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Kommentar2. April 2023

Die Not der Kinder – nimmt die Pandemie die Zukunft vorweg?

Das Narrativ ist eindeutig. Den Kindern geht es schlecht. Und schuld daran ist - die Pandemie. Auch wenn da natürlich etwas dran ist: Es ist viel komplizierter. Wieder einmal.

Der Blick zurück

Ich will dazu eine Arbeit vorstellen, die das wie in einem Brennglas zeigt. Nein, auch diese Arbeit ist nicht die definitive Weisheit, und sie hat Stärken und Schwächen. Zudem kommt sie von zwei WissenschaftlerInnen, die zwar zu den profiliertesten forschenden PsychologInnen unserer Zeit gehören – aber auch schon durch ziemlich pauschale Urteile aufgefallen sind (etwa Jean Twenges Kritik an der angeblich super-narzisstischen “Generation Ich”).

Trotzdem regt diese Arbeit zum Nachdenken an. Jean Twenge und Jonathan Haidt beschreiben anhand von länderübergreifenden Datensätzen, wie es den Kinder und Jugendlichen geht (wer eine englische Zusammenfassung lesen will, kann es in einem Essay in den New York Times tun).

Was ich an der Arbeit besonders interessant finde: Sie betrachtet nicht die Pandemie-Jahre. Sondern die Jahre vor der Pandemie, seit der Jahrtausendwende. Und lässt vermuten, dass manche schwer wiegende Probleme unserer Kinder schon ein ganzes Stück vor der Pandemie begonnen haben.

Schon vor der Pandemie: eine Pandemie der seelischen Störungen

Das Autorenpaar beginnt mit einem Blick auf die USA. Hier werten sie einen großen Datensatz zum Befinden und der seelischen Gesundheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus, der alle paar Jahre erhoben wird. Kurz zusammengefasst: Ab dem Jahr 2012 stiegen die Raten an Depression, Einsamkeit, Selbstverletzung und Selbsttötung unter Teenagern steil an. Bis zum Jahr 2019 – also noch vor dem Beginn der Pandemie – hatte sich die Rate an Depressionen unter Teenagern fast verdoppelt.

Nun könnte man sagen: ein US-amerikanisches Problem. Twenge und Haidt diskutieren das, sehen aber Hinweise, dass die Entwicklung die gesamte industrialisierte Welt betreffen dürfte.

Sie beziehen sich bei dieser Vermutung ausgerechnet auf die PISA-Studien, die alle drei Jahre seit der Jahrtausendwende auch Daten zur seelischen Verfassung der Schüler abfragen, wenn auch indirekt, und zwar über 6 Fragen zu “Einsamkeit” in der Schule. Nun ist Einsamkeit nicht das gleiche wie Depression, aber ein Zusammenhang dürfte bestehen, auch ist soziale Vereinsamung in sich ein entwicklungsrelevanter Faktor. Und das war das Ergebnis:

Auch im PISA-Datensatz zeigt sich also zwischen den Jahren 2012 und 2018 insgesamt eine Verdopplung der Zahl der betroffenen Jugendlichen. Und zwar in 36 der 37 teilnehmenden Länder.

Ein auffälliger Knick

Auch auffällig: Die Rate an Einsamkeit unter Teenagern war zwischen der Jahrtausendwende und 2012 relativ konstant – im Schnitt waren etwas unter 18% der Jugendlichen betroffen. Ein dramatischer Anstieg war dann auch hier ab 2012 zu verzeichen. Und auch hier verdoppelte sich die Zahl der Betroffenen – sowohl in den englischsprachigen als auch den anderen Ländern.

Über ein Drittel der befragten Jugendlichen fühlte sich dort im Jahr 2018 einsam. Ein Jahr VOR Beginn der Pandemie.

Beide der analysierten Datensätze haben eines gemeinsam. Unter allen untersuchten Einflüssen –sozioökonomischen Indikatoren, Änderung der Familiengröße und Einkommensungleichheit – ließen sich die Änderungen nur mit einem Megatrend korrelieren: der Intensität der Nutzung von Internet und sozialen Medien.

Nun bin ich nicht einer von denen, die pauschal annehmen, dass Handys dumm, dick und debil machen. Und ich weiß auch, wie schwer es ist, in dieser Frage eindeutig ursächliche Zusammenhänge herauszuarbeiten. Und vielleicht verbirgt sich hinter der Mediennutzung noch ein weiterer, bisher nicht gemessener oder berücksichtigter Einfluss? Wir werden auf diese spannende Frage gleich zurückkommen.

Methodisches Harakiri

Tatsächlich spielt sich rund um die Frage der “Schädlichkeit” intensiver Mediennutzung durch Teenager ein epischer Streit ab. Für die einen Wissenschaftler ist regelmäßig Kartoffeln zu essen genauso einflussreich auf das Wohlbefinden von Teenagern als ihr Mediengebrauch, kein Witz!

“The association of well-being with regularly eating potatoes was nearly as negative as the association with technology use, and wearing glasses was more negatively associated with well-being.”

Also: Wohlbefinden und regelmäßigem Kartoffelkonsum waren fast so negativ korreliert wie Wohlbefinden und Technologiegebrauch. Brillentragen hatte sogar eine negativere Korrelation mit dem Wohlbefinden. Das sagen Amy Orben and Andrew Przybylski in ihrer 2019 veröffentlichten Auswertung von an 355.000 Teenagern erhobenen Daten.

