Kommentar7. August 2024

Auge um Auge, Zahn um Zahn – wie cool wäre das denn!

„Auge um Auge, Zahn um Zahn“, dieses Bild für Vergeltung kennt wahrscheinlich jede(r). Derzeit taucht der Satz wieder häufig in Kommentaren zum „Nahost-Konflikt“ auf (ich will es bei diesem vagen Begriff des „Konflikts“ belassen, man verbrennt sich da ja schon an Wörtern die Finger). Im folgenden Text will ich versuchen, den Hintergrund dieses Vergeltungsprinzips auszuleuchten. Während dort die Eskalation immer weiter getrieben wird, betreiben wir sozusagen gemeinsam ein bisschen Kulturanthropologie. Finde ich wichtig. Und ist spannend, versprochen.

Ich durfte mich zuletzt in meinem Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ mit diesem alten Leitsatz beschäftigen. Er war ursprünglich etwas länger und konkreter formuliert, als Handreichung für die Praxis sozusagen:

„[…] so sollst du geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.“

So steht es etwa in der Tora. In der Bibel (Abteilung Altes Testament) hat es ein begabter Texter dann auf die uns allen bekannte Kurzformel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ gebracht und sie gleich Gott in den Mund gelegt (2. Mose 21,24).

Das Prinzip der gleichwertigen Vergeltung (auch Talionsformel genannt) wurde in Wirklichkeit aber schon viel früher formuliert. Im Codex Hammurapi des babylonischen Königs Hammurapi (1792–1750 v. Chr.) ist das Prinzip so beschrieben:

„Gesetzt, ein Mann hat das Auge eines Freigeborenen zerstört, so wird man sein Auge zerstören … Gesetzt, ein Mann hat einem anderen ihm gleichgestellenten Manne einen Zahn ausgeschlagen, so wird man ihm einen Zahn ausschlagen … Gesetzt, er hat ein Auge eines Hörigen zerstört oder den Knochen eines Hörigen gebrochen, so zahlt er eine Mine Silber.“

Auge und Auge, das gilt also nur für die sozial Höherstehenden, bei den Sklaven durfte man auch Geld rüberschieben.

Ein echter Fortschritt

Obwohl es paradox klingt: Dieses etwa zwei Jahrtausend vor Christi Geburt formulierte Prinzip der gleichen Vergeltung war in Wirklichkeit ein riesengroßer moralischer Fortschritt! Und er stellte die Menschen vor entsprechend riesengroße Herausforderungen.

Viele Gesellschaften sahen die gleichwertige Vergeltung nämlich als eine Art Gutmenschentum an. Dem anderen nur die Zähne ausschlagen? – Das galt vielen als zu soft, ja, als gefährlich. Als Aufforderung, dass der andere einem gleich wieder an die Zähne geht (wenn welche übrig waren). Kein Wunder ließ sich die neue Praxis nicht so einfach durchsetzen. Da mussten schwere Strafen für die Zuwiderhandlung angedroht und in Gesetztafeln eingemeißelt werden. In manchen Teilen der Erde hat sich das neue Gutmenschenprinzip bis heute nicht durchsetzen können, es gilt dort sozusagen als woke.

(Dem moralisch noch höherwertigen Folgemodell – statt auf die Zähne zu zielen lieber die andere Backe hinzuhalten – erging es noch schlimmer. Dieses von einem gewissen J. Christus wenige Jahrzehnte nach seiner Geburt entwickelte Modell wird bis heute kaum jemals in der freien Wildbahn praktiziert).

Was du mir antust – kriegst du hundertfach zurück!

Warum konnte sich die Auge-um-Auge-Formel so schlecht durchsetzen? Der Grund ist ein praktischer: Die Vorgängerversion von Bestrafung passte so viel besser zu den damaligen sozialen Gegebenheiten.

Ich rede vom eskalierenden Vergeltungsprinzip: Was du mir antust, bekommst du vielfach zurück! Und nicht nur du: auch deine Kinder. Und deine Kindeskinder. Und: wenn du mir … – dann hast du es gleich mit ALLEN von uns zu tun, mit meinen Brüdern, meinen Onkels, ja, meinem ganzen Clan. Also: Blutrache, Sippenhaftung, das ganze Programm.

