – bei den nicht liebevoll Erzogenen waren es fast doppelt so viele. In einem demokratischen Familienklima aufgewachsene Jugendliche waren zu 9 % fremdenfeindlich eingestellt – diejenigen, die zu Hause wenig zu sagen hatten, dagegen zu 14 %. Für die Zuverlässigkeit der Eltern war der Einfluss mit 8 % (verlässlicher Erziehungsstil) zu 15 % (unberechenbarer Stil) noch stärker. Am deutlichsten wurden die Unterschiede, als die Forscher die vier Erziehungsmerkmale bündelten. Von den Jugendlichen, die alle vier Kriterien in ihrer Erziehung erleben durften, zeigte nur jeder Zwanzigste eine fremdenfeindliche Gesinnung – bei denen, auf deren Erziehung keines der vier Merkmale zutraf, waren es über viermal so viele, nämlich 22 %. Kurz: Erziehung zur Mündigkeit wirkt – und wie.

Wie dringend erforderlich diese Art der Erziehung wäre und wie groß ihr noch nicht ausgeschöpftes Potential ist, zeigt eine weitere Analyse, die die Forscher in dieser Studie angestellt haben: »Eine Erziehung, die alle vier Merkmale in sich vereint, haben nur 8 Prozent der westdeutschen und gerade 1 Prozent der ostdeutschen Jugendlichen erfahren.«

Je jünger, desto weniger autoritär gesonnen?

Der eigentliche Lackmustest für die Kindheitsthese aber ist der: Wenn der Kindheit wirklich Schutz- bzw. Verführungskraft gegenüber autoritären politischen Haltungen zukommt, dann müsste der Wandel hin zu einer liberaleren, beziehungsvolleren, weniger autoritären Erziehungskultur, den wir seit den 1960er Jahren insbesondere in Nord- und Teilen Mitteleuropas erlebt haben, tatsächlich eine politische Dividende eingebracht haben.

Und tatsächlich: Diese Dividende lässt sich klar beschreiben — dem Aufstieg der AfD zum Trotz. Denn zum einen: Wir leben heute in der liberalsten, offensten, vielfältigsten und dazu noch »weiblichsten« Gesellschaft, die es auf deutschem Boden jemals gab. Und zum zweiten: Im geschichtlichen Vergleich haben autoritäre Gesinnungen über die letzten Generationen tatsächlich kontinuierlich abgenommen. Zwischen 2002 und 2016 ist z. B. der Anteil der Menschen mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild in Deutschland von 9,8 auf 5,2 % abgefallen (in den westlichen Bundesländern fiel diese Rate von 11,3 auf 4,8 %, im Osten blieb der Anteil etwa gleich) (vgl. ).

Dieser Trend hin zu liberaleren Gesinnungen zeigt sich insbesondere unter den Jüngeren, die tatsächlich in fast allen Staaten (auch in Deutschland) als Wählergruppe am wenigsten nach »stramm rechts« neigt (wer von diesen Aussagen überrascht ist, möge daran denken, dass schon einmal in sieben Landesparlamenten eine Partei namens NPD saß. Oder daran, wie man in der BRD in den 1960er und 70er Jahren mit den »Gastarbeitern« umgegangen ist. Oder daran, dass eine Position wie »Kinder statt Inder« einmal ein ganz normales, bürgerlich-konservatives Programm war). Tatsächlich kam die AfD bei der letzten Europawahl bei den Jungwählern (also bei den unter 25-Jährigen) in Deutschland nur auf insgesamt 5 % der Stimmen. Auch in den USA hätte Donald Trump nicht den Hauch einer Chance, wenn es nur nach den jüngeren Wählergruppe ginge — nur 37 % der 18- bis 29- Jährigen Wählerinnen und Wähler haben bei der letzten Wahl 2016 republikanisch gewählt (insgesamt haben 46 % der Wähler und Wählerinnen damals für Trump gestimmt) (Daten nach ).

Noch interessanter ist vielleicht der Blick auf die Ausnahmen — also dorthin, wo die Jüngere Generation diesem Trend weg von autoritären politischen Überzeugungen eben nicht folgt. Etwa in den östlichen Bundesländern Deutschlands (dort ist die AfD in manchen Bundesländern bei den Erstwählern sogar die beliebteste Partei). Oder in Frankreich, wo der Rassemblement National auch die Jungen stark anzieht. Oder in den ländlichen Regionen Osteuropas. Oder im US-amerikanischen »heartland«, also den landwirtschaftlich geprägten Bundesstaaten der Landesmitte und des Südens. In diesen Gegenden scheinen die Jüngeren ähnlich autoritär zu denken wie die Älteren.

