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Was schützt Säuglinge vor dem Plötzlichen Kindstod?
Ein evolutionär-entwicklungsbezogenes Erklärungsmodell
Die SIDS-Forschung zeigt zweierlei. Nämlich, dass der Plötzliche Kindstod fast immer mit bestimmten Risikofaktoren zusammenhängt.Im Einzelfall weiss natürlich niemand, wie viel diese Risiken genau beitragen, und es ist mir auch wichtig zu erwähnen, dass es durchaus auch SIDS-Fälle ohne diese Risikoeinflüsse gibt, letztere Fälle sind aber sehr selten Sie sind den meisten Eltern geläufig und umfassen etwa die Bauchlage, ein ungünstiges Schlafumfeld mit schwerem Bettzeug, Kissen, zu weichen Matratzen, Zigarettenrauchen etc.
Die SIDS-Forschung zeigt gleichzeitig aber auch: Die Risiken allein erklären den Plötzlichen Kindstod nicht gut (ich erkläre das im Detail hier). Denn nur ein kleiner Bruchteil der Säuglinge verstirbt ja, wenn die genannten Risiken auf sie treffen.
Die wirklich spannende Frage der SIDS-Forschung ist also eigentlich die Frage nach der Resilienz: Was schützt die Säuglinge vor SIDS?
Um diese Frage dreht sich unsere Mitte 2024 erschienene Veröffentlichung, in der wir die bisherigen Forschungsergebnisse zu SIDS in einem neuen Erklärungsmodell zusammenfassen. Wir – das ist eine Arbeitsgruppe aus Expert*innen in Public Health, SIDS-Epidemiologie, Entwicklungsneurologie, Schlafforschung, Anthropologie und Pädiatrie – versuchen dabei SIDS mit der evolutionären Verhaltensforschung und der Entwicklungsneurologie zusammenzudenken. Deshalb heisst unser Modell: evolutionär-entwicklungsbezogenes Modell von SIDS.
Und das sind unsere Annahmen
Aus evolutionärer Sicht ist der plötzliche Tod eines ansonsten offenbar gesunden Säuglings schlichtweg ein Nonsense-Ereignis: Warum sollte ein Säugling nach einer aufwändigen Schwangerschaft einfach versterben – ohne dass sich dafür ein Grund finden liesse? Aus evolutionärer Sicht wäre vielmehr das anzunehmen: dass ein menschlicher Säugling mit genug Schutz ausgestattet ist, damit eben das nicht passiert. Schutz etwa, der ihm ermöglicht, seine Atemwege unter allen Umständen frei zu halten. Oder sein Köpfchen aus einer möglichen Gefahrenzone zu manövrieren.
Dieser Schutz sollte entweder werkseitig mitgeliefert sein – oder aber sich im Zuge der normalen Entwicklung aufbauen.
Bestätigung durch die Säuglingsforschung
Und tatsächlich kann die Säuglingsforschung – die wir für diese Fragestellung intensiv durchleuchten – beides bestätigen: Der Säugling bringt ein angeborenes Schutzprogramm mit, er muss dieses dann aber auch erweitern und neue Schutzstrategien entwickeln.
Das mitgelieferte Schutzverhalten ist allen Eltern bekannt – es besteht aus den angeborenen Säuglingsreflexen: Der kleine Säugling „weiß“ genau, dass er sein Köpfchen heben muss, wenn er keine Luft durch seine Nase bekommt. Er „weiß“ auch, dass er dann seinen Kopf wegdrehen muss, wenn das Heben des Kopfes nicht ausreicht. Und sein Ärmchen geht dann automatisch auch noch schützend nach vorne …
Dieses angeborene, auf automatische Reflexe aufgebaute Schutzprogramm ist ungeheuer effektiv. Aber es hat auch ein Problem – eine Sollbruchstelle geradezu: Dieses Programm muss sich nämlich irgendwann in weiten Teilen auflösen.
Gefragt: ein anderes, neues Schutzverhalten
Nach der Neugeborenenzeit – also dem ersten Lebensmonat – muss der Säugling nämlich nach und nach seine fein gesteuerte Willkürmotorik ausbilden, da darf das Baby dann nicht mehr nur „von Schnürchen gezogen“ sein. Jetzt müssen neue Strategien zum Schutz vor Gefahren her, und sie bestehen darin, dass der Säugling sein Schutzverhalten jetzt allmählich auf ein komplexes, vom Großhirn gesteuertes, und damit auch letzten Endes „erlerntes“ Programm umstellt.
Und diese Umstellung vom „angeborenen“ auf einen „erlernten“ Schutz, das zeigen Myrthle Mc Graw´s Experimente vor bald schon 100 Jahren (!), passiert zwischen dem 2. und 5. Lebensmonat – genau in der Zeit also, in der der Plötzliche Kindstod bei weitem am häufigsten vorkommt (85% der SIDS-Todesfälle passieren in diesem Zeitraum).