Rede und Gegenrede

Diese Aussage veranlasste andere Wissenschaftler (hier mit dabei wieder Jean Twenge und Jonathan Haidt, sowie Thomas Joiner and William Keith Campbell) sich denselben Datenbestand ebenfalls anzuschauen und mit den eigenen – natürlich für angemessener und “sauberer” empfundenen – Methoden zu analysieren. Und sieheda – das Ergebnis war ein völlig anderes. Und es wurde in der Replik auf Orben und Przybylski´s Studie in ebenso plakative Worte gepackt: Der Einfluss der sozialen Medien auf das Wohlbefinden sei zumindest bei den Mädchen durchaus mit Heroingebrauch vergleichbar .

“One could just as easily conclude that social media use is more important for well-being than hard drug use, exercise and obesity… For girls, social media use is far more important than exercise, or even than heroin use.”

Zu deutsch also: „Man könnte ebenso leicht schlussfolgern, dass der Konsum sozialer Medien einen wichtigeren Einfluss auf das Wohlbefinden hat als der Gebrauch harter Drogen, Sport und Übergewicht… Tatsächlich hat der Konsum sozialer Medien zumindest für die Mädchen einen stärkeren Einfluss auf das Wohlbefinden als Sport, ja sogar als Heroinkonsum.“

Was nun?

Wie gesagt: Beide Aussagen beziehen sich auf Analysen desselben Datenbestands. Wer „Studien“ als das ansieht, was sie sind, liegt also richtig – nämlich „skizzenhafte Vorarbeiten zu einem größeren Werk“ (so die Erklärung von Oxford Languages). Niemand würde mit seinem Auto über eine Brücke fahren wollen, die der Architekt als „Studie“ ausweist – wir sollten wissenschaftlichen Studien mit ähnlicher Vorsicht begegnen.

Aber zurück zum Thema. Das methodische Problem, das sich hier zeigt, ist tatsächlich gravierend und sorgt regelmäßig für widersprüchliche Ergebnisse in komplexen “real life” Fragestellungen, in denen Ursache und Wirkung oft nicht klar getrennt werden kann: Verbringen junge Erwachsene deshalb viel Zeit im Internet, weil sie einsam sind? Oder sind sie einsam, weil sie dort viel unterwegs sind? Um etwaige Zusammenhänge zu erkennen, werden zudem viele verschiedene Einflüsse auf das Wohlbefinden mathematisch verrechnet. Von vielen Einflüssen ist aber nicht einmal bekannt, auf welche Weise sie denn ihre Wirkung entfalten, und ob sie vielleicht nur Marker für andere Einflüsse sind. Einflüsse, die vielleicht in der jeweiligen Studie gar nicht untersucht wurden. Davon gleich mehr, denn einen spannenden Kandidaten gäbe es da schon …

Immerhin haben sich Wissenschaftler zuletzt neu mit dem Henne-Ei-Problem der Medien befasst, und zwar mit der naheliegenden Frage: Wenn wir nicht wissen, ob starker Mediengebrauch für Angststörungen und Depressionen verantwortlich sein kann – wollen wir nicht einfach mal schauen, was passiert, wenn Menschen mit Angststörungen und Depressionen ihren Mediengebrauch einschränken? Und so bildeten sich zwei Gruppen von 17 bis 25-Jährigen (70% von ihnen zwischen 17 und 19 Jahren alt). Die einen sollten weiterhin medial unterwegs sein wie vorher, die anderen ihren Mediengebrauch um eine Stunde kürzen. Nach 3 Wochen wurden sie über ihre Zufriedenheit mit ihrem Aussehen und Gewicht befragt. Und sieheda: Die Gruppe der jungen Menschen mit reduzierter Medienzeit war sowohl mit ihrem Aussehen als auch ihrem Gewicht zufriedener. Die Effekte wurden als leicht bis moderat beschrieben, für eine 3-wöchige Intervention gar nicht so schlecht.

Auch Logik hilft weiter

Man darf in komplexen Fragen aber auch durchaus seinen gesunden Menschenverstand einsetzen. Versuchen wir es mal mit Blick auf den Medienkonsum: Die Dosis dürfte eine Rolle spielen (“wer zu lange in der Badewanne sitzt, dem wellt sich die Haut”, wie Tanja Dückers es einmal gesagt hat). Die Inhalte dürften eine Rolle spielen (schließlich kleiden die Nutzer damit ja auch zumindest teilweise die Innenwände ihrer Persönlichkeit aus). Und natürlich: Was sonst noch im Leben läuft, dürfte ebenfalls wichtig sein – vielleicht sogar entscheidend. Womit wir allerdings auch gleich wieder bei der Dosis wären – nimmt der Medienkonsum den ganzen Tag ein, läuft ansonsten nämlich: schlichtweg *nichts*.

Ich glaube deshalb auch nicht an das gerade in bindungsorientierten Familien manchmal zu hörende Narrativ: Solange das mit der Bindung gut läuft, sei auch in Sachen Medienkonsum alles in Ordnung. Dabei wird dann gerne auf das verwiesen, was aus der Forschung über die psychischen und sozialen Effekte der Mediennutzung bekannt ist. Nämlich, dass viele der Effekte der Mediennutzung tatsächlich von vorbestehenden Einflüssen abhängen. Zum Beispiel von widrigen Kindheitserfahrungen, einem schwachen Beziehungsnetz und einem hohen Stresspegel in der Familie .

Ein Blick auf die kindliche Entwicklung hilft weiter

Natürlich ist das alles richtig, die Folgerung daraus allerdings ist es nicht – nämlich, dass sicher gebundene Kinder grundsätzlich vor den negativen Auswirkungen der sozialen Medien geschützt seien. Diesen wunderbar in Lebenswärme eingehüllten Kindern könne die Welt der sozialen Medien nichts anhaben, denn sie hätten ja eine gute Begleitung und damit Schutz. Das ist für mich Unsinn.

Schon deshalb – auch wenn ich mich hier wiederhole – weil der Tag nun einmal 24 Stunden hat, und intensive Mediennutzung eben auch in Konkurrenz mit anderen Erfahrungen und Entwicklungsgelegenheiten steht. Ein Blick auf die vielen Domainen der kindlichen Entwicklung macht das plausibel. Wie bauen Kinder etwa exekutive Kontrolle auf, ihren “Biss” und Durchhaltevermögen? Ganz bestimmt nicht, indem sie noch so hochwertige Serien schauen. ALLE Kinder brauchen einen Mix an Erfahrungen, ALLE haben auch einen Körper, der nach sinnlichen Erfahrungen giert und dem sie ein Leben lang zuhause sind – oder auch nicht. Und ALLE Kinder kleiden ihre Seele mit den Erfahrungen aus, die sie in der Welt machen – online oder offline. Und für manche Entwicklungsschritte, wie etwa den Aufbau sozialer Kompetenz, braucht es auch im 21. Jahrhundert reale, lebendige Menschen, offline. Echte Spielgefährten, echten Händel, echte Triumphe. Und auch wunderbar gebundene Kinder können in Entwicklungskrisen geraten, die sich durch den Rückzug in virtuelle Welten sicherlich nicht einfacher überwinden lassen. Kurz: ich glaube nicht an die These, nach der die gute Bindung ein Rundum-Sorglos-Paket darstellt.

Was steht hinter dem Trend zu Einsamkeit?

Und gerade deshalb will ich die These von Haidt und Twenge noch einmal genauer beleuchten. Für mich ist vor allem der Blick auf diesen sonderbaren Knick im Zeitverlauf der letzten Jahrzehnte interessant. Haidt und Twenge zeichnen in ihrer Diskussion nach, dass ab 2012 Smartphones nicht nur in praktisch allen Teenagerhänden waren, sondern dass sie dort auch immer intensiver genutzt wurden. Vor allem aber, dass sich ab 2012 die Erfahrungswelt im Internet und den sozialen Medien komplett verändert hat.

Und zwar hin zu dem, was sie “engagement” nennen: Reingezogen-Werden, weil die Inhalte jetzt vor allem auf Emotionen abzielen und darauf zugespitzt werden. Mit Instagram etwa, 2012 gelauncht, wuchs auf einmal die Möglichkei, dass sich Nutzer sozusagen von Tür zu Tür vergleichen – viel „echter“ und doch manipulierter als zuvor. “Compare and despair” war jetzt die unausgespochene Botschaft – vergleiche Dich und verzweifle dabei. Like-Buttons, Flammen und sonstige Rückmeldungsbuttons in den sozialen Medien wurden nicht nur installiert um Nutzerdaten abzusaugen, sondern auch um die Nutzer zu fesseln. Und zwar *dich persönlich*. Kurz: die Online-Welt wurde auf einen Schlag idealer, bunter, schöner, und erfolgreicher (übigens auch die Welt der Familien – auch die Vergleiche in diesem Universum sind heute persönlicher, ästhetischer und triumphaler).

Ein Rennen, das Kinder nicht gewinnen können

Mit dieser Polung auf „engagement“ wurde ein Rennen entfacht, das viele nur verlieren können (darunter übrigens deutlich mehr Mädchen als Jungs, was mich auch deshalb nicht überrascht, weil Mädchen insgesamt in der Pubertät einen größeren Selbstwert-Knick haben als Jungs).

Haidt und Twenge fassen es so zusammen:

„By 2012 (… ), the major platforms had created an outrage machine that made life online far uglier, faster, more polarized and more likely to incite performative shaming.”

Also: Bis zum Jahr 2012 haben die großen Internetplattformen eine Empörungsmaschine geschaffen, die das Online-Leben hässlicher, schneller und polarisierter gemacht hat und die Gefahr vergrößert hat, dass man für das eigene Tun und Lassen beschämt wird.

Ist die Erklärung plausibel?

Hier will ich kurz auf die Perspektive der Kinder eingehen, denn ich habe mich mit ihrem “sozialen Dilemma” oft beschäftigt (etwa in “Kinder verstehen”). Die Kinder entwickeln sich in einem Spannungsfeld von Individuation (sich selber werden) und Sozialisation (Teil der Gruppe werden). Und das hat es in sich, und wie. Kinder wollen, nein MÜSSEN, einerseits dazugehören, andererseits aber auch durch ihre jeweils besondere Eigenartigkeit herausragen. Sie müssen sich der Gruppe anpassen, aber auch durch eine eigene Rolle in der Gruppe “glänzen“. So leben sie im beständigen Spagat zwischen Gleichheit und Besonderheit .Und wer mit Teenagern lebt (gerade in der Anfangszeit der Pubertät), der weiss, wie schwierig diese Selbstfindung in diesem Entwicklungsabschnitt ist.

Diese Aushandlung zwischen dem “Eigenen” und dem “Fremden”, der Individualität und der Gruppe ist im echten Leben schon ein echter Spagat. Er läuft über den eigenen Beitrag zum gemeinsamen Spass, über den “Ruf”, den man sich angesammelt hat, über gelungene Kooperation, über Konflikte und wie sie gelöst werden, über die persönlichen Resourcen, die man einbringt, von Spielideen bis Streit schlichten können, oder Passwörter knacken können. Ein unglaublich vielfältiger Prozess, der auf Hunderttausenden von Interaktionen und Lernschritten beruht. Wie gesagt: Schon im echten Leben schwierig, zumal für Kinder, die wenig beflügelt zur Sache gehen müssen.

In einer immer konsequenter auf Vergleich und Bewertung getrimmten Kunstwelt müssen viele Kinder an diesem sozialen Dilemma verzweifeln. Sie geraten in einen Wettlauf um Anerkennung für das eigene Selbst, den sie kaum gewinnen können.

Und ja, das macht manche Kinder einsam.

Auch die Peergroup insgesamt verändert sich

Da ist aber noch ein zweiter Prozess, auf den Haidt und Twenge hinweisen. Dadurch, dass die immer intensivere Nutzung des virtuellen Sozialraums die ganze Gruppe der Altersgenossen gleichermaßen betrifft, verändert sich nicht nur die emotionale Welt des Einzelnen. Es ändert sich auch die Gruppe, in die jeder einzelne hineinwachsen muss. Was, wenn sich diese Gruppe auflöst in Menschen, die auch jeder für sich alleine “sozial” sein können? Wo bleiben dann irgendwann die echten sozialen Interaktionen, die wir alle brauchen um uns in unserer menschlichen Gemeinschaft wohl zu fühlen, eben weil wir in Abertausenden von Schritten gelernt haben, kompetent darin zu kommunizieren und zu agieren?

Klingt alarmistisch? Vielleicht. Ich will das, was ich hier schreibe aber eher in einem motivierenden Sinn verstanden wissen. In einem Sinn, der Verständnis fördert und den Blick auch über den Zeitrahmen der Pandemie hinaus lenkt: Ja, die Pandemie hat viele Probleme geschaffen. Nur: Die Kindheiten haben sich auch schon vorher verändert.

Ein noch größerer Zusammenhang?

Deshalb zum Schluss noch einmal ein paar Grafiken, die das vielleicht unterstreichen – sie stammen aus einer älteren Analyse aus den USA, die Jean Twenge in der Zeitschrift The Atlantic veröffentlicht hat. Wieder: auch hier kann nicht jeder Zusammenhang gleich als “Beweis” für eine bestimmte Ursache genommen werden. Die Grafiken zeigen aber immerhin, wie stark sich das Sozialverhalten unter Teenagern schon in den Jahren vor der Pandemie verändert hat.

Nehmen wir diese Frage: Welcher Anteil der Teenager haben jemals ein (real life) Date? Dieser Anteil ist seit den 1990er Jahren gesunken, zuletzt drastisch (zumindest in den USA).

Oder diese Frage: Wie oft pro Woche treffen sich Teenager untereinander (im echten Leben)? Auch hier: ein deutlicher Knick schon lange vor der Pandemie.

Nun könnte man sagen: das heißt noch lange nicht, dass die Jugendlichen sozial weniger unterwegs sind. Sie treffen sich jetzt eben häufiger Online.

Das Argument könnte stimmen. Aber es beruhigt mich nicht, ich habe die Gründe oben skizziert. Kinder brauchen ein reichhaltiges Miteinander im real life um ihr „Entwicklungshaus“ so zu bauen, dass es den Winden und Stürmen des Lebens standhalten kann. Ist einfach so.

Deshalb zur nächsten Grafik, die wieder den Befund vom Anfang dieses Beitrags aufgreift: Ein immer höherer Anteil der Jugendlichen fühlt sich in den letzten Jahren ausgeschlossen oder einsam (zumindest dieser Trend scheint auch direkt auf Europa übertragbar zu sein, siehe oben).

Könnte die Wurzelursache noch tiefer liegen?

Ich habe zuletzt in diesem Blog-Beitrag („Bedürfnisorientiert – haben wir da etwas vergessen?“) über die Grundlagenforschung zum Thema kindliches Spiel berichtet. Und zusammengetragen, wie unglaublich wichtig das selbst gestaltete Spiel für die kindliche Entwicklung ist – insbesondere für den Aufbau von Resilienz, Angstkontrolle und Selbstbewusstsein. Für mich gut zusammengefasst in dem Satz: das Gegenteil von Spiel heisst nicht Arbeit – sondern Depression. Und aus diesem Zusammenhang die Frage ableiten, ob die beobachteten Trends hin zu mehr Einsamkeit und mehr Angst unter Kindern und Jugendlichen nicht vor allem Änderungen in den Kindheiten insgesamt darstellen. Ein Medienkonsum von durchschnittlich 6 bis 8 Stunden für die Jugendlichen in den USA (ja, da sind wir in Deutschland noch nicht, aber auch wir werden das schaffen, keine Sorge) bedeutet ja viel mehr als dass nur 6 bis 8 Stunden meist passiven Mediengebrauchs – es bedeutet auch 6 bis 8 Stunden fehlender Zeit für Mensch-zu-Mensch-Interaktionen, aktives, kreatives  Spiel, körperliche Erfahrungen, Abenteuer und Selbsterfahrung. Kurz, es bedeutet: ein fehlendes Stück Kindheit.

Die Pandemie erklärt nicht alles – vielleicht nimmt sie sogar nur die Zukunft vorweg?

Ich sage das alles nicht als: “jetzt haben wir endlich das Problem unserer Kinder gefunden.” Das wäre Quatsch (zumal wenn alles dafür spricht, dass das Problem unserer Kinder unser eigenes Problem ist). Aber ich sage es als noch einen Punkt, den wir auf die Agenda setzen sollten: Wir sollten unsere Kinder dabei unterstützen, den Draht zur realen Welt wieder zu finden.

Mir persönlich ist klar, dass wir dabei viel radikaler sein müssen. Und dass Familien das nicht alleine schaffen. Vieles muss da zusammenkommen, auch Schulen, die das echte Leben überhaupt einmal in ihr Programm nehmen. Auch unser Blick auf das was *normal* ist gehört dazu. Nein, es ist nicht normal, dass unsere Kinder ihre Kindheit damit verbringen sich lustige Filmchen anzuschauen. Und es ist auch nicht normal, dass wir Erwachsenen nicht gemeinsam versuchen, das Ökosystem der Medien kindgerechter zu machen.

Gibt es einen Grund, Kindern zu ermöglichen, Stunden ihres Tages damit zu verbringen auf TikTok einen Clip nach dem anderen durchzunudeln? Ich bekomme inzwischen von Eltern nach Vorträgen immer öfter tränenvolle Kommentare: ich habe mein Kind längst an TikTok verloren. Die Schule: wird sie nimmer schaffen, dabei ist sie so ein begabtes Kind. Ihr Pferd ist ihr inzwischen sogar egal. Wegen immer besserer Schminktipps.

Was ist eigentlich unser Problem? Die chinesische Muttergesellschaft von TikTok, Douyin, hat ein Zeitlimit von 40 Minuten, danach ist die App für Nutzer unter 14 Jahren nicht mehr zugänglich (und zwar: NICHT MEHR ZUGÄNGLICH. PUNKT), auch nachts schaltet die App für diese Nutzergruppe einfach ab.

Können wir aber hier bei uns nicht machen. Denn dann käme jemand auf die Idee, dass das auch für Instagram gelten sollte.

Und dann wäre Zucker-Mark bestimmt böse, weil seine Werbeeinnahmen abnehmen.

Was wird also passieren? Nichts. Wir schauen lieber zu, wie unsere Kinder sich an Schminktipps und luschdigen Ereignissen überfressen.

Es gibt ja sonst nichts zu tun auf dieser Welt.

Und wir Erwachsene? Wir haben mit der Pandemie sozusagen einen Blick in die Zukunft werfen dürfen, einen erschreckenden Blick.
Werden wir daraus lernen und nach der Pandemie umso aufmerksamer hinschauen – auf das Spieldefizit unserer Kinder, auf ihren immer exzessiveren Medienkonsum? Ihre immer geringere Zufriedenheit in den Schulen?

Schön wärs. Leider erfordert auch das Schöne im echten Leben viel Haltung, Schweiss und Überzeugung.

Ein Teil dieses Beitrags ist aus meinem Buch „Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum - ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen" welches ich zusammen mit Prof. Gerald Hüther geschrieben habe. Dort befasse ich mich auch mit den Folgen der Pandemie.
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14 Kommentare

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  • ama

    Ich habe das nicht zuende gelesen, weil mir gleich ein großer Fehler auffiel: “Englisch-sprechende Länder”. Welche sollen das sein?
    .
    Das Hauptproblem ALLER Länder ist, was mit den Kindern gemacht wird. Haben die Kinder genug Freizeit oder werden sie in Kasernen gesteckt, am besten schon in der Kindertagesstätte?
    .
    Ein Kind in so einer Kaserne, noch dazu von morgens bis abends, ist einem extrem hohen Gruppendruck ausgesetzt – und dazu noch dem Druck einer sehr häufig durchgeknallten Lehrerschaft. Wie soll sich ein Kind unter diesen Bedingungen frei fühlen können? Wie soll es mit Anderen völlig frei freundlich und vertrauensvoll sein können, wenn ihm jederzeit von der Umgebung irgendeine Sauerei reingewürgt werden kann?
    .
    Die Schulsysteme sind schuld, und die haben nichts mit der Sprache zu tun, sondern mit dem Land, in dem diese Kinder sind.
    .
    Früher hatte ein Kind wenigstens den Nachmittag für sich, in dem es sich von der Tortur der Schule erholen konnte. Doch durch die immer wieder “verbesserte” psychische Forschung und Organisation des Unterrichts wurde die Kasernierung weiter verschärft. Jede Kritik an diesem Irrsinn wird von den Psychologen und Bildungs”forschern” abgebügelt. Ohne diese Kaste ginge es den Kindern deutlich besser. Solange diese Kaste an der Macht ist, wird sich am Niedergang der Schulen nichts ändern – und nichts an der Unterwerfung der Kinder unter ein System von Durchgeknallten.

    • Friedo Pagel

      Da muss ich Ihnen leider widersprechen. Ich wüsste nicht, dass sich am Schulsystem vor 10 Jahren grundsätzliches geändert hätte. Es kann daher jenen Knick in der Entwicklung seit 2012 niemals erklären.

      Einerseits muss ich Herrn Renz-Polster beipflichten. Ich sehe auch keine andere Korrelation als jene zur Nutzung des Smartphones durch Kinder. Aber seinen Fokus auf TikTok kann ich nicht mitgehen. Denn TikTok gibt es erst seit 2018.

      (Ich werde in den nächsten Tagen noch eine Besprechung dieses zum Nachdenken anregenden Artikel “Die Not der Kinder” nachreichen – aber erst, wenn ich ihn vollständig gelesen und nachvollzogen habe.)

      • Thomas

        Ich lese den Artikel bezogen auf TikTok anders: Es wird als Beispiel genannt, wie eine sinnvolle Regulation möglich wäre. Eben mit der in China praktizierten Sperre nach einer gewissen Zeit. Dann schlägt er den Bogen zu Zuckerberg.

    • Pet Baumi

      Dem ist sicher nicht so. Bin selbst ein Kind derartiger Systeme: Krippe, Kita, Hort etc. Eltern immer voll arbeitend. Ich, heute fast 58 Jahre. Damals war das Fernsehen der Medienkonsum, welches heute überhaupt keine Rolle mehr spielt. In den Zeiten der “Kaste”, wie sie es nennen, spielen die Kinder untereinander, verbringen viel Zeit miteinander und können sich eben nicht um TiKTok und Co. kümmern. Da viele Eltern heute kaum selber mehr “ohne” auskommen, wird das mit eine Rolle spielen. Kann man beobachten: Spazierengehende Mutter mit Kinderwagen daddelt und unterhält sich eben nicht mit ihrem Kind. usw. Im Restaurant wird nicht mehr Karten oder Memory gespielt bis das Essen kommt, nein, alle datteln am Tisch. Arme Welt. Die Pandemie hat alles noch verschärft. Kaum Kontakt unter gleichaltrigen, Spielplätzen, Kultureinrichtungen, Sportstätten geschlossen oder nur noch mit entsprechendem Aufwand zu begehen. Sogar Sport war nur für Geimpfte, Gehorsame möglich. Ich erinnere, dass man auch von der Schlittenpiste medienwirksam verscheucht wurde. Wenn das keinen Schaden anrichtet? Das ist für viele Erwachsene schon ein Trauma gewesen. Das hat sich bei mir schlimmer ausgewirkt als 25 Jahe DDR-Dasein. Und ich gehöre zu den damaligen Systemflüchtlingen… Wenn man von so viel Unlogik, Unvernunft, Propaganda der Kontaktbeschränkungen und gar -Verboten etc. nicht krank geworden ist, hat eine hohe Reselienz, ist gut im Ausblenden und Verdrängen, ist leichtgläubig oder einfach gut im “Nichthinterfragen”, wie es ein Tierarzt von uns ja gefordert hat.

      • Friedo Pagel

        Schade. Sie führen etliche Punkte auf, über die man wirklich mal nachdenken sollte. Ich denke auch, dass virtuelle Kontakte physische nicht ersetzen können. Und ich befürchte, auch mit Ihrer Kritik, dass heute die Eltern in Sachen unvernünftiger Mediennutzung oft nicht besser als ihre Kinder sind, liegen Sie ganz und gar nicht daneben.

        Leider merken Sie dabei nicht, dass Sie selbst offenbar längst ebenfalls Opfer jener fehlenden verantwortungsvollen Kompetenz im Umgang mit den neuen Medien geworden sind. Der zweite Teil Ihres Beitrages ist ja nur noch ein regelrechter Brei von “Querdenken”. Und wo haben Sie das her? Mein Tipp: Mit ziemlicher Sicherheit über zu viel daddeln mit WhatsApp, Youtube, Facebook und vielleicht auch Telegram.

        Wer in einem ansonsten fehlerfreien Text ausgerechnet das Wort “Resilienz” falsch schreibt, dem mangelt es nicht an Rechtschreibfähigkeiten oder an Konzentration (bei beiden gäbe es mehr Fehler), sondern offenbar an Fachkenntnis zu diesem Begriff. Hm.

        Das hat mich auf jeden Fall neugierig gemacht, sodass ich gegoogelt habe. Und siehe https://www.news4teachers.de/2022/03/kultusministerium-haelt-masken-in-schulen-fuer-wirksam-streicht-aber-die-maskenpflicht/#comment-440902 Der letzte Absatz in der Antwort von Dasdarfwahrsein auf Ihre Antwort, der trifft leider auch auf den hinteren Teil dieses Kommentares zu.

        Schade. Mit diesem unreflektierten Querdenken haben Sie sich “ein ideologisches Brett vor den Kopf genagelt”, das es anderen sehr schwer macht, sich mit Ihnen über Ihre sonstigen interessanten Beobachtungen konstruktiv auszutauschen.

        Bitte mal darüber nachdenken.

    • Herbert Renz-Polster

      “Ich habe das nicht zuende gelesen, weil mir gleich ein großer Fehler auffiel: “Englisch-sprechende Länder”. Welche sollen das sein?”

      Das kommt dann weiter unten.

      Man braucht manchmal eine gewisse Aufmerksamkeitsspanne, daran kann ich leider nichts ändern.

  • Katrin

    Lieber Herr Renz-Polster,
    mich würde zu diesem denkwürdigen Beitrag interessieren, wie sie das Phänomen der Peer Group Orientation, dass Gordon Neufeld beschreibt mit diesem Thema in Verbindung bringen?

    Vielen Dank für Ihre Arbeit.

  • Claudia

    Grundsätzlich gibt es Handyverbot in der Grundschule (hier bei uns) – damit ist das Thema Medien in die Freizeit gelegt. Mediale Begrenzung kann jede Familie selbst regeln durch diverse Einstellungen – muss gewollt sein. Wenn ich letztlich gegen 8 Uhr morgens eine junge Mutter in der U Bahn sehe mit ca 2,5 jähriger Tocher, die im Sportwagen einen Lolli schleckt und dabei ein Video auf Mamas Phon schaut, dann habe ich deutliche Bedenken.

  • Friedo Pagel

    Entschuldigung Herr Renz-Polster, aber Sie müssen mir zunächst einmal helfen.

    Vorweg:
    Mein Gefühl ist, dass Sie hier einen äußerst wichtigen Artikel geschrieben haben.
    Aber gerade weil ich dieses Gefühl habe, reagiere ich darauf erst einmal so, dass ich versuche, alle dem Artikel zugrundeliegenden Daten zu überprüfen. Und daran scheitere ich bisher.
    Gleich beim ersten Link (Absatz “Das Autorenpaar …”) lande ich nicht bei Befindlichkeiten sondern bei Substance Abuse (https://www.samhsa.gov/data/sites/default/files/reports/rpt29393/2019NSDUHFFRPDFWHTML/2019NSDUHFFR1PDFW090120.pdf).
    Und beim zweiten Link (“Lonely at school” Grafik) lande ich auch nicht bei der Arbeit von Twenge/Haid, sondern bei einer Zahlschranke der New York Times.

    Was erhoffte ich mir aus den Originaldaten? Z.B. Antwort auf die Fragen:
    – Gab es die Datenerhebung nur in den Jahren 2003, 2012, 2015, 2018 oder auch in den Jahren dazwischen?
    – Wurden in jeder Region und bei jeder Befragung auch wirklich immer die gleichen Fragen gestellt? (Auffälligkeiten: Engl.Spr.Länder 2015 glatt; East Asia Anstieg erst nach 2015)
    – Was führte zu den Veränderungen der Mittelwerte? Eher große Veränderungen bei wenigen? Oder eher gleichmäßige Veränderungen bei allen? (Ersteres würde die Erklärungsthesen stark stützen, letzteres sie eher in Frage stellen. Denn die Verbreitung von Smartphone und Social Media ging ja nicht schlagartig.)

    Die Daten auf der technischen Seite findet man ja bei Wikipedia. Da aber leider auch nur die Erscheinungsdaten von Smartphone und Social Media Apps und keine Daten zu deren Verbreitung und Nutzung, speziell der von Kindern.

    • Herbert Renz-Polster

      Lieber Herr Pagel,
      ja, da helfe ich gerne 😉 Also der Link (Absatz “Das Autorenpaar”) stimmt schon, in dem Bericht (“Key Substance Use and Mental Health Indicators in the United States”) sind auch Indikatoren zu adolscent depression und mental health service use drin (apropos: ähnliche Daten des CDC 2011-2021 hier: https://www.cdc.gov/healthyyouth/data/yrbs/pdf/YRBS_Data-Summary-Trends_Report2023_508.pdf – chilling! (wollte sie auch reinnehmen, aber es wäre dann doch sehr USA-lastig gewesen).
      Lonely at school, das ist tatsächlich hinter Bezahlschranke, ich würde Ihnen ja gleich mein Abo schicken, aber vielleicht gibt es ein dip-in Abo oder so? Ja schade, ich hab auch sonst kein von einem truck gefallenes Exemplar gefunden… Vielleicht hilft der CDC Datenbestand weiter?
      Herzlich, HRP

      • Friedo Pagel

        Danke.
        Vielleicht noch etwas zu meinem Background, weshalb ich so vorsichtig bin, absolut signifikante Beobachtungen schnell mal in einer Wenn-Dann-Logik zu erklären. Ich komme aus der Selbsthilfe LRS/ADHS (z.B. Anfang der 90er dieses US-Buch angeschleppt und mit übersetzt https://www.amazon.de/Eine-andere-Welt-sehen-Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom/dp/3795007356/)
        Mit vorschnellen Erklärungen für gute und richtige Daten wurden wir damals ständig konfrontiert. Und wie sich rausstellte, auf beiden Seiten, der Verfechter und der Kritiker. Beispiele:
        – Erst Hype, dann Niedergang der https://de.wikipedia.org/wiki/Geschwind-Behan-Galaburda-Modell (wobei ich in 12 Jahren in ca. 500 von mir betreuten Familien typische Beispiele für seine Daten immer wieder angetroffen habe)
        – Dann Prof. Glaeskes ausgezeichnete Datenerhebung über die (GKV) Ritalin Verordnungen seit 1998. Aber die Interpretation – die Verordnungen ballten sich auf wenige Orte, insbesondere bei uns im Nürnberger Raum. Und der Hersteller Ciba-Geigy war in Nürnberg ansässig. Was wurde uns da nicht alles unterstellt. “Selbsthilfegruppen bezahlt von Pharmaindustrie”, banale logische Schlüsse halt. Dabei lagen die Gründe völlig anders: 1. Dr. Skrodzki, ein Pionier in Sachen ADHS hat seine Praxis in Forchheim. 2. Und mir war es gelungen, einen einseitigen Artikel darüber, wie Eltern diese Kinder erleben, im überregionalen Teil der NN schreiben zu dürfen (Folge: Knapp 300 Anrufe verzweifelter Eltern an nur einem einzigen Wochenende). Worauf dann auch noch das lokale Franken Fernsehen uns besucht und das damals noch “Hyperaktivität” genannte ADHS dargestellt hat. Übrigens das erste mal im deutschen Fernsehen.
        Diese Liste könnte ich endlos fortsetzen. Ich habe gelernt, in dem Moment wo man auf Perspektivenwechsel verzichtet und nur eine einzige Perspektive einnimmt, liegt man schon falsch. Z.B. der Knick in 2012 muss nicht zwingend durch Änderungen in 2012 entstanden sein. Natürlich ist es wahrscheinlich. Aber ich muss auch im Auge behalten, ob ein solchen Wandel vielleicht gar nicht aktuell, sondern schon Jahre vorher, z.B. in der Gehirnentwicklung im Alter von 0-3 Jahren oder sogar schon in der Schwangerschaft ihren Ursprung (oder zumindest Einflusskomponenten davon) haben könnte.
        Wobei das wieder nur ein Beispiel ist. Diese auffällige Änderung in den Befindlichkeiten könnte zur Stressverarbeitung gehören (also z.B. auch https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnbeh.2020.601939/full, oder “soziale Verbundenheit”), sagen wir grob der “Resilienz-Entwicklung”, muss aber nicht.
        Die physiologische Manifestation könnte genau so gut im Motivations-/Arbeitsbereitschaft-Bereich liegen. Dann wären es weniger die sozialen Aspekte als die schier ununterbrochene Interaktion mit Smartphone oder Spielkonsole.
        Ein Rückgriff auf ADHS, bzw. auf die Rolle des Dopamins: https://www.youtube.com/watch?v=axrywDP9Ii0
        Einerseits erklärt bereits ein kleiner Mangel an Verfügbarkeit von Dopamin, sowohl das Risk-Seeking-Behavior als auch die dauernde Langeweile/Null Bock Zustände, die ein Leben mit ADHS durchziehen. Aber – die Evolution hat jene Rezeptoren und wie man das pushen kann, ja nicht dafür entwickelt, dass Drogen oder heutige Medikamente dort andocken können, sondern für eine sinnvolle Verhaltenssteuerung, im wesentlichen für den Nahrungserwerb. Und den ADHS-Dopamin-Mangel-Zustand “arbeitsunfähig, weil gerade keine Lust” kann auch jeder nicht ADHS-ler leicht herstellen. Wenn man z.B. 6-8 Wochen unter hoher Dauerbelastung arbeitet und viele Sachen auf den Tag verschiebt, wo das vorbei ist, dann schafft man es unmittelbar am Tag nach jener Dauerbelastung nicht, damit überhaupt anzufangen, selbst wenn man sich die ganze Zeit darauf gefreut hat.
        Entsprechend halte ich es auch für möglich, dass allein die ständige Interaktion das notwendige Wechselspiel zwischen Ruhe und Aktivierung so erheblich stört, dass auch andere “Befindlichkeits-” (Serotonin) und sogar “Lern-” Transmitter (Noradrenalin) beeinträchtigt werden. Dazu noch das mögliche, von Ihnen geschilderte Wegbrechen einer umfassenden sozialen Verbundenheit mit anderen Menschen. Ich denke auch, dass die Kommunikation dafür aller Sinne bedarf, und eben nicht nur verbal, ob gesprochen oder im Chat. Was mich an der Stelle an der Erklärung allerdings zweifeln lässt, sind die Erwachsenen. Für mich ist es zwar ein Unding, wenn ich mit jemandem spreche oder anderweitig Zeit verbringe, mein Handy dabei anzulassen. Für mich ist es eine Form des Respektes – auch wenn ich nicht sein bester Freund bin – mich in den Momenten ihm voll und ganz zu widmen. Die meisten im Freundeskreis sehen das aber heute anders. Für sie ist es ein Ausdruck tiefer innerer Verbindung, wenn z.B. eine Freundin mit einem WhatsApp Clip reinschneit “Ich bin gerade in Paris und hier ist es ja so schön.”, auf die auch noch gleich eine Antwort erwartet wird, also erfolgen muss, und sei es nur ein Smiley.

        Naja, normalerweise kommt am Ende dabei heraus: Von allem ein bisschen. Und alles ist mit allem anderen in ständiger Wechselwirkung, sodass wir weniger nach “dem Schuldigen” suchen müssen (was es dann abzustellen gilt, was wir andererseits aber gar nicht können) als nach dem Prozess, der in diese m.E. wirklich ernsthaft bedrohliche Richtung führt, und ob und wie wir diesen vielleicht positiv beeinflussen können.

        • Herbert Renz-Polster

          Richtig spannend ist das! Im Falle der zunehmenden Einsamkeit/Ängstlichkeit bei Jugendlichen spielen sicher viele Einflüsse ineinander, ich hab ja auch versucht den Link zum Thema “Spieldefizit” auszuleuchten, denn das its ja ein weiterer Megatrend der Kindheiten (weniger selbst gesteuerte Spielerfahrung). Wie immer hilfreich: biologische Plausibilität. Und ja, man kann schon sagen, dass das menschliche Gehirn vielleicht gebaut ist um reale sinnliche und soziale Erfahrungen durch virtuelle Erfahrungen zu *ergänzen*, aber nicht um sie zu *ersetzen*.

  • Lisa

    Hallo! Vielen Dank für den Vortrag, ich finde das klingt insgesamt schlüssig und fängt an ein Thema aufzuarbeiten was einfach in der gesellschaftlichen Entwicklung eine zentrale Rolle spielen wird.
    Ich würde die Problematik noch ergänzen um den Aspekt dass es für Kinder und Jugendliche immer weniger attraktive Alternativen zum Medienkonsum gibt weil sie eben vielerorts nicht mehr einfach „raus“ gehen können. „Draußen“ ist kein Platz mehr für sie vor lauter Autos, akribisch aufgeteilten Grundstücken, detaillierten Regeln und professionell geregeltem Verkehr. Gerade Jugendliche werden ja nicht selten schon kriminalisiert wenn sie sich einfach zusammen irgendwo treffen und sind wie Jugendliche halt so sind. Schrägerweise von Menschen die selbst gern erzählen was sie in ihrer Jugend alles angestellt haben. Aber heute wird erwartet dass die Kinder mit haufenweise Plastikspielzeug und Medienkonsum zufrieden sind aber sich dann trotzdem perfekt und unauffällig entwickeln. Weil sie den älteren Mitbürgern sonst auf die Nerven gehen. So richtig Rechte ein ihrem Alter entsprechendes Sozialleben zu haben gestatten ihnen eher wenige zu oder nicht? Vom Gefühl her schlägt ihnen eine Menge und Intensität an Zurückweisung entgegen die es schon verständlich machen dass sie sich gern ins virtuelle Leben zurückziehen wo sie einfach mal ungestört sie selbst sein können…

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