Was könnte diese (leider sehr umfassenden) »Ausnahmen« erklären? Nach meiner Auffassung sind wir hier wieder bei den Kindheiten und darin erlebten Erziehungsmustern. Tatsächlich zeichnen sich die genannten Länder und Bundesländer durch eines aus: dass sich dort die vorherrschenden Erziehungsmuster am wenigsten geändert haben. In den amerikanischen Flyover States werden die Kinder heute noch in hohem Maß durch Prügel, Beschämung und Ausgrenzung diszipliniert, und die Kindheitserfahrungen sind gerade in diesen Bundesstaaten — das zeigt ein US-amerikanischer Datensatz einer großen Versicherungsgesellschaft — mit vielen Widrigkeiten verbunden.

Und in Deutschland? Auch wenn es dazu keine systematische Erhebung gibt, so muss doch davon ausgegangen werden, dass gerade in den östlichen Bundesländern widrige Kindheitsbedingungen häufiger vorkommen als in den westlichen Bundesländern — schließlich sind die östlichen Bundesländern bei allen damit zusammenhängenden Indikatoren — von Kinderarmut über Alleinerziehungsverhältnisse, Arbeitslosigkeit bis zu schlechten Betreuungseinrichtungen — führend.

Kindheit wagen!

Ich blicke deshalb mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. Einerseits besteht Grund für Optimismus. Ja, wir haben in Deutschland ein Rechtspopulismusproblem — aber wir haben auch einen wunderbaren Schutz, den effektivsten und einzig nachhaltigen, den es gibt: Kindheitsressourcen. Wir haben in den »guten Jahren« viel menschliches Land gewonnen. Andererseits scheint Deutschland in Sachen Sozialisationsbedingungen noch immer in zwei Welten zu zerfallen, und diese Tatsache lässt mich mit Sorgen in die Zukunft blicken: Was passiert in diesen reichen Jahren in den östlichen Bundesländern?

Für mich ist die Antwort auf die rechtspopulistischen Verlockungen deshalb vor allem: Wir müssen alles tun, um die Kindheiten zu stärken. In den Familien und in den Einrichtungen. Sicherheit, Anerkennung und Zugehörigkeit — das sollte dort im immer wieder neu geschaffen, zusammengefügt und gegen die Ökonomisierung des Lebens verteidigt werden. Denn aus diesem »Kleeblatt« bildet sich eine innere Heimat — wer sie hat, wird sie nicht bei politischen Verführern suchen müssen.

Wo sollte der Storch landen? Eine persönliche Zusammenfassung und ein Praxisbeispiel

Menschenbilder begründen Kinderbilder, Kinderbilder begründen Erziehungsmuster. Daher begegnen uns auch in der Erziehungsdebatte auf Schritt und Tritt die in dem Text angeklungenen Gegensatzpaare: Vertrauen versus Kontrolle, Beziehung versus Regelwerk. Alle Eltern stehen irgendwo zwischen diesen Polen. Und behandeln ihre Kinder entsprechend.

Dabei haben doch auch in der Erziehung alle Eltern das im Grunde gleiche Ziel! Das Kind soll in die Lage versetzt werden, das Richtige zu tun. Es soll die Herausforderungen der Zukunft annehmen können. Es soll, in diesem Sinne, »erfolgreich« sein.

Nur, ähnlich wie in der politischen Arena gehen die Fragen dann ja erst los: Was genau ist das Richtige, das mein Kind einmal tun soll? Und: Wie bringe ich mein Kind dazu, das Richtige dann auch zu tun? Und schon verweist der Kompass die Eltern wieder auf unterschiedliche Pfade.

Je nachdem, wohin die Nadel zeigt, landen die einen bei einem eher responsiven — auf die Bedürfnisse des Kindes ausgerichteten — Erziehungsstil, die anderen bei einem eher direktiven — auf die Ziele der Erwachsenen eingestellten — Stil. Die einen betonen die Beziehungsebene (Hauptsache, wir kommen gut miteinander klar), die anderen die Verhaltensebene (Hauptsache, du verhältst dich so, wie du sollst).

Woran zeigt sich, wohin die elterliche Kompassnadel zeigt?

Wie viel Nähe, wie viel Distanz?