Manchmal ist der Übergang schwierig
Es scheint also, wie wenn manche Säuglinge mit der Umstellung vom angeborenen auf den erworbenen Schutz Probleme hätten – und das passt gut zu dem Paradox, dass der erste Lebensmonat in Sachen SIDS tatsächlich eine Art relative Schutzzone darstellt: Anders als bei den anderen Ursachen der Säuglingsserblichkeit sind die unreiferen Säuglinge vom Tod durch SIDS ja seltener betroffen als die schon etwas älteren Säuglinge!
Damit stehen aber nur weitere Fragen im Raum: Warum schaffen manche Säuglinge diesen Übergang gut und bauen zeitgerecht ein effektives, „erlerntes“ Schutzverhalten auf, andere dagegen nicht?
Erschwertes „Umlernen“
Auch zu dieser Frage gibt es sehr detaillierte Vorarbeiten, die im Grunde diese Antwort geben: Manche Säuglinge haben wohl ein „entwicklungsbedingtes Handicap“ – bei ihnen funktioniert sozusagen das „Umlernen“ nicht so gut. Und für dieses Handicap gibt es gleich zwei mögliche Gründe, und beide passen gut zu den Befunden der SIDS-Epidemiologie:
- zum einen kann es sich um biologische Handicaps handeln – dass also ein körperliches Problem vorliegt, durch das die Säuglinge neue Regulationsfähigkeiten nur schwer aufbauen können. Etwa weil sie im Mutterleib widrigen Bedingungen ausgesetzt waren, die ihre Gehirnentwicklung gestört haben (hier ist insbesondere das Rauchen in der Schwangerschaft zu nennen, das tatsächlich bei einem großen Teil der SIDS Fälle zumindest eine mitverursachende Rolle spielt)
- zum anderen aber kann es sich bei diesen „entwicklungsbedingten Handicaps“ auch um fehlende Übungsgelegenheiten handeln.
Lernen durch Erfahrung
Die letztere Überlegung ist ungeheuer spannend, denn die SIDS-Forschung kann klar zeigen, dass manche Fälle von SIDS auch mit mangelnden Vorerfahrungen zusammenhängen. Krass gesprochen also mit fehlender Übung. Die Bauchlage etwa ist dann besonders gefährlich, wenn ein Baby ohne bisherige Vorerfahrung in Bauchlage schläft.Literatur dazu:
• Klonoff-Cohen, H. S., & Edelstein, S. L. (1995b). A case-control study of routine and death scene sleep position and sudden infant death syndrome in Southern California. Journal of the American Medical Association, 273(10), 790–794.
• L’Hoir, M. P., Engelberts, A. C., van Well, G. T., McClelland, S., Westers, P., Dandachli, T., Mellenbergh, G. J., Wolters, W. H., & Huber, J. (1998). Risk and preventive factors for cot death in the Netherlands, a low-incidence country. European Journal of Pediatrics, 157(8), 681–688. https://doi.org/10.1007/ s004310050911
• Li, D. K., Petitti, D. B., Willinger, M., McMahon, R., Odouli, R., Vu, H., & Hoffman, H. J. (2003). Infant sleeping position and the risk of sudden infant death syndrome in California, 1997–2000. American Journal of Epidemiology, 157(5), 446–455. https://doi.org/10.1093/aje/kwf226
• Mitchell, E. A., Thach, B. T., Thompson, J. M. D., & Williams, S. (1999b). Changing infants’ sleep position increases risk of sudden infant death syndrome. Archives of Pediatrics & Adolescent Medicine, 153(11), 1136–1141. https://doi.org/10.1001/archpedi.153.11.1136
• Moon, R., Oyen, N., Markestad, T., Skaerven, R., Irgens, L. M., Helweg-Larsen, K., Alm, B., Norvenius, G., & Wennergren, G. (1997). Combined effects of sleeping position and prenatal risk factors in sudden infant death syndrome: The Nordic Epidemiological SIDS Study. Pediatrics, 100(4), 613–621. https://doi.org/10.1542/peds.100.4.613 Und auch für das Elternbett lässt sich zeigen, dass Babys, die routinemäßig im Elternbett schlafen davon kein erhöhtes SIDS-Risiko haben, Babys, die unverhofft im Elternbett schlafen dagegen schon.
Und das wiederum bringt uns zurück zu unserem evolutionsbiologischen Ansatz: Betrachtet man die Entwicklung des kleinen Homo sapiens aus dieser Perspektive, so müssten die arttypischen Entwicklungs- und Pflegeerfahrungen eigentlich genug „Übungsmöglichkeiten“ enthalten, um die Umstellung vom angeborenen (reflektorischen) Schutz auf einen durch Entwicklung erworbenen (erlernten) Schutz gut zu schaffen!