Ein grausames Prinzip, bei dem wir zurecht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen! Nur: auch dieses Vergeltungsprinzip hat aus kulturanthropologischer Sicht natürlich etwas für sich.

Um das zu verstehen, will ich mit euch kurz in mein Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ hineinblättern, in dem ich mich mit genau dieser Frage auseinandersetze: Woher kommt diese grausame „Bestrafungsmoral“? Wie konnte sie sich so lange halten? Und wo wird sie praktiziert, und warum ausgerechnet dort? Ich stelle diese Frage in dem Buch natürlich vor allem mit Blick auf die Sozialisation der Kinder, die in diesen Kulturräumen aufwachsen. Die Frage ist aber auch generell top aktuell.

Die soziale Logik des eskalierenden Vergeltungsprinzips

Und die Antwort geht so, sie steht in dem nicht ohne Grund so genannten Abschnitt „Nahost und Afrika: der siebte Kreis der Hölle“:

„Ein kultureller Einfluss auf die [dortigen, d. A. ] Kindheitsmuster sollte hier nicht unerwähnt bleiben, weil er bis heute in vielen, auch modernen Gesellschaften nachwirkt – schließlich stammen nicht wenige der Einwanderer in den USA oder auch den westeuropäischen Ländern aus dem zu besprechenden kulturellen Kontext. Sie kommen aus Kulturen, deren ökonomische Basis über Generationen die Herdenhaltung war. Also eine Subsistenzform, die sich aus naheliegenden Gründen insbesondere in den für eine beständige agrarische Bewirtschaftung ungeeigneten Karst-, Gebirgs- und Halbwüstenlandschaften etabliert hat – etwa auf der arabischen Halbinsel, Nordafrika oder den asiatischen Steppenländern. Die damit einhergehende kulturelle Prägung wird von Kulturanthropologen mit dem Begriff »pastoralistisch« belegt (Pastoralismus = Naturweidewirtschaft), ihr Hauptkennzeichen sind patriarchale Clanstrukturen – die auch heute noch das Leben insbesondere im traditionellen Teil dieser Gesellschaften bestimmen.

Schier unlösbares Sicherheitsdilemma

Um pastoralistische Gesellschaften zu verstehen, muss man sich die nomadische oder halbnomadische Vergangenheit anschauen, die diese Kulturen geprägt hat. Anders als die Wildbeuterkulturen (Jäger- und Sammlerkulturen) und anders als die ackerbauenden Gemeinschaften stehen die nomadisch lebenden Herdenhalter nämlich vor einem schier unlösbaren Sicherheitsdilemma. »Diebe können weder die Erntepflanzen der Bauern einfach so entwenden noch die vielen Hunderte essbarer Pflanzen der Jäger und Sammler – wohl aber die Viehherden.« Kurz: Herdenhalter blicken beständig in den existenziellen Abgrund. Sie können von jetzt auf nachher ALLES verlieren.

Als kulturelle Antwort darauf hat sich in diesen – von der Abwesenheit jeglicher staatlicher Schutzfunktionen geprägten – Gesellschaften das familienbasierte, maximale, eskalierende Abschreckungsprinzip etabliert: Wir sind hier „all in“! Was du mir antust, bekommst du vielfach zurück! Also von wegen »Auge um Auge, Zahn um Zahn« (dieses im Alten Testament propagierte Prinzip erscheint im Vergleich als ein regelrechtes Gutmenschenprogramm – es konnte sich nicht ohne Grund in einer geschichtlichen Epoche durchsetzen, in der die dort beschriebenen Stämme geeint waren und ihr Sicherheitsproblem damit nicht mehr ganz so groß war).

Wo ALLES auf dem Spiel steht, hilft nur die maximale Drohung

Bei den nomadischen Pastoralisten mussten auch nicht nur jene büßen, die ein Vergehen begangen haben, sondern auch deren Kinder und Kindeskinder (und