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Kommentar1. September 2024

Eine Geschichte zur heutigen Wahl

Heute wird in zwei östlichen Bundesländern über die Politik der nächsten Jahre abgestimmt. Es wird danach viele Erklärungen geben. Mein eigener Beitrag soll die folgende Geschichte sein.

Wir schreiben das Jahr 1989 …

Wir schreiben das Jahr 1989. Die innerdeutsche Mauer fällt. Kaum hat sich der Staub gelegt, strömen schon die ersten westdeutschen und internationalen Forscherteams in das unbekannte Neuland. Sie vermessen: Überzeugungen, Haltungen, Neigungen, Familienverhältnisse, Besitz- und Einkommensverhältnisse – eben alles, was die eine Frage beantworten hilft: Was sind das denn für Menschen? Sind sie anders als die Deutschen im Westen? Und wenn ja: wie anders?

Beziehungsweise, anders gefragt: Wie anders sind diese Menschen geworden? Denn das ist ja das Spannende an dieser Geschichte: Noch 45 Jahre zuvor war man Teil derselben Gesellschaft gewesen und hatte immerhin 3 Generationen lang dieselbe Geschichte geteilt. Nun also die Frage: Wie haben sich die Menschen in den unterschiedlichen Alltagskulturen des geteilten Landes entwickelt, samt ihrer Haltungen und Meinungen auch zu gesellschaftlichen Fragen?

Eine der Wissenschaftlerinnen in diesem Forscherteam war die Autoritarismusforscherin Prof. Gerda Lederer. Ihre damalige Forschungsfrage in einem Satz: Sind rechtsfundamentale, rechtsradikale oder generell »autoritäre« Haltungen bei den in der DDR sozialisierten Jugendlichen eher seltener oder aber häufiger anzutreffen als in der damaligen Bundesrepublik?

Man hatte die entsprechende Studie in identischer Form und Inhalt schon in der Bundesrepublik durchgeführt. Der dort verwendete Fragebogen musste also nur ein- und ausgepackt werden, und los ging es mit der Untersuchung an einer repräsentativen Stichprobe an zufällig ausgewählten Regelschulen der DDR, an denen oft noch große Lettern zu Völkerverständigung, Gemeinschaftssinn und Solidarität aufriefen. Mit dem umfangreichen, anonym auszufüllenden Fragebogen sollten Fragen beantwortet werden wie etwa: In welchem Ausmaß stimmen die Kinder der DDR autoritären Meinungen zu? Wie dogmatisch denken sie? Wie groß ist ihre Tendenz, sich Autoritäten zu unterwerfen und ihnen gegenüber Gehorsam zu leisten? Wie viel Respekt vor der elterlichen Autorität haben sie? Und wie fremdenfreundlich oder -feindlich sind sie?

Ungläubiges Staunen

Die ForscherInnen mussten sich bestimmt erst einmal die Augen reiben, als die Erhebung kurz vor der offiziellen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 beendet war – entsprachen die Ergebnisse doch ganz und gar nicht ihren Erwartungen. Man hatte die Daten in einer eher »inklusiven«, vergleichsweise homogenen Gesellschaft erhoben, in der Konkurrenz und Ellenbogen-Mentalität eher kleingeschrieben wurden, in der die Kinder eine auf Solidarität gerichtete Sozialisation durchliefen und schon früh als Gruppe, im »Kollektiv« zusammenlebten und auch in den Schulen gewiss nicht auf Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung der Schwachen gepolt wurden.

Und doch zeigten die Jugendlichen der damaligen DDR in allen untersuchten Domänen höhere Autoritarismus-Werte – eine höhere Ablehnung gegenüber Ausländern eingeschlossen: 42 Prozent der Jugendlichen im Osten stimmten der Aussage zu: »Mich stören die vielen Ausländer« – im Westen lag die Zustimmungsrate zu dieser Aussage damals bei 26 Prozent. Deutliche Unterschiede zeigten sich auch in der Bevorzugung von Gehorsam gegenüber Autoritäten. Die Aussage »Zu den wichtigsten Eigenschaften, die jemand haben kann, gehört disziplinierter Gehorsam der Autorität gegenüber« stieß lediglich bei 38,7 Prozent der ostdeutschen Befragten auf Widerspruch – bei den westdeutschen Jugendlichen waren es 58,2 Prozent. Auch die Antworten zu den Fragen der elterlichen Autorität waren auffallend. Nur 18,1 Prozent der ostdeutschen Jugendlichen gaben an, dass sie den Gehorsam verweigern würden, wenn ihre Eltern etwas Unfaires von ihnen verlangen würden (unter den westdeutschen Jugendlichen waren dazu damals 33 Prozent bereit).