Das evolutionäre „care package“
Untersucht man den arttypischen Erfahrungsrahmen des menschlichen Säuglings nun genauer, so enthält er die immer gleichen Elemente (wir nennen ihn das „evolutionary care package“): Gestillt-Werden, Getragen-Werden, bei der Mutter schlafen sowie ein generell körpernahes, responsives Miteinander. Unsere Hypothese ist nun, dass genau diese arttypischen Erfahrungen ein ideales, entwicklungsgerechtes „Übungsumfeld“ darstellen um darin ausreichendes Schutzverhalten zu „erlernen“.
Wie Stillen schützen könnte
Und damit sind wir wieder bei spannenden Befunden der Säuglingsforschung, diesmal aus den 1960er Jahren. Und bei einer Britischen Kinderärztin, Mavis Gunther (hier eine wunderschöne Hommage an sie, die damals wegen ihrer Forschungsarbeiten zum Stillen „Breast Lady“ genannt wurde). Frau Gunther konnte nämlich zeigen, dass Säuglingen wohl an der Brust nicht nur Nahrung zu sich nehmen oder Stress abbauen – sondern auch Schutzverhalten üben. „Airway management“ nämlich. Denn Trinken an der Brust – also: mit einem verschlossenen Mund – bedeutet ja das: eine riesige Herausforderung, das kleine Näschen im Umgang mit der milchgefüllten Mutterbrust freizuhalten. Das kann nicht immer klappen, und was dann passiert, dokumentierte Mavis Gunther in ihren Beobachtungen: wenn die Kleinen keine Luft kriegen ,dann reagieren sie das nächste Mal dafür umso effektiver und schneller! Also könnte es durchaus sein, dass die arttypische Erfahrung des Stillens gleichzeitig dabei hilft, effektiv auch andere Notsituationen besser zu bestehen!
Und wie ist das mit dem Schlafen im ko-regulierten Kontext, also zusammen mit einer stillenden Mutter? Hier zeigt die neuere SIDS-Forschung (u.a. durch die SWISS und CESDI-Kohortenstudien meines Co-Autors Peter Blair), dass das gemeinsame Schlafen unter nicht-gefährlichen Umständen (kein Rauchen, kein Alkohol, nicht auf einem Sofa) zumindest bei den über 3 Monate alten Säuglingen mit einem geringeren SIDS Risiko verbunden ist als das Schlafen im eigenen Bettchen (bei den unter 3 Monate alten Säuglingen ist das Risiko etwa gleich).
Aber zurück zu unserem Modell
Wir bezweifeln überhaupt nicht, dass Risiken beim Zustandekommen von SIDS eine Rolle spielen, sie tun es, wir sollten sie so gut es geht vermeiden.
Gleichzeitig zeigen die für unser Modell ausgewerteten Befunde aus der experimentellen Säuglingsforschung, der SIDS-Epidemiologie, der vergleichenden Verhaltensforschung und der Entwicklungsneurologie aber auch das: Die Risiken schlagen vor allem dann durch, wenn ihnen kein adäquat entwickeltes Schutzverhalten gegenüber steht. Und dieses Schutzverhalten entsteht im Zuge einer normalen Entwicklung unter für einen kleinen Homo sapiens evolutionär erwartbaren Bedingungen.
Und das macht auch pathobiologisch Sinn. Denn betrachtet man die lange Latte der Risikofaktoren für SIDS, so stellen sie im Grunde eines dar: erhöhte Herausforderungen an die physiologische Regulation. Natürlich ist es eine riesen Herausforderung unter einem schweren Federbett seine Temperatur im grünen Bereich zu halten! Natürlich ist es eine riesen Herausforderung neben einem betrunkenen Erwachsenen zu liegen, der eben nicht zur Seite rückt, wenn Baby es brauchen würde. Natürlich ist es eine super Herausforderung auf einer weichen Matratze auf dem Bauch zu schlafen – will Baby seinen Kopf heben, so sinken seine Ärmchen ja ein, weil kein Widerlager da ist! Und so weiter. Und natürlich kommt der kleine Körper des Säuglings umso eher an seine Grenzen, wenn er in seiner Entwicklung nur wenige Kompetenzen aufbauen konnte, um diesen Herausforderungen zu begegnen.
Neue Empfehlungen?
Sprechen wir mit unserer Arbeit neue Schlafempfehlungen aus – etwa in Bezug auf die Bauchlage? Nein, und das ist mir wichtig.
