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Kommentar27. April 2020

Corona – zurück in die Kita oder nicht?

Macht die Kitas auf! Sagen die einen. Lasst sie zu! Sagen die anderen. Sonst drohe Deutschland eine "zweite COVID-Welle". Die Kleinen seien nämlich ein unterschätztes Glied in der Infektionskette - und vielleicht sogar "Treiber der Epidemie"?

Kinder sind gerade wirklich nicht zu beneiden. Viele von ihnen leiden unter den Kontaktbeschränkungen – manche mehr, manche weniger (manche auch gar nicht). Andere leiden so sehr, dass die Frage der Kindeswohlgefährdung durchaus im Raum steht. Ist das überhaupt noch zu rechtfertigen?

Willkommen in der Debatte um die Kita- und Schulschließungen. Sind sie richtig? Nötig? Oder müsste man nicht einfach “Geht gar nicht!” rufen, so wie es jetzt immer mehr Eltern tun?

Das will ich hier NICHT machen. Denn dass Kitas und Schulen besser heute als morgen wieder anlaufen sollten, darüber sind sich die allermeisten an dieser Diskussion Beteiligten eigentlich einig.

Nur haben sie eben sehr unterschiedliche Antworten auf eine zweite Frage: Ist eine solche Wiedereröffnung vielleicht gefährlich?  Zum Beispiel:

  • für die Kinder?
  • für das pädagogische Personal?
  • für die Bevölkerung insgesamt, die jetzt vielleicht eine zweite Welle der COVID-19-Epidemie riskiert?

Sollte die Öffnung von Kitas und Schulen deshalb vielleicht nicht besser noch eine Weile verschoben werden?

Hier ist Grundsätzliches zu klären

Um diesen Grat auszuloten, müssen wir zuerst eine Frage stellen, die bei dieser Güterabwägung ganz zentral steht: Welche Rolle spielen eigentlich Kinder in dieser Epidemie? Sind sie Treiber der Infektionswelle oder sind sie es nicht?

Ich will im Folgenden den Stand der Wissenschaft zu dieser Frage zusammenfassen und daraus ein paar Anregungen für den weiteren Weg ableiten.

Schauen wir uns zuerst einmal an, was über die Infektionskette bei COVID-19 überhaupt bekannt ist (Vorsicht: spannend!)

Stecken sich Kinder überhaupt an und wenn ja wie viele?

Die erste Frage wäre die, ob Kinder sich überhaupt an dem neuen Virus anstecken können. Hier ist die Antwort eindeutig: Kinder jeden Alters können das tun. Als Gegenargument wird manchmal eine Studie aus Island angeführt – dort waren bei einer Stichproben-Untersuchung der Bevölkerung bei Kindern unter 10 Jahren keine Infektionen mit SARS-CoV-2 nachgewiesen worden. Allerdings lässt diese Studie eine grundsätzliche Aussage zur Infizierbarkeit von Kindern gar nicht zu (zudem bestätigt das Kleingedruckte der Studie, dass sich Kinder sehr wohl anstecken können).

Die zweite Frage wäre dann, ob Kinder sich in derselben Häufigkeit anstecken wie Erwachsene – oder ob sie in Teilen gegenüber Ansteckungen gefeit sind. Hier lassen Studien – die Studie aus Island gehört dazu –  bisher vermuten, dass Kinder sich nicht so häufig mit SARS-CoV-2 anstecken wie Erwachsene. So waren in besagter Studie aus Island unter den wegen möglicher Risikokontakte Getesteten die jüngeren Kinder (unter 10 Jahren) eindeutig unterrepräsentiert. Auch zeigte sich ein umgekehrter linearer Zusammenhang mit dem Alter: Je jünger die Kinder waren, desto eher waren sie von SARS-CoV-2 verschont. Aus China wiederum liegen zu dieser Frage widersprüchliche Ergebnisse vor. In zwei Studien wurde dort untersucht, in welchem Maß sich Kontaktpersonen an einer SARS-CoV-2-positiven Person anstecken. In der einen Studie war die Ansteckungsrate nicht altersabhängig, Kinder waren genauso von übertragenen Infektionen betroffen wie Erwachsene. In einer anderen Studie, die auf Ansteckungen innerhalb von Haushalten fokussierte, steckten sich Kinder dagegen nur halb so oft an wie erwachsene Haushaltsmitglieder. (Inzwischen liegen weitere Studien vor, die allesamt von einer geringeren Ansteckungsrate bei Kindern ausgehen, ich gehe darauf in meinem jüngsten Beitrag ein).

Allerdings lässt sich bis heute nicht klar sagen, wie eine geringere Ansteckungsrate bei Kindern zu erklären wäre: Liegt dies daran, dass kleine Kinder von ihrer Biologie her gegen eine Ansteckung mit SARS-CoV-2 widerstandsfähiger sind? Oder haben sie vielleicht bisher nur weniger Ansteckungsmöglichkeiten gehabt (das könnte sich ja auch noch ändern)?

Gesichert ist auf jeden Fall das: Wenn sich Kinder infizieren, dann entwickeln sie viel seltener Krankheitszeichen als Erwachsene. Und wenn sie doch einmal krank werden, dann sind sie weitaus seltener von schweren Verläufen betroffen als Erwachsene (das war zuletzt Thema auf meinem Blog: Corona und die Kinder).

Können Kinder andere anstecken?

Auch diese Frage muss beantwortet werden, wenn wir das Kita-Problem lösen wollen.

Und die Antwort ist hier eindeutig: Ja, Kinder können andere Menschen anstecken. Dazu gab es schon am Anfang der Epidemie in Wuhan klar dokumentierte Fallbeschreibungen, und seither hat sich das Bild vervollständigt: Kinder können  nicht nur andere Kinder, sie können auch Erwachsene anstecken.

Können sie das auch tun, wenn sie gar keine Symptome haben? Von Erwachsenen ist ja bekannt, dass diese eventuelle Kontaktpersonen schon bis zu 3 Tage vor Beginn von Symptomen mit SARS-CoV-2 anstecken können – es wird geschätzt, dass etwa 45% der Ansteckungen in diesem symptomfreien Zeitraum passieren.

Tatsächlich wird für Kinder dasselbe angenommen: Sie können andere auch dann anstecken, wenn sie gar keine Symptome haben – was bei Kindern wie gesagt eher die Regel als die Ausnahme ist. Das gilt sogar für Säuglinge. Ob Kinder ihre Mitwelt allerdings im gleichen Ausmaß, also ähnlich effektiv anstecken können wie Erwachsene, ist die andere, entscheidende  Frage (wir kommen darauf zurück).

Treiber der Epidemie oder nicht?