Nehmen wir gleich die alte Frage: Wie viel emotionale und auch körperliche Nähe »dürfen« Eltern ihren Kindern geben? Hier steht auf der autoritär-konservativen Seite die Sorge im Mittelpunkt, das kleine Kind könne dadurch, dass man auf seine Bedürfnisse nach Nähe und engem Kontakt eingeht, vielleicht verdorben werden. Und das in doppelter Hinsicht: Zum einen könnten die Kinder durch die »weiche« Behandlung vielleicht verwöhnt, also träge, fordernd und faul werden — was als Vorbereitung auf das eher harte Leben eher nachteilig sein dürfte. Zum anderen aber könnten die Kinder dabei lernen, sich ihren Eltern gegenüber durchzusetzen — und so zu den gefürchteten »Tyrannen« werden. Schließlich sind es ja dann die Eltern, die ihrem Kind nachgeben, wenn es beispielsweise nach Begleitung in den Schlaf verlangt. Oder sein Gemüse nicht mag und dann auch nicht essen muss. Entsprechend weit verbreitet ist die Hoffnung, Kinder kämen in ihrer Entwicklung voran, wenn man ihnen auch einmal gegen ihren Willen etwas abverlangte — sie etwa auch einmal weinen ließe, statt sie gleich aufzunehmen und zu trösten. Kinder, so die Meinung, würden dadurch ihre Kräfte mobilisieren und ihre Abhängigkeit von den Erwachsenen überwinden.

Auf der anderen Seite des Erziehungsgrabens vertrauen Eltern darauf, dass Kinder, die emotional gefestigt sind und sich wohlfühlen, dieses Kapital auch nutzen, um neugierig die Welt zu erobern — und dadurch dann wachsen und ihre Abhängigkeit von den Eltern überwinden. Für diese Eltern ist also die geglückte Bindung kein Widerspruch zur Entwicklung von Selbständigkeit, sondern im Gegenteil deren Antrieb und ein »Sprungbrett« dorthin. Entsprechend schön finden es die Eltern in diesem Lager, ihren Kindern das Nest behaglich auszukleiden. Dass man Kindern Frustration zumuten müsse, damit sie ihre »Flügel« benutzen, glaubt man in diesem Lager nicht. Ganz im Gegenteil, man ist der Meinung, Erfolg und nicht Scheitern verhelfe den Kindern zu Selbstvertrauen und seelischer Stärke.

Wie viel Freiheit, wie viele Grenzen?

Eltern mit eher autoritär-konservativen Grundhaltungen rücken bei der Erziehung ihrer Kinder die Einhaltung von Normen in den Mittelpunkt. Sie setzen deshalb auf Grenzen, Konsequenzen, Regeln und Strafen. Früher setzte man dabei vor allem auf körperliche Züchtigung, heute eher auf »Auszeiten«, zur Schau gestellte schlechte Laune oder den Verlust von Privilegien (»>Nein, das Computerspielen ist heute gestrichen«). Kinder sollen durch diesen äußeren Rahmen lernen, sich so zu verhalten, wie es von ihnen erwartet wird. Wie sollen Kinder sonst lernen, ihren Trotzkopf und Eigensinn zu überwinden?

Im anderen Lager schüttelt man darüber den Kopf. Die auf Grenzen und Konsequenzen bedachten Eltern seien wie Gärtner, die die ganze Zeit mit der Ausbesserung des Gartenzauns beschäftigt seien — und darüber das Gärtnern vergessen. So der Nürtinger Heilpädagoge Henning Köhler. In diesem Lager geht man davon aus, dass Kinder von sich aus kooperieren, wenn ihre Bedürfnisse gestillt sind und sie sich in der Familie wohlfühlen. Wenn Kinder mitfühlend, großherzig und großzügig behandelt werden, dann werden sie — so die Annahme — auch tatsächlich mitfühlend, großherzig und großzügig! Das wiederum bringt diesen Eltern dann vom anderen Lager den Vorwurf ein, sie wollten in Wirklichkeit mit ihren Kindern befreundet sein. »Wenn wir nicht befehlen und strafen, dann sind wir notwendigerweise der Ansicht, dass kleine Kinder sich gegen ihren Autositz im Auto entscheiden können« (, S. 59), wie der US-amerikanische Psychologe Alfie Kohn kommentiert.

In der Tat, ein ewiges Hin und Her.

Wer hat recht?