Komplette Ratlosigkeit

Wenn man heute die Erklärungen liest, die die Forschenden damals für den unerwarteten Befund diskutierten, hört man ihre Ratlosigkeit deutlich heraus. Könnten die »rechtsextremen und ausländerfeindlichen Entwicklungen« vielleicht Ausdruck einer mangelnden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sein?, fragten sich die Forscher.

Hmm – dabei wurde nirgends mehr über den Nationalsozialismus geredet als in der DDR.

Klar war den Forschenden damals auch das: Die sozialen Bedingungen unter denen die in dieser Studie befragten Jugendlichen in der DDR aufwuchsen, waren weder von Arbeitslosigkeit, überdurchschnittlicher Ungleichheit, kultureller Entfremdung, einer Bildungskatastrophe oder sozialem Abstieg geprägt –  Faktoren, die wir heute  gerne für rechtsautoritäres Gedankengut verantwortlich machen. Es sei eindeutig, schrieben die AutorInnen in ihre Arbeit, »dass zum Zeitpunkt unserer Erhebung diese Umstände noch nicht vorherrschten«.

Aber welche Umstände dann?

Hier will ich meine Erzählung beenden, die eigentlich ein Stück Wissenschaft ist. Diese Studie dürfte den wenigsten bekannt sein, die in den kommenden Tagen erklären werden, warum viele BürgerInnen in den östlichen Bundesländern eine solche Vorliebe für autoritäre Parteien haben. Deren Erklärungen – das will ich hinzufügen – mögen nicht falsch sein. Aber wirklich Sinn ergeben sie meiner Meinung nach  nur mit einem Blick in die Geschichte.

Wer sich für diese Geschichte interessiert, dem empfehle ich das Buch, aus dem sie stammt: Erziehung prägt Gesinnung von Herbert Renz-Polster, 2. Auflage, Kösel 2019

Dieser Beitrag beruht auf dem Buch „Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können" des Kinderarztes und Wissenschaftlers Dr. Herbert Renz-Polster.
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5 Kommentare

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  • Anton

    Leider nur WERBUNG für Ihr Buch.
    Zumindest eine kleine Zusammenfassung wäre schön gewesen.

    • Herbert Renz-Polster

      Wenn Sie isch bemühen wollen, dann gibt es auf meiner Webseite sehr viele kleine und große Zusammenfassungen meines Buches. Danke, HRP

    • Werner Hajek

      Ich empfehle den unten auf der Seite anzuklickenden Beitrag “Warum die Kindheit politisch ist”.

  • Jale

    Als jemand, die Ihr Buch regelrecht verschlungen hat, kann ich über ganz viele offiziell kursierende Erklärungsmuster einfach nur den Kopf schütteln. So bruchstückhaft!
    Ich denke mir jedesmal, Leute, lest doch den HRP!
    Und vor allem: Zieht gesamtgesellschaftlich die Konsequenzen, gerade zB wenns um die Kita-Missstände geht, da kann man nämlich etwas tun!!!
    Ich würde das Buch am liebsten diversen politisch Führenden auf den Tisch legen…
    Das Buch ist so ein Augenöffner!!!

    (andererseits habe ich auch ein bisschen Angst um HRP… aber er hat sich ja schon zur Covid-Zeit getraut, die Stimme zu erheben, damit wir mehr verstehen, auch auf Gefahr hin… Danke dafür !!! )

    • Rainer Zwerschke

      In der Covid-Zeit lag HRP aber ziemlich häufig voll daneben :-(.
      Es reicht nicht etwas zu sagen, es sollte schon auch Hand und Fuß haben.
      Das Traurige daran ist, daß HRP – aber nur wenn es um Kinder ging – durchaus zu selbständigen Schlüssen kam und zu kritischen Überlegungen fähig war. (Das auch die nicht immer zu den heute bekannten Ergebnissen führten war der schlechten, teilweise auch verfälschten Datenlage geschuldet und kann ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden). Aber dann war es auch schon vorbei mit der Wissenschaft. Immer wenn er sich an das “große Ganze” herangewagt hat – egal ob bei Corona, Klimakrise oder rääächte Populisten – ging das voll in die Hose.

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