Kinder können also rein theoretisch durchaus ein Glied in der Infektionskette sein, indem sie sich – zum Beispiel in Kitas und Schulen – an anderen Kindern (oder auch dem Lehrpersonal dort)  anstecken, und das Virus dann zum Beispiel an ihre Eltern oder Großeltern weitergeben.  Und sie können dieses Ansteckungswerk auch vollbringen ohne dass man an irgendwelchen Symptomen erkennen würde, dass sie das Virus in sich tragen.

Ist das überraschend? Doch eher nicht. Dass Kitas und Schulen Brutstätten für Viruserkrankungen sind wissen alle Eltern, wenn ihre lieben Kleinen im Herbst und Winter von einem Infekt in den anderen rutschen. Schliesslich fassen kleine Kinder alles mit den Händen an, stecken vieles in den Mund, sind gerne in Körpernähe,  und wenn sie niesen, dann tun sie das bestimmt nicht in die Ellenbeuge. Tatsächlich lässt sich etwa für Influenzaviren nachweisen, dass der Virenaustausch unter Kindern die jährliche Grippewelle anheizt. Hier sind die Kinder eindeutig “Treiber der Epidemie”.

Aber ist das auch bei SARS-CoV-2 so?

In welchem Ausmaß stecken Kinder andere mit SARS-CoV-2 an?

Willkommen bei der derzeit wohl wichtigsten Frage rund um Kita- und Schulöffnungen. Keine Frage dürfte auch Politiker mehr bewegen, die nun entscheiden sollen, wann und wie die Kleinen wieder in die Einrichtungen gehen sollen oder dürfen.

Immerhin ist eines klar. Was die Gefahren für die Kinder betrifft, können Politiker den Eltern guten Gewissens und mit eindeutigen wissenschaftlichen Beweisen das raten: Eure Kinder sind dort keiner besonderen Gefahr ausgesetzt. Das haben manche Eltern noch nicht ganz verstanden, deshalb will ich es wiederholen: Eure Kinder sind in den Schulen und Kitas sicher (dies gilt zumindest mit Blick auf eine Ansteckung an SARS-CoV-2, andere schul- oder kitabedingte Schäden sind nicht auszuschließen). Wenn ein Kind in den nächsten Monaten durch einen Erreger zu leiden hat oder gar ins Krankenhaus muss, dann heisst der eher Norovirus, Adenovirus oder Influenzavirus als SARS-CoV-2. Und diese Aussage von der relativen Harmlosigkeit von COVID-19 für Kinder gilt auch für Kinder mit den gängigen Vorbelastungen wie etwa Asthma, Pseudokrupp oder obstruktiver Bronchitis (ich gehe auf die Frage, welche Kinder “Risikokinder” sind im Detail in “Alles über Corona” ein).

Aber bleiben wir noch kurz bei den Politikern. Ist es dem pädagogischen Personal zuzumuten, sich jetzt um einen Haufen Kinder zu kümmern, deren infektiöses Potenzial zwar von seinem Ausmaß her noch umstritten – aber durchaus gegeben ist?

Zumindest für den weitaus größeren Teil des Lehrpersonals heisst die Antwort: Ja. Schliesslich gehören die meisten PädagogInnen bzw. ErzieherInnen zu einer Gruppe mit einem sehr niedrigen Risiko für schwere COVID-19-Verläufe. Sie sind meist unter 60 Jahren, meist weiblich (Frauen haben nur ein halb so großes Risiko schwer an COVID-19 zu erkranken) und sie sind meist relativ gesund. Und nachdem immer klarer wird, dass COVID-19 es sogar mit den Rauchern gut meint (mehr dazu in “Alles über Corona“, Seite 87) müssen auch Raucher und Dampfer keine größere Angst vor COVID-19 haben als Nichtraucher. Bestimmte Risikogruppen (Lehrpersonal mit extremem Übergewicht, Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen usw.) müssten womöglich allerdings vom Dienst freigestellt werden.

Zurück zu den Kindern

Aber damit sind wir immer noch nicht weitergekommen. Ja, Kinder sind potenziell Glieder der Infektionskette – aber treiben sie die Kette an? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen?

Schauen wir uns als ersten Schritt einmal genau an, was über SARS-CoV-2 positive Kinder in der wissenschaftlichen Literatur bekannt ist. Da stechen ein paar Befunde heraus:

Die überwiegende Mehrzahl der infizierten Kinder wurden bisher im zeitlichen Zusammenhang mit erkrankten Familienmitgliedern diagnostiziert. Und in der Regel waren dabei die erwachsenen Familienmitglieder vor den Kindern erkrankt. Das heisst: Kinder stecken sich eher an ihren engen Erwachsenenkontakten an als umgekehrt. Das spräche dafür, dass Kindern vielleicht eher eine passive als eine aktive Rolle in der Übertragung der Krankheit zukommt.

Nun könnte diese Tatsache allerdings wieder auf zwei Arten erklärt werden:

  • nämlich biologisch: vielleicht ist die Ansteckungskraft der Kinder generell schwächer als die der Erwachsenen? Dann ginge von Kindern grundsätzlich eine geringere Ansteckungsgefahr aus als von Erwachsenen
  • dass bisher eher Erwachsene die Kinder anstecken als umgekehrt, könnte aber auch ein Ausdruck des bisherigen Verlaufs der Epidemie sein. Vielleicht ist die biologische Ansteckungskraft der Kinder ja genauso hoch wie die der Erwachsenen – nur haben die Kinder bisher noch nicht die Gelegenheit gehabt dies zu zeigen! Kinder wären nach dieser Erklärung möglicherweise ein genauso wichtiger Teil der Infektionskette wie Erwachsene (oder könnten unter Umständen sogar zu “Treibern” der Epidemie werden).

Für beide Erklärungen gibt es gute Argumente. Typisch COVID-19, wo systematische Forschungen nun einmal erst allmählich anfluten.

Hypothese 1: Kinder sind ein wichtiger Teil der Übertragungskette, genauso wie Erwachsene

Fangen wir mit der zweiten Erklärungsmöglichkeit an. Die wissenschaftliche Literatur über den Verlauf der COVID-19-Epidemie  zeigt, dass die Zahl der SARS-CoV-2-positiven Kinder im gleichen Maß zunimmt wie die Zahl der SARS-CoV-2-positiven Erwachsenen. In der folgenden Grafik ist nach oben der Anstieg an Infektionen bei Erwachsenen eingezeichnet, nach unten der bei den Kindern:


(Aus:  Cao Q, Chen YC, Chen CL, Chiu CH. SARS-CoV-2 infection in children: Transmission dynamics and clinical characteristics. J Formos Med Assoc. 2020;119(3):670–673. doi:10.1016/j.jfma.2020.02.009)

Um aus dieser Tatsache Schlüsse zu ziehen sollten wir uns kurz die Dynamik einer beginnenden Epidemie anschauen. Sie erklärt nämlich, auf welchem Weg sich die Kinder in dem Schaubild wohl infiziert haben: In der Gründerphase der COVID-19-Epidemie ging die Viren-Saat zunächst eindeutig von den Erwachsenen aus – sie sind schliesslich der mobilste Teil der Bevölkerung, und sie geben die eingefangenen Viren zunächst untereinander weiter – beim Meeting im Büro, in der Kneipe nach der Arbeit, in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit, im Fitness-Studio, und und und. Nach und nach kommt das Virus dann  in den Familien an – jetzt kommen die Kinder (und evtl. Großeltern) ins Spiel, die am Anfang einer Epidemie also vor allem sekundär infiziert werden – meist von den Eltern.