Wer die Frage »Wer hat recht?« stellt, stellt eine gute, allerdings nicht sehr praktische Frage. Ihre Antwort hängt nun einmal vom Auge — oder vom Herzen — des Betrachters ab. Insofern können Eltern immer für sich in Anspruch nehmen, im Recht zu sein. Aber wie sieht es für die Kinder aus? Für sie zählt letzten Endes nicht die Absicht, nicht die Methode und auch nicht das Menschenbild ihrer Eltern. Für das Kind zählt einzig und allein, wie viel seelische Sicherheit es bei seinem Aufwachsen gewinnen kann.

Ein Beispiel aus dem Alltag

Der kleine Tim weigert sich weinend, seine Jacke anzuziehen, wenn er morgens von seinem Vater in die Kita gebracht werden soll. Wie reagiert der Vater?

  • A) Er denkt sich: Jeden Morgen dasselbe Theater! Tim hat wirklich keinen Grund, so ein Drama zu machen. Und das morgens, wo die Nachbarn noch schlafen! »Sei jetzt still«, zischt er, »du weißt genau, wie kalt es draußen ist! Und wenn du jetzt nicht die Jacke anziehst, dann wird es mit dem Besuch im Streichelzoo heute Mittag nichts!«
  • B) Oder er sagt: »Das tut mir in der Seele weh, dass du morgens so früh raus musst! Ich denke ja schon eine Weile darüber nach, ob dich die Kita nicht vielleicht überfordert … Aber Papa muss nun einmal um 8 Uhr bei diesem blöden Job sein! Ich habe ja alles versucht, das zu ändern, aber es geht nicht! Das tut mir so leid für dich! Aber schauen wir doch mal, bestimmt finde ich nachher im Auto einen kleinen Trost für dich, du magst doch die Lakritzbärchen so sehr!?«
  • C) Oder der Vater beugt sich zu Tim hinunter und sagt ihm, dass er dessen Wut verstehen kann: » Vielleicht gehst du ja einfach morgens nicht so gerne aus dem Haus — das ist bei mir eigentlich auch so. Obwohl ich dann meine Arbeit ganz gerne mag. Ich packe die Jacke einfach mit ein, und du sagst mir, falls du sie brauchst?«

In jeder Variante kommt bei Tim etwas anderes an. Einmal lernt er, dass seine eigenen Gefühle eigentlich »schlecht« sind — und dass sie auch nicht zählen. Der Tim in Variante A denkt sich: »Mein Vater schämt sich für mich, wenn ich traurig bin.«

Ein anderes Mal lernt Tim, wie schlimm es ist, morgens so früh aus dem Haus zu müssen, und dass Papa die Kita, in die er geht, vielleicht gar nicht so gut findet. Der Tim in Variante B denkt sich also: »Wenn wir beide nur zu Hause bleiben könnten, dann würde es Papa vielleicht auch besser gehen. «

Im letzten Beispiel lernt Tim, dass er wahrgenommen und verstanden wird. In Variante C lernt er: »Es ist okay, wenn man früh morgens nicht so viel Lust hat, aus dem Haus zu gehen. Aber der Tag kann trotzdem schön werden, wenn man rausgeht. Mein Vater kümmert sich um mich. Er zwingt mich nicht, die Jacke anzuziehen. Aber er sorgt dafür, dass ich sie habe, wenn ich sie brauche.«

In echte Beziehungen treten schafft Sicherheit

Dieses Beispiel zeigt für mich —- und das ist für mich auch die einzig mögliche Interpretation der Fachliteratur —, dass ein auf Vertrauen gepoltes Erziehungssystem am besten geeignet ist, um Kindern innere Sicherheit zu vermitteln. Insofern sollten Kinder tatsächlich den Storch bitten, sie bei Eltern auf dieser Seite des ewigen Grabens abzusetzen!

Allerdings — das als erste Einschränkung hinterher — sollten sie dann auch ganz doll darauf hoffen, dass sie dort auch ein spannendes Umfeld vorfinden, in dem sie sich als Kinder bewähren und ausprobieren können. Man kann nämlich auf jeder Seite des Grabens seine Kindheit verplempern, wenn es darin nur um die Pläne und Animierprogramme der Erwachsenen geht. Bindung ohne Freiheit funktioniert für Menschenkinder nicht.