Wir diskutieren in unserer Arbeit tatsächlich rauf und runter, welche Schlaflagerung für ein Menschenbaby denn art-typisch sein könnte, hier hat Helen Ball als Anthropologin und Schlafforscherin entscheidende Impulse gegeben. Und ja, die Bauchlage könnte zum evolutionären Repertoire gehören, allerdings wahrscheinlich in einem „begleiteten“, ko-regulierten Kontext, wie etwa am Körper, so wie das auch bei den anderen Primaten zu beobachten ist. Lässt sich das auf die Bedingungen hier und heute übertragen? Wir wissen es nicht, und es gibt bisher – anders als bei der Elternbett-Frage – dazu auch keine gesicherten Erkenntnisse aus der SIDS-Epidemiologie, die zeigen könnten, dass die Bauchlage unter bestimmten Bedingungen genauso sicher ist wie die Rückenlage. Entsprechende Analysen wurden bisher nicht gemacht. Die SIDS Epidemiologie kann nur zeigen, dass das Risiko der Bauchlage höher ist, wenn die Matratze zu weich ist, oder das Schlafumfeld anderweitig gefährlich ist, wenn keine Vorerfahrung besteht (siehe oben), wenn die Mutter Raucherin ist oder wenn sie trinkt, wenn das Baby frühgeboren oder zu klein geboren ist oder durch einen Infekt schwächelt – aber ob auch ohne diese Umstände ein Rest-Risiko verbleibt: wir wissen es (bisher) einfach nicht. Wir Autor*innen dieser Arbeit auch nicht.
Hier also unser zentrales „Balance“-Modell, mit dem ich hier auch enden will – es stellt unser evolutionär-entwicklungsbezogenes Modell dem klassischen Dreifach-Risiko-Modell für die Entstehung von SIDS gegenüber (Danke Simon, für die tolle Grafik!)
Originalpublikation
Herbert Renz-Polster, Peter Blair, Helen Ball, Oskar Jenni, Freia De Bock: Death from Failed Protection? An Evolutionary-Developmental Theory of Sudden Infant Death Syndrome. Human Nature, Vol. 35(2), (2024); https://doi.org/10.1007/s12110-024-09474-6
Zur schnellen Orientierung…
… hier eine 2-seitige Zusammenfassung unseres Erklärungsmodells
Johanna
Was für ein spannender Artikel! Da kann ein Umdenken stattfinden, SIDS nicht nur von der angst-machenden Seite aus zu betrachten sondern auch zu sehen, was da für enorme Ressourcen in unseren kleinen Menschlein stecken.
Vielen Dank für die Übersetzung und Ihre tolle tolle Arbeit!!
Charlotte
Unfassbar spannend! Vielen Dank, dass Sie diese Forschungsarbeit in so verständliche Form und Worte bringen. Und ich ziehe meinen Hut bis zur Erde, dass Sie als ME/CFS-Betroffener so eine Arbeit (mit) vorlegen, wirklich meine volle Hochachtung.
Laura
Vielen Dank für diese wertvolle Arbeit.
Die Ergebnisse sind sehr spannend und zeigen, dass jede Mama ihr Baby in gewisser Weise darin unterstützen kann ihr Kind beim Übergang zu stärken ( durch Stillen, Tragen, Nähe).
Ich persönlich fühle mich dadurch SIDS weniger ausgeliefert, es macht mir weniger Angst, da ich ressourcenstärkend und nicht nur durch die Elimination von Risikofaktoren dazu beitragen kann, dass mein Kind keinen plötzlichen Kindstod erleidet.
Widmerin
Danke für diese hochspannende Arbeit! Meine Kinder sind mitlerweile aus dem Risiko-Alter für SIDS raus, aber sie waren beide ausgesprochene Bauchschläfer, was mich sehr beschäftigt hat. So musste ich mich gefühlt entscheiden zwischen schlaflosen Nächten und dem scheinbaren Damoklesschwert SIDS. lange Gespräche mit meiner Hebamme, die auch Schlafberaterin und sehr gut zur Forschungslage informiert ist, haben meib Gewissen zwar etwas entspannt (z.B. in Bezug auf den Unterschied beim Risiko zwischen gewohnheitsmässigem und gelehentlichem Bauchschlafen oder in Bezug auf Co-Sleeping. Oder dazu, wie man die Schlafumgebung bei Bauchlage so sicher wie möglich gestalten kann. Danke für dieses neue Modell – ich bin sicher, dass es viele übertriebene Ängste nehmen wird.
Elisabeth Heimlicher
vor etwa 40 jahren wurde die bauchlage propagiert und alle meine 4 kinder schliefen regelmässig so, oft noch auf einem speziellen schafffell!!! nichts geschah, denn sie schliefen meistens nicht alleine, ich stillte sie nach bedarf tag und nacht und hatte keine angst vor dem sids….