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Europäische Forschungsgruppe präsentiert ein neues Erklärungsmodell für den Plötzlichen Kindstod/SIDS

Zusammenfassung der Publikation: Herbert Renz-Polster, Peter Blair, Helen Ball, Oskar Jenni, Freia De Bock: Death from Failed Protection? An Evolutionary-Developmental Theory of Sudden Infant Death Syndrome. Human Nature, Vol. 35(2), (2024); https://doi.org/10.1007/s12110-024-09474-6

Resilienz: Was schützt Säuglinge vor dem Plötzlichen Kindstod?

Der Plötzliche Kindstod (SIDS) wurde bisher hauptsächlich aus der Risikoperspektive erklärt. Demnach ist SIDS das Resultat eines ungünstigen Zusammenspiels innerer (biologischer), äußerer (umweltbedingter) und zeitlicher Risikofaktoren. Während diese Faktoren eindeutig eine Rolle spielen, scheint ihre Erklärungskraft insgesamt gering zu sein, schließlich versterben die allermeisten Säuglinge trotz vorhandener Risiken nicht am Plötzlichen Kindstod. Die Autor*innen erläutern die Begrenzungen des klassischen, risikobasierten Erklärungsmodells im Detail am Beispiel der zwei meistdiskutierten Risikofaktoren für SIDS, der Bauchlage und dem Schlafen des Säuglings im Elternbett. Rund um diese Beispiele führen sie dann Befunde der Evolutionsbiologie, der vergleichenden Verhaltensforschung und der Entwicklungsneurologie zusammen und entwickeln daraus ein neues Erklärungsmodell des Plötzlichen Kindstods.

Nach diesem “evolutionär-entwicklungsbezogenen Modell” lässt sich SIDS besser aus einer Resilienz-Perspektive verstehen: Welche Schutzfaktoren könnten bei SIDS-Opfern fehlen, und wie entwickeln sie sich? Vor diesem Hintergrund beruht SIDS auf einem Ungleichgewicht zwischen den körperlich-regulatorischen Herausforderungen, die ein Säugling momentan zu bewältigen hat und seinen derzeit verfügbaren Fähigkeiten zum Selbstschutz. Konkret kann nach diesem Modell SIDS entstehen, wenn ein Säugling in seiner Entwickung keine ausreichenden Schutzfähigkeiten ausbilden konnte und dann in Situationen gerät, die ein hohes Maß an physiologischer Regulation erfordern (etwa, wenn er in die Bauchlage rutscht oder unter eine schwere Decke gerät). Nach dieser Erklärung ist SIDS also nicht nur das Resultat kumulierender Risiken, sondern ebenso Ausdruck eines nicht adäquat entwickelten Schutzverhaltens.

Die Autoren gehen in diesem Zusammenhang davon aus, dass die Entwicklung des menschlichen Säuglings in einem art-typischen Umfeld die umfassende Entwicklung eines ausreichenden Schutzverhaltens ermöglichen sollte und verstehen SIDS deshalb als ein Beispiel einer evolutionären Fehlanpassung – als eine Konstellation also, in der bestimmte moderne Entwicklungseinflüsse dazu führen, dass das evolutionär angelegte Entwicklungsrepertoire nicht greifen kann.

Zusammenfassend …

… argumentieren die Autor*innen, dass SIDS besser verstanden werden kann, wenn der klassische Fokus auf Risikofaktoren durch ein tieferes Verständnis der Schutzfaktoren ergänzt wird, die menschliche Säuglinge während einer normalen Entwicklung in einer arttypisch erwartbaren physischen und sozialen Umwelt erwerben. Die Autor*innen analysieren und testen diese evolutionär-entwicklungsbezogene Theorie ausführlich vor dem Hintergrund der Befunde aus der SIDS-Epidemiologie und der Säuglingsforschung und gehen dabei auch auf die bislang ungelöste Frage ein, warum Stillen vor SIDS schützen könnte.

Hinsichtlich der praktischen Auswirkungen ihrer konzeptionellen Arbeit gehen sie davon aus, dass ihr Modell sowohl die Forschung als auch die Praxis im Bereich der pädiatrischen Prävention anregen kann. Hier besteht derzeit ein großes Problem darin, dass für SIDS relevante Risikofaktoren in der überwiegenden Mehrheit der Familien anzutreffen sind, jedoch nur in sehr wenigen Fällen zu dem tragischen Ergebnis von SIDS führen. Ein besseres Verständnis der Schutzfaktoren könnte dazu beitragen, die Gruppe der gefährdeten Säuglinge genauer zu definieren, Strategien zur Förderung von Schutzverhalten bei Säuglingen zu entwickeln und so zu einer zielgenaueren und wirksameren Prävention beizutragen.

Zusammenfassender Artikel über diese Forschungsarbeit: https://www.kinder-verstehen.de/mein-werk/blog/was-schuetzt-saeuglinge-vor-dem-ploetzlichen-kindstod/

Genereller Hintergrund zur SIDS-Forschung (deutsch): https://www.kinder-verstehen.de/mein-werk/blog/ploetzlicher-kindstod-die-rolle-der-schutzengel

Graphic summary (extended supplementary material  aus der Publikation): https://www.kinder-verstehen.de/wp-content/uploads/SIDS_HuNa_graph_summary_ESM-1-scaled.jpg

Volltext der Publikation:  https://doi.org/10.1007/s12110-024-09474-6

Mehr zu den Autor*innen: https://www.kinder-verstehen.de/wp-content/uploads/Author-biographies.pdf

1 Kommentar

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  • Anna-Maria

    Ich habe mir eben Ihre Studie in der Vollversion durchgelesen und ich war sehr beeindruckt von der Theorie.

    Mein Sohn mochte von der ersten Nacht an (ambulante Geburtshausgeburt) nicht in seinem Beistellbett schlafen. Er hatte noch sehr viel mit verbliebenen Fruchtwasser zu kämpfen gehabt, daher habe ich ihn tatsächlich, entgegen der SIDS-Richtlinien, von Anfang an auf den Bauch in unser Elternbett (auf meine Seite) gelegt. Ich habe selbst kein Kissen verwendet und meine Decke nie höher als hüfthoch gezogen. Ich habe die ersten 6 Monate ausschließlich gestillt und stille jetzt mit 25 Monaten immer noch. Er war von Anfang an ein typisches Tragebaby und hat die meinste Zeit seines Lebens an mir in einer Trage verbracht.
    Da die Säuglinge in den ersten Wochen anscheinend eine Schutzwirkung gegen SIDS haben und diese steigt, wenn die Eigenreflexe abnehmen und sie selbst Bewegungsabläufe lernen müssen, wäre es interessant zu wissen, ob, wenn die Säuglinge von Anfang an auf den Bauch gelegt werden, sie so viel Erfahrung sammeln konnten, dass, wenn die Eigenreflexe abnehmen, sie anhand der Erfahrung geschützt sind. Natürlich wird es dazu aus ethischen Gründen nie eine Studie geben und ich will Mitleser*innen nicht dazu animieren ihre Säuglinge zum schlafen auf den Bauch zu legen.
    (Ich selbst bin Hebamme und aktuell an einer Bachelorarbeit über die Risiken zu SIDS)