Und vielleicht ist das ja der Grund, warum selbst »ideal« Erziehende kein Anrecht auf ideale Kinder haben. Ob all die Wünsche und all die Liebe dann auch beim Kind ankommen, hängt auch davon ab, wie sicher und stark die Eltern selbst im Leben stehen. Ob sie leuchtende Augen haben oder matte Augen, ob sie mit Freude auf die Welt blicken oder mit Furcht. Ja, vielleicht sind Kinder, deren Eltern sie streng, aber mit leuchtenden Augen erziehen, besser dran als Kinder, die »responsiv« erzogen werden, aber von Eltern, denen nicht wohl in ihrer Haut ist. Das heißt nicht, dass Eltern Kindern alles Mögliche zumuten können — nein, Kinder haben kindliche, kleine Belastungsgrenzen. Aber Kinder können großzügig sein, solange ihre Eltern beflügelt sind und dazulernen.

 

(Dieser Text wurde zuerst in dem von Karl-Heinz Brisch herausgegebenen Buch „Bindung und psychische Störungen: Ursachen, Behandlung und Prävention“ veröffentlicht (Klett-Cotta 2021). Grundlegendes zu diesem Thema behandelt das Buch des Autors: Erziehung prägt Gesinnung (2019). Einige Passagen in diesem Kapitel stammen aus diesem Werk, etwa der Abschnitt »Wo sollte der Storch landen?«).

Bis zum 16. Januar ist die E-Book Version von „Erziehung prägt Gesinnung“ für 4,99 € (statt 19,99 €) erhältlich.

"Mit Herz und Klarheit – Wie Erziehung heute gelingt und was eine gute Kindheit ausmacht" ist soeben erschienen. Dieses Buch ist ein Wegweiser für eine erfüllende und gelingende bedürfnisorientierte Familienzeit.
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4 Kommentare

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  • Jutta Gut

    Ein sehr interessanter Artikel. Aber heißt das, das man Menschen mit einer autoritativen Gesinnung nicht mehr umdrehen kann? Dass bei ihnen hopfen und Malz verloren ist, weil sie in ihrer Kindheit die falschen Erfahrungen gemacht haben?

    • Eine Kollegin, nicht pädiatrisch

      naja, irgendwo heißt es doch „für eine glückliche Kindheit ist es nie zu spät“ .. 😉
      ganz so einfach ist es sicherlich nicht, aber:
      Natürlich kann man das „umdrehen“, wenn die Betroffenen dabei geholfen wird, mit Selbstreflexion ihre Kindheit aufzuarbeiten.
      Viele verteidigen ihre autoritären Eltern und ihre schlechte Kindheit reflexhaft, damit sie sich nicht minderwertig fühlen und sich diese Wunde, sich als Kind wertlos gefühlt zu haben, nicht eingestehen müssen. Aber trotzdem haben viele ja einen Leidensdruck, zB ein Benachteiligungserleben. Oder andere Bruchstellen im Leben, wie zB zerbrochene Beziehungen. An diesen Punkten kann man ansetzen, um das dann aufzuarbeiten, aber das braucht sicherlich häufig zumindest ein bisschen professionelle Hilfe.
      Und dann gibt es noch etliche, die merken selber, dass sie es nicht schön hatten und möchten es ja auch mit ihren eigenen Kindern bewusst anders machen und brauchen eben dabei noch etwas Schützenhilfe, um nicht wieder automatisch in die eigenen Muster zu verfallen.
      So verstehe ich das.
      Was HRP ja auch sagt: Das gesellschaftliche Gesamtklima verschiebt den Regler in guten Zeiten zugunsten schöner Kindheiten und in Kriegszeiten und erlebtem Mangel eher in Richtung Strenge. Ein Auftrag für die ganze Gesellschaft und die Politik also – gerade was das Fördern guter Bindungserfahrungen für die Kleinsten angeht.

      Das Fazit, das ich daraus ziehe: Die Kindheit ist SOOO wichtig und unser Job als Eltern erst recht! Wie wertvoll und was für ein Schatz, wenn wir uns bemühen, das gut zu machen!

  • Martina U.

    Vielen Dank für den interessanten Artikel.
    Er macht mir Hoffnung, denn in letzter Zeit sehe ich auch gute Freunde, die eigentlich keinen Grund zu klagen haben, immer öfter in rechte Parolen abrutschen.
    Dennoch war der Text auch für mich als Akademikerin etwas anstrengend zu lesen – viele hören vielleicht schon nach 2 Absätzen auf. Gibt es denn die Möglichkeit, die Posts auch in „einfacherer Sprache“ zu veröffentlichen?
    Danke!