Aber muss es dabei bleiben? Natürlich nicht. Denn wenn die Epidemie jetzt nicht eingedämmt wird und ihre “Explosionsphase” erreicht, werden parallel zum Anstieg der Infektion in der Erwachsenenbevölkerung auch immer mehr Kinder SARS-CoV-2 positiv (siehe Grafik oben). Von nun an können auch die Kinder das Virus theoretisch in nenneswertem Umfang in ihren Lebensräumen weiter verbreiten – in den Kitas und Schulen etwa. In diesem Fall werden also auch die Bildungseinrichtungen – und die dort spielenden oder lernenden Kinder – zu möglichen Multiplikatoren.

Das heisst: Kinder spielen möglicherweise in der zweiten Phase der Epidemie – also wenn die Epidemie durch die Familien gezogen ist – eine zunehmend wichtige Rolle in der Übertragungskette. Im Umkehrschluss hiesse das, dass in diesem Stadium auch Schul- und Kita-Schliessungen sinnvoll sein könnten – so wie es die WHO es bis heute empfiehlt.

Hypothese 2: Kinder sind ein weniger wichtiger Teil der Infektionskette

Und was ist mit der ersten Variante? Also der Möglichkeit, dass Kinder vielleicht aus biologischen Gründen gar keine so große “Feuerkraft” haben, was die Ansteckung anderer Menschen angeht?

Nehmen wir dazu gleich eine Fallgeschichte, die zeigt, dass die Hypothese nicht aus der Luft gegriffen ist: In Frankreich wurde ein 9 Jahre altes Mädchen im Zuge einer Kontaktverfolgung positiv auf SARS-CoV-2 getestet, das Mädchen selbst hatte keine Symptome. Aber sie hatte immerhin in dem möglichen Übertragungszeitraum mit 172 Menschen Kontakt, unter anderem weil sie an drei Skikursen teilgenommen hatte. Alle 172 wurden negativ auf SARS-CoV-2 getestet. Handelt es sich um einen Einzelfall? Lagen bei dem Mädchen vielleicht besondere Bedingungen vor (etwa eine gerade durchgemachte Infektion mit einem der Feld-Wald-Wiesen Coronaviren?) Oder ist das Mädchen typisch für die meisten anderen Kinder?

Hier stoßen wir also gleich auf eine der spannendsten Geschichten der derzeitigen COVID-19-Forschung. Sie könnte sogar ein Happy End haben und zu einer dritten Hypothese führen: Dass Kinder nämlich vielleicht sogar eine bremsende Rolle in der Epidemie spielen könnten!

Aber der Reihe nach. Was könnte dafür sprechen, dass Kinder eine geringere Ansteckungsfähigkeit haben als Erwachsene? Hier werden in der wissenschaftlichen Literatur mehrere Gründe diskutiert (sie erklären teilweise auch, warum Kinder nach einer Infektion seltener erkranken, aber das nur am Rande):

  • Kinder tragen auf den Zellen der unteren Atemwege weniger ACE-2-Rezeptoren, die als Andock- bzw. Einstiegsleitern für die Infektion der Lunge dienen. Dies könnte der Grund sein, warum bei an COVID-19 erkrankten Kindern seltener die unteren Atemwege mit betroffen sind. Dadurch erleiden Kinder nicht nur seltener Lungenentzündungen – sie stellen dem Virus auch weniger Vermehrungsfläche zur Verfügung. Weil die Infektion damit eher auf Hals und Rachen begrenzt bleibt, scheiden Kinder beim Husten, Sprechen und Niesen möglicherweise auch weniger Viren aus. Das vermindert zum einen ihr Ansteckungspotenzial, zum anderen sorgt die geringere Viruslast aber auch dafür, dass mögliche Ansteckungen bei den Betroffenen leichter verlaufen. Tatsächlich wird nämlich vermutet, dass die Schwere einer COVID-19-Erkrankung bei einem Angesteckten auch mit der Anzahl der Viren-Kopien zusammenhängt, die ihn bei der Ansteckung überfluten (so wird zum Beispiel erklärt, warum ÄrztInnen ein deutlich höheres Risiko für sehr schwere und auch tödliche COVID-19-Verläufe haben – sie werden insbesondere bei einem Mangel an Schutzkleidung häufig mit massiven Virenmengen angesteckt).
  • Kinder haben aber möglicherweise auch einen weiteren Vorteil gegenüber Erwachsenen: Die kindlichen Luftwege sind häufig mit anderen Viren besiedelt – seien es Adeno-, Rhino-, RSV, Influenzaviren, oder auch die endemischen saisonalen Coronaviren). Diese Besiedelung macht die Kinder nicht krank, bietet aber einen gewissen Schutz gegenüber der Einnistung neu auftretender Viren wie SARS-CoV-2, denen es in dem etablierten viralen Ökosystem schwere fällt sich eine Nische zu schaffen. Auch dieser mikrobiologische Schutz könnte dazu beitragen, dass Kinder – je jünger desto eher – eine deutlich geringere Viruslast auf ihren Schleimhäuten tragen, und eine entsprechend geringere Viruslast auch weitergeben.
  • Schliesslich weist eine interessante Theorie darauf hin, dass sich in Kindern das Virus vielleicht auch deshalb nicht so stark vermehrt, weil das kindliche Immunsystem schon eine generell gegen Viren wirkende Allzweckwaffe besitzt. Diese könnte aus der bei Kindern viel größeren Population an bestimmten Abwehrzellen bestehen (den Lymphozyten).
  • Aber auch Impfungen könnten eine solche Allzweckwaffe sein. Manche Impfungen haben nämlich nicht nur direkte (spezifische) Wirkungen auf einzelne Erreger, sondern darüber hinausgehende (unspezifische) Wirkungen, die das Immunsystem generell gegenüber Virenangriffe stärken können. Solche unspezifischen antiviralen Effekte lassen sich zum Beispiel für die BCG-Impfung und hierzulande vor allem für die Masern-Impfung nachweisen. Zudem scheinen auch bestimmte Virusinfekte, die gerade Kinder häufig betreffen (Cytomegalovirus and Influenza A), bestimmte Immunzellen zu aktivieren, die dann auch für eine stärkere Immunantwort gegenüber anderen Viren sorgen.

Kinder haben also mehrere Gründe, warum ihr Ansteckungspotenzial hinter dem der Erwachsenen zurückbleiben könnte. Sollte sich dies erhärten, so käme Kindern in der Übertragungskette womöglich eine untergeordnete Rolle zu.

Mehr noch, Kindern käme in diesem Fall vielleicht sogar eine bremsende Rolle in der Infektionskette zu: Weil sie selber so gut mit dem Virus zurechtkommen, reduziert sich an ihnen möglicherweise die in der Infektionskette weitergegebene Viruslast. Wenn dem so wäre, wäre es für einen Erwachsenen tatsächlich eher von Vorteil, sich statt an einem Erwachsenen an einem Kind anzustecken – und an einem an seiner Infektion nicht erkrankten Kind allemal.

Ein Blick auf MERS und SARS

Epidemiologen standen schon einmal vor der Frage, welche Rolle die Kinder eigentlich in der Übertragungskette spielen – und zwar bei den anderen beiden endemischen Coronavirenerkrankungen: bei  SARS (2002/2003) und bei MERS (2013).  Bei beiden Erkrankungen  spielten Kinder eine andere Rolle als sie von vielen anderen Infektionskrankheiten bekannt ist: die Kinder wurden zwar auch angesteckt, aber deutlich seltener als die Erwachsenen. Auch wurden angesteckte Kinder – wie bei COVID-19 – nur selten krank. Und wenn sie krank wurden, wurden sie stets wieder gesund – wie bei COVID-19. Eine Ansteckung von Erwachsenen durch Kinder wurde zwar auch bei SARS beobachtet, aber kam eher selten vor. Die Rolle der Kinder in der Übertragungskette bei SARS wird vom CDC deshalb so zusammengefasst:

“The role of children in transmission is likely much less significant than the role of adults.”

Bei MERS sieht das Bild ganz ähnlich aus: Kinder konnten angesteckt werden, erkrankten aber nicht schwer. Und die von Kindern ausgehende Ansteckungen spielten auch bei dieser Epidemie eine untergeordnete Rolle.

Die Beweislage

Fassen wir zusammen, was über die mögliche Rolle von Kindern in der Übertragungskette von SARS-CoV-2 bekannt ist:

  • Dass Kinder die Übertragung anheizen oder gar antreiben – dafür gibt es bisher keine Beweise.
  • Umgekehrt gibt es aber auch keine Beweise, dass sie dies NICHT tun oder in einem bestimmten Stadium der Epidemie nicht tun könnten.
  • Aber es gibt immerhin einige interessante Hinweise aus der Grundlagenforschung und aus dem Verlauf der beiden anderen Corona-Pandemien, die eine untergeordnete Rolle der Kinder in der Übertragungskette plausibel erscheinen lassen.
  • Spekuliert wird darüber hinaus, ob Kindern bei der Übertragung vielleicht sogar eine klinisch abschwächende (attenuierende) Rolle zukommen könnte, weil sie möglicherweise eine geringere Virenlast übertragen. Bewiesen ist dies allerdings nicht.

Wir stoßen also auch in dieser Frage wieder auf die bekannten Grenzen, typisch COVID-19: für klare Aussagen fehlt oft der eindeutige wissenschaftliche Hintergrund.

Wie geht es weiter?

Als erstes muss diese Verständnislücke dringend geschlossen werden. Dazu sollten die jetzigen Gelegenheiten (etwa die während der Kontaktsperren durchgeführte Notbetreuung  von Kindern, aber auch die jetzt in anderen Ländern wieder anlaufende Beschulung bzw. Öffnung von Kitas) genutzt werden, um rasch Daten über die Übertragungsdynamik zu sammeln. Eine erste Studie dazu ist angelaufen.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass eine Notbetreuung von Kindern von Eltern in systemrelevanten Berufen in Deutschland bisher überhaupt durchgeführt wurde. Denn wenn Kinder eine “treibende” Rolle bei der Ansteckung zugesprochen wird – sollten dann nicht gerade die Kinder von Polizisten, ÄrztInnen oder KrankenpflegerInnen eben NICHT in Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden?

Weitere offene Fragen

Denn dass sich in einer Kita Ansteckungen wirklich verhindern lassen, ist ja eine zweite, derzeit völlig offene Hypothese. Bekannt ist, dass selbst Intensivstationen und Operationssäle alle Mühe haben, Übertragungen dieses Virus zu verhindern. Das Robert Koch Institut hat zunächst sogar angeordnet, Obduktionen von SARS-CoV-2 positiven Verstorbenen zu unterlassen – wegen des Ansteckungsrisikos für das Personal. Dabei steht den Pathologen Ganzkörperschutzkleidung zur Verfügung, und sie wissen – im Gegensatz zu Kindern – wie man einen Mundschutz behandelt, damit er seinen Zweck erfüllt. Und jetzt soll das Leben in Kitas so gestaltet werden, dass über Wochen, Monate und womöglich Jahre das glückt, was selbst in Operationssälen in den letzten Wochen oft nicht geglückt ist, nämlich Ansteckungen verhindern?

Da bin ich sehr skeptisch und hoffe, dass hier nicht mit Kindern das Unmögliche versucht werden soll. Aber das ist ein anderes Thema, ich werde bei Gelegenheit dazu Stellung beziehen.

Einstweilen fahren wir auch hier auf Sicht. Ohne Absicherung durch wissenschaftliche Evidenz, ohne Erfahrung auch. Immerhin ist der Wille groß, jetzt Daten zu erheben und die Übertragungskette besser zu verstehen. Einstweilen ist niemand ein Vorwurf zu machen, wenn er oder sie so entscheidet – oder auch anders.

Oder neue Ideen entwickelt, neue Fragen stellt. Wie etwa: Wäre dies jetzt nicht vielleicht die Zeit für die Betreuung von Kindern draußen an der frischen Luft? Wäre das jetzt nicht die Zeit für eine Wiederbelebung der Kindertagespflege, also der Betreuung der Kinder in kleinen, festen Gruppen? Und wäre für Schulklassen jetzt nicht die ideale Zeit, statt den Sommer in 1,5 Meter Abstand und mit Mundschutz Arbeitsblätter abzuarbeiten eine Alpenüberquerung zu machen? Bei der Ernte zu helfen (nein, nicht einfach als Arbeitskraft, sondern begleitet von Fachleuten, mit denen sie gleichzeitig die Welt des Bodens, des Wachsens, des Klimas, des Regens, der Werkzeuge, der Wirtschaft, der Preisgestaltung, des Verkaufs, der Zubereitung für den Essenstisch und und und  kennenlernen? Unsere ehemalige Familienministerin Kristina Schröder, hat in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung “Wanderkindergärten” vorgeschlagen. Ich weiß zwar nicht genau, was sie damit meint, aber ich finde, das steht für eine Offenheit für Neues, die wir jetzt dringend brauchen.

[Ergänzung, Mitte Mai 2020: Inzwischen liegen weitere Studien zu der Frage der Ansteckungsfähigkeit von Kindern vor. Sie haben der Debatte um die Öffnung von Kitas noch einmal Schwung gegeben, geklärt haben sie sie jedoch nicht. Ich kommentiere hier und hier.]

Zu diesem Beitrag will ich gerne auf mein Buch „Gesundheit für Kinder" hinweisen: "Kinderkrankheiten verhüten, erkennen, behandeln". Es hat sich im deutschsprachigen Raum als DAS umfassende Nachschlagewerk zur Kindergesundheit etabliert.
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44 Kommentare

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  • Barbara

    Ich bin total verwirrt. Hier in der Schweiz sagte man heute an der PK, dass die Unispitäler Genf, Zürich, Bern herausgefunden haben, dass Kinder bis 10 weniger oder keine Rezeptoren für dieses Virus haben (keine Ahnung ob das der genaue Wortlaut oder der richtige Ausdruck ist). Der Mann vom BAG (Bundesamt für Gesundheit) sagte, dass Grosseltern wieder Kontakt mit den Enkeln haben dürfen, aber möglichst ohne die Elterngeneration. Nachlesen kann man einige der Aussagen beim SRF.
    Tja was denn nun? Wem soll man da noch glauben 🙁

    • Silke

      Liebe Barbara,
      Du kannst glauben, was Du willst… wenn Du 10 Leute fragst, bekommst Du mindestens 10 verschiedene Antworten. Das war schon immer so und wird vermutlich auch so bleiben.
      Ein Uni-Professor sagte uns Meisterschülern in einer Lehreinheit, dass wir uns das Klassenzimmer mal ansehen sollen… und das war ein mittelgroßes Klassenzimmer. Und nun sollten wir nach oben in eine Ecke sehen… er sagte: “Jetzt stellen Sie sich da oben im Eck einen Würfen vor mit ungefähr 10 cm Seitenlänge. All das, was in diesem Würfel ist, weiß die Medizin… und den Rest dieses Klassenzimmers wissen wir einfach nicht.”

      • Barbara

        Ja aber der Mann vom Bundesgesundheitsamt sagte, er teile Dinge nur mit, wenn diese sicher sind.
        Ich frage mich aber, wenn das so sicher ist, wieso nur in der Schweiz? Wieso orientieren sich da nicht andere Länder dran? Warum kocht jeder seinen eigenen Brei?

        • Silke Kosper

          Weil es nicht DIE ultimative Wahrheit gibt. Jeder versucht, aus den Zahlen und Informationen seine “richtigen” Schlussfolgerungen zu ziehen… aber Schlussendlich sind das alles nur Vermutungen und jeder kann auch noch mit denselben Zahlen zu einem unterschiedlichen Ergebnis kommen, je nachdem, welches Hintergrundwissen er mitbringt, bzw. Von welcher Seite und mit welcher Haltung er draufschaut…

        • Juliane Cieslik

          Liebe Barbara, hier in Deutschland macht doch sogar jedes Bundesland sein eigenes Ding. Wieso sollte dann grenzenüberschreitend gemeinsame Sache gemacht werden? Das versteht kein Mensch.

    • Herbert Renz-Polster

      @Barbara: Oh da wäre ich vorsichtig. Haben Sie denn eine Quelle zu dieser Aussage Ihres Bundesamts?? Das wäre super interessant!
      Danke, HRP

    • Herbert Renz-Polster

      @Barbara, ich habe die Quelle gefunden, sie stimmt. Das ist mal eine Ansage aus der Schweiz! Kudos.

      • Esther

        Aber selbst wenn die Kinder weniger Rezeptoren haben, dann tragen sie dennoch den Virus in sich und können andere Menschen anstecken. Und wenn die zur Risikogruppe gehören, wie zum Beispiel Oma und Opa, na dann möchte ich nicht wissen, was in der Schweiz demnächst so abgeht in Sachen COVID-19.

        • Natalie

          Liebe Esther, im obigen Artikel wird mehrfach darauf hingewiesen, warum Kinder die Erwachsenen weniger häufig anstecken. Bitte den Artikel nochmal genau lesen!

        • Esther Fleck

          In dem Artikel steht: nix genaues weiss man nicht. Der wissenschaftliche Beweis fehlt. Dann kommt ein Vergleich mit SARS-1 und MERS, den man meines Erachtens nicht stellen kann, denn sowohl SARs-1 als auch MERS replizierten erst in der Lunge. Wenn Kinder sich infizierten und kaum oder keine Symptome entwickelten, dann hatten sie kaum Gelegenheit den Virus zu verteilen. SARS-CoV-2 repliziert massiv im Rachenraum, auch bei Kindern, wenn sie sich infizieren. Und da reicht sprechen, hüsteln, atmen um den Virus zu verteilen. Also, ich wäre mir da nicht so sicher, das Kinder eine untergeordnete Rolle spielen.

  • Marion Vissering

    Lieber Herr Renz-Polster!
    Ich arbeite als Tagesmutter und habe seit heute eine Notbetreuung begonnen…ich habe vier meiner acht Tageskinder in der Notbetreuung und ich gestalte sie als Waldgruppe…wir gehen jeden Morgen bis mittags in den Wald…das gefällt den Kindern ganz besonders gut! Beste Grüße
    Marion Vissering

  • Olaf

    Schade, dass auch in dieser Betrachtung der Frage der Kita-Öffnung der Blick auf entwicklungspsychologische Effekte (d.h. Schäden) durch eine lange Isolation von anderen Kindern ausbleibt.
    Es ist zweifelsohne wichtig, die Rolle der Kinder in der Dynamik dieser Edpidemie besser zu verstehen – aber wir müssen auch vorher schon abwägen, wie viel Schaden-Risiko wir (als Gesellschaft) unseren Kindern zumuten, um das Gesundheitsrisiko für andere Gruppen ggf. zu verringern. Und jede Woche Abwarten ist eine weitere Woche Risiko für die Kinder.
    Wie heisst es doch: “Life happens while you’re busy making plans.”

    • Sarah

      Das kann ich nur unterstützen!
      Folgen/Auswirkungen sind den Kindern jetzt schon anzumerken. 2 Monate sind als Kind eine lange Zeit.

    • Herbert Renz-Polster

      @Olaf: Diese Betrachtung werde ich nachliefern. Hier ging es mir und “medizinische” Bewertung, denn es hilft ja nicht: diese wird in die politischen Bewertungen ganz stark einfliessen.

  • Andrea W.

    Vielen Dank für diesen interessanten Artikel!

    Mich würde Ihre Meinung interessieren, wie Sie die Auswirkung der Isolation der kleinen Kinder sehen, Herr Renz-Polster. Diese Gruppe, die nur mit einer Bezugsperson draußen unterwegs sein kann, hat ja aktuell keinerlei Möglichkeit Kontakt mit Gleichaltrigen zu haben.

  • Daniela Schramm

    Lieber Herbert, ich finde deinen Artikel höchst spannend und habe gerade am Ende so ein Aha-Erlebnis gehabt, weil mir die gleichen Gedanken vor ein paar Wochen gekommen sind. Warum nutzen wir nicht das Riesen-Potential in den Kindern, um sie an andere wichtige Dinge heranzuführen, die es da so im Leben gibt, die Verbundenheit mit der Natur wiederzubeleben, alternative und bessere Betreuungsformen zu suchen, sie aus der Enge und Engstirnigkeit herauszuholen – das wäre innovativ, stressmindernd und würde die Eltern auch ein Stück weit entlasten. Wenn das noch lange so weitergeht und die Kitaeltern ein Leben in Isolation und Existenzangst und Verlust leben müssen, dann haben wir am Ende doch ein dickes Ende – und damit möchte glaube ich keiner wirklich umgehen müssen…

    Vielen lieben Dank für deine Inspiration und Aufklärung!!!

  • Kathrin

    Danke für den Artikel!
    Ich schließe mich den vorherigen Kommentaren an. Mich würde auch interessieren, wie Sie die Auswirkungen von monatelanger Isolation von Kindern durch Schließungen und Kontaktsperren einschätzen. Insbesondere bei Einzelkindern macht mir das Sorgen.

  • Ferdinand

    Hallo Herbert,
    ich habe gerade [4] angeschaut. Schon in der Zusammenfassung steht, dass man quasi nichts genaues weiß. Wenn man dann die Ergebnisse der gesichteten Artikel liest bleibt ein Einziger übrig, wo die Autoren glauben (nicht bewiesen haben), dass ein Kind andere Menschen angesteckt hat.
    Entweder Du hast hier die falsche Quelle angegeben, oder Deine Aussage („eindeutig…“) stimmt so nicht.
    VG
    Ferdinand

    • Herbert Renz-Polster

      @Ferdinand: Danke – ich habe jetzt auch noch mal jeden Fall nachgelesen und nehme das “eindeutig” zurück. Es ist wirklich eine vertrackte Diskussion weil einerseits auf der individuellen Ebene eindeutige Übertragungen im Nachhinein kaum klar zu dokumentieren sind (fast alle Menschen haben ja eine Vielzahl von Kontakten und am Anfang der Epidemie sind die Virenträger ja fast nur Erwachsene).
      Wo aber zum Beispiel für größere Gruppen in einem späteren Stadium Kontaktprofile erstellt werden tauchen dann schon wieder Kinder als mögliche Überträger auf, wie etwa die heute veröffentlichte Studie: https://science.sciencemag.org/content/early/2020/04/28/science.abb8001#xref-ref-9-1
      Sicher ist aber auch hier: wenn dann spielen Kinder eine KLEINE Rolle. Ich finde das gibt genug Sicherheit, um die Kinder “beobachtet” frei zu lassen. Denn: 100%ige Sicherheit wird kein Wissenschaftler jemas garantieren…
      Danke!

  • Gianna

    Vielen Dank für den Artikel und die Zusammenfassung. Ein weiterer Punkt, der mir gerade zu denken gibt: es wurde u.a. in der Leopoldina-Empfehlung begründet, dass Kitakinder keine 1,50m Abstand halten können und daher die Kitas bis zum Sommer geschlossen bleiben sollten. Aber woher kommen denn die 1,50m? Ist das nicht die Entfernung, wie weit die Hustentröpfchen fliegen können, aber gemessen bei Erwachsenen? Können denn Kinder mit ihrem kleineren Lungenvolumen und geringerer Muskelkraft auch so weit husten? Wurde das denn überhaupt schon untersucht? Das wäre ja zumindest eine Untersuchung, die vergleichsweise schnell Ergebnisse liefern können sollte, um diesen einen Punkt in der Diskussion um eine Öffnung der Kitas zu bewerten…

    • Herbert Renz-Polster

      Das ist eine reine Spekulation. Niemand weiss, wie effektiv die 1,5 Meter regel in einer Kita sind (dagegen weiss man zum Beispiel für die häusliche Quarantäne, dass diese Grundregeln – Abstand, Mundschutz, Händewaschen, keine gemeinsamen Gegenstände regelmäßig benutzen – effektiv sind). Aber: dasselbe in einer Kita mit kleinen Kindern sieht womöglich völlig anders aus – da sind die Bemühungen vielleicht wirklich nur wie pissing in the ocean…

  • Olga

    Lieber Herr Dr. Renz-Polster,

    Herzlichen Dank für diesen Beitrag und die Quellen. For meine Kinder wünsche ich auch eine Rückkehr in die Kita und Schule mit mehr Aufenthalt in der Natur und auf der frischen Luft.
    Mir fehlt in Ihrem Text noch ein Kommentar zu den niederländischen Ergebnissen, wo die Fragen, die Sie beleuchtet haben, nicht mehr als Hypothese betrachtet, sondern mehr als klar und eindeutig beantwortet werden: https://www.rivm.nl/en/novel-coronavirus-covid-19/children-and-covid-19
    Die Kernaussage ist sehr unmissverständlich: Kinder spielen eine untergeordnete Rolle mit der Konsequenz der Kita und Schulöffnung. Vielleicht können Sie auch darauf noch eingehen? Vielen Dank!

    • Herbert Renz-Polster

      Danke. Ich hatte die niederländische Stellungnahme in den Literatur erwähnt (Quelle 5). Das Problem ist, dass die Stellungnahme eben auch nur eine Interpretation der Literatur ist. Aber immerhin: durch eine offizielle, regierungsberatende Behörde. So wird es trotzdem gehen müssen: dass das RKI nach Sichtung der Literatur das Signalhorn bläst und sagt: jetzt machen wir das so wie wir es gerade am besten verstehen. Ich finde selbst wenn eine Unsicherheit besteht spräche nichts dagegen, das zumindest einmal für einen Landkreis so zu machen. Und dann weiter. Weil: eine letzte wissenschaftliche Sicherheit wird es in solch komplexen “Feld”-Fragen womöglich nie geben!

  • Angele

    Sehr interessanter Artikel! Nur der Vollständigkeit halber sei allerdings darauf hingewiesen, dass unser Kindergarten- wie wahrscheinlich andere auch – die Notbetreuung unter der Voraussetzung einrichtete, dass die Gruppen maximal vier Kinder umfassen. Inzwischen heißt es, die Kinder müssten verstehen und bereit sein, eine Maske zu tragen, insbesondere beim Vorlesen, und auf das Knuddeln zu verzichten. Sollte die Notbetreuung weiter erweitert werden, fehlten allerdings sowohl ausgebildete Erzieher (die Mehrzahl der Erzieherinnen ist zumindest weit über 40 und zum Teil Risikogruppe) als auch ausreichend Räume. Tja, und natürlich sind vor allem die Kinder von medizinischem Personal dabei… und leider auch wegen letzterem sind wir erst mal davor zurückgeschreckt, unseren Anspruch auf Notbetreuung geltend zu machen.

    • Herbert Renz-Polster

      Ja, guter Punkt. Für die Kinder werden auch die kleineren Gruppen liebend gern nehmen. Aber genau das sehe ich als Gefahr: dass wir mit den Kindern eine aufwändige, beängstigende und entwicklungshemmende Pseudo-Hygiene durchziehen, die in Wirklichkeit gar nicht effektiv sein kann. Mundschutz bei kleinen Kindern, die sich hundert mal am Tag ins Gesicht fassen? Genau das wäre dringend zu klären: können kleine Kinder überhaupt ein Kita-Leben führen (also spielen, essen, aufs Klo gehen, weinen, evtl. schlafen, getröstet werden, umsorgt werden) und GLEICHZEITIG eine Ansteckung verhindern? Die Effektivität dürfte so gering sein, dass die Frage wäre ob man nicht gleich nur ein Minimalprogramm nimmt. So wie in der Grippesaison.

  • Friedrich Pagel

    Hallo Herr Renz-Polster,

    auf ganz ähnliche Ergebnisse bin ich bei meinen eigenen Literatur Recherchen gekommen.

    Und dann war da Anna Planken in der Maischberger Sendung gleich am Anfang (https://www.daserste.de/information/talk/maischberger/videos/maischberger-die-woche-video-278.html ) und hat mit der Schilderung ihres Falles leider alles über den Haufen geworfen. Sie sagte, ihre 3-jährige Tochter habe sich zuerst angesteckt, dann die größere Tochter, und schließlich auch die Eltern.

    • Herbert Renz-Polster

      Ja, das sind dann die üblichen: bei mir aber war es so…
      Und ist dann eine Katastrophe passiert? Die Kinder waren krank, die Eltern waren krank – das wird in den nächsten Jahren noch häufiger passieren. Solange die Epidemie nicht aus dem Ruder läuft ist das im Rahmen des zu Erwartenden.

      • Esther

        Herr Renz-Polster. sowas ist aber nicht witzig, wenn eines der Elternteile zur Risikogruppe gehört. Dann schleppen die Kinder COVID 19 genau zu denen, die wir eigentlich schützen wollen. Bei KiGa Kindern würde mir einfach einfallen, mein Kind aus dem KiGa zu nehmen. Aber bei schulpflichtigen Kindern? Wie soll das gehen? Ich bin so ein Fall. Alleinerziehend, Risikogruppe und zwei schulpflichtige Kinder, Mir graut es vor den Schulöffnungen.

  • Janine

    Vielen Dank für den Artikel. Was mir persönlich ganz besondere Bauchschmerzen bereitet, ist die Situation für die Kinder in den Kitas. Meine Kinder sind Kuschler durch und durch und dann sollen sie in die KiTa gehen und Abstand einhalten. Kein Kuscheln mit den Erziehern, kein Kuscheln mit Gleichaltrigen. Da wäre für mich die Frage, was das für die Kinder seelisch bedeutet. Etwas was früher total normal war wird dann vielleicht bald angemahnt ohne das mein Kind es verstehen kann, da Kuscheln und Korperkontakt ein Impuls im Spiel ist. Das bereitet mir momentan mehr Kopfzerbrechen als die möglichen Folgen der Isolation von Gleichaltrigen.

    • Herbert Renz-Polster

      Genau. Kleinen Kindern wird etwas mit ihrer “Art” und ihren Bedürfnissen nicht Vereinbares aufgezwungen. Das wäre eventuell zu rechtfertigen, wenn a) bewiesen wäre, dass die Hygienemaßnahmen effektiv sind (ist fragwürdig, viel plausibler ist, dass eine effektive Hygiene über Wochen und Monate in Kitas gar nicht möglich ist) und wenn b) bewiesen wäre, dass die COVID-Epidemie nur durch die vorgesehene Behandlung der Kinder in Schach gehalten werden kann – auch das ist nicht bewiesen und aus vielen Gründen zu bezweifeln.

  • Sarah

    Vielen Dank für diese schlüssige Zusammenfassung und Ihr Engagement bei dem Thema.

  • Urs Huttel

    Vielen Dank für den schönen Artikel!
    Beim interpretieren der Datenlage drängt sich bei mir immer noch die Frage auf, ob die Tests bei Kindern den überhaupt so aussagekräftig sind. Selbst bei Erwachsenen geht man ja von ca. 25%! falsch negativen aus… bei Kindern mit geringerer Viruslast und zusätzlichen Problemen ordnungsgemäß (durch die Eltern?) einen tiefen Rachenabstrich zu gewinnen (kann ich als nicht-pädiater nur bedingt einschätzen), vermute ich hier eine weit höhere Dunkelziffer.

    • Herbert Renz-Polster

      Ja, das ist eie riesen Problem, in der Tat. Ich würde vermuten, dass die Abstriche von geschultem Fachpersonal vorgenommen werden, sie müssen auch bei Kindern “richtig hinten im Hals” abgestrichen werden, das würde man in Studien eher nicht die Eltern machen lassen 😉
      Danke!

  • Welli

    Das sind prima Aussichten!

    Corona als Chance.

  • Brigitta

    Dankeschön! Das ist wieder ein sehr gelungener, fachlich aus unterschiedlichen Positionen beleuchteter Artikel und super wertvoll für mich.

    Mir kommen in den letzten Wochen tatsächlich viele, viele Gedanken, wie „Kindergarten“ und Bildungsarbeit auch in einem anderen „Rahmen“ statt finden könnte.
    Jede Familie, jedes Kind benötigt sehr individuelle Lösungen, weil nichts in irgendeiner Weise vergleichbar ist.
    Die Bedürfnisse hören sich vielleicht gleich an, dahinter steckt so unterschiedliches…

    Ich würde sehr gerne zielorientiert und mit neuen, innovativen Lösungen arbeiten…

  • Vera

    Vielen Dank für diesen wirklich ausgewogenen und fundierten Artikel.

    Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Mutter zweier Kinder, habe ich am 15.4. gespannt auf die aktuellen Entscheidungen gewartet und war erschrocken, dass auf die Situation der Kinder nicht eingegangen wurde. Unter Berücksichtigung der Hinweise, dass Kinder möglicherweise wenig infektiös sind, erscheinen die Maßnahmen umso weniger verhältnismäßig. Für ein paar Wochen ist soziale Isolation sicherlich für viele Kinder in stabilen Familienverhältnissen auszuhalten. Doch inzwischen zieht sich die Zeit und die Familien, die wir behandeln, sprechen von blank liegenden Nerven. Mein eigenes großes Kind geht in die Notbetreuung, vermisst aber schmerzlich den besten Freund.

    Wir hatten bereits per E-Mail Kontakt, deshalb veröffentliche ich mit freundlicher Genehmigung den Link zu unserer Petition, in der wir die Beachtung des Kindeswohls bei politischen Entscheidungen fordern. Konkret wünschen wir eine vernünftige Öffnung der Kitas und Schulen. Der aktuelle 4 Stufen Plan, der vorgestellt wurde, ist dabei nicht zufrieden stellend!

    Link: https://kinderbrauchenkinder-petition.de

    • Herbert Renz-Polster

      Danke, aber das entnehme ich dem refernezierten Text so nicht, der von eine “hohen Stellenwert von asymptomatischen bzw. präsymptomatischen Übertragungen” spricht und darauf hinweist, dass “sich die Viruslast bei asymptomatischen und symptomatischen SARS-COV-2-Infizierten nicht unterscheidet”. Helfen Sie mir noch mal? Danke!
      HRP

      • Olga

        Mir fiel diese Stelle auf:
        „In einer Studie wurde – basierend auf 40 Infizierenden/Infizierten-Paaren und unter der Annahme von einem R0 = 2 mathematisch modelliert, dass sich dieses R0 aufteilt auf folgende Beiträge verschiedener Infektionswege: (1) asymptomatische Übertragung: R0 = 0,1 + (2) Übertragung über die Umwelt (z. B. Viren-kontaminierte Oberflächen): R0 = 0,2 + (3) symptomatische Übertragungen: R0 = 0,8 + (4) präsymptomatische Übertragungen: R0 = 0,9.“
        Als Laie würde ich es so verstehen: ein infizierter ohne Symptome kann asymptomatisch bleiben, dann hätte er R0=0,1 oder er wird noch Symptome entwickeln dann R0=0,9? Zusammen genommen „stellen“ diese infizierten eine 1. und somit die Hälfte von 2 (=hoher Stellenwert)
        Wenn man bedenkt, dass Kinder selten Symptome entwickeln und anteilig selten infiziert sind, wären Kinder dann unter R0=0,1 zu verorten?
        Wobei es natürlich auch nur eine Annahme in der Studie ist

  • Aurora

    Halli Herr Renz-Polster, ich frage mich schon eine ganze Weile welche Rolle die Hintergrundimmunität bei Kindern, ErzieherInnen und auch Eltern spielt. Könnte das nicht auch ein Grund sein warum Kinder seltener bzw. weniger schlimm erkranken? Ich kenne das von meiner Familie am Beispiel von Noro oder Rotaviren. Die ersten Erkrankungensind schlimm und danach wird es immer weniger schlimm bis symptomfrei.
    ErzieherInnen sind ja auch ständig den ganden Kinderbazillen ausgesetzt und werden im Lauf der Zeit immer weniger krank.
    LG und Danke für die spitzen Artikel!

  • Andy

    Wie bewerten Sie die Ergebnisse der aktuellen Drosten Studie über Kinder, die nicht gerade Entwarnung geben?
    Fakt ist, dass in einer Kita keinerlei Schutzmaßnahmen konsequent umgesetzt werden können und ein Mindestabstandsgebot völlig irreal ist.
    Eine Freundin und ein Freund arbeiten in der Kita…Beide jung und mit Vorerkrankungen. Die Sorge ist immer dabei… Schutz ist nicht möglich. WENN sich Kinder infizieren und danach Eltern und Großeltern besuchen, die zur Risikogruppe gehören, sehe ich durchaus Risiken.

  • Karina

    Lieber Herr Renz- Polster,

    Danke für diesen (und andere) toll strukturierten und hilfreichen Artikel!

    Mich treibt diese Frage tatsächlich seit Beginn der Einschränkungen im öffentlichen Leben um und akut habe ich große Angst vor einer Schulöffnung.
    Mein Sohn geht in die erste Klasse einer Schule, die es mit der Hygiene vor Corona nicht gut hinbekommen hat (Seife auf den Toiletten, kein Händewaschen vor dem Essen,.).
    Und ich gehöre zur Risikogruppe, da ich eine Herzerkrankung habe.
    Und dazu gibt es trotz mehrfacher Nachfragen und Kontakt zu verschiedensten politischen Ebenen keine Regelung, die mich vor einer Ansteckung und damit meinen Sohn vor einer möglichen traumatischen Erfahrung schützt.

    Ich hätte den Vorschlag, in Schulen zunächst den Ganztag freiwillig in kleinen Gruppen draußen zu öffnen.

    Dann können Kinder, für die es nötig ist und die, deren Eltern das wollen und brauchen mal wieder etwas Freiheit schnuppern, statt in einer angespannten Situation im Klassenraum Arbeitsblätter zu bearbeiten (soziale Lernformen fallen ja weg wegen der Abstandsregelungen).

    Und alle Anderen haben keinen Druck, ihre Kinder wieder schicken zu müssen.
    Zumal der Umfang des Unterrichts von 3-6 Stunden pro Woche für einige Familien wohl eher zusätzlichen Stress, als Entlastung bedeutet.

    Und dann wird die Frage, welche Rolle Kinder im Virusgeschehen spielen auf eine Art beantwortbar, die nicht doch in eine Katastrophe führt.
    Denn das sollte ja immer noch klar sein: Wir müssen dafür sorgen, dass die Einschränkungen nicht für die Katz waren, wenn wir jetzt ein zu hohes Risiko eingehen.

    Ich hoffe sehr, dass die Politik behutsame Entscheidungen trifft und jetzt nicht plötzlich die Wirtschaft das Steuer wieder übernimmt.

  • Susanne

    Lieber Herr Renz-Polster, eine Frage kam mir beim nochmaligen Lesen heute: Wenn Impfungen wie die Masernimpfung das Immunsystem auch unspezifisch aktivieren, könnte es dann nicht vielleicht helfen, Menschen aus der Risikogruppe nochmals gegen Masern zu impfen, sozusagen als “bisschen-Corona-Schutz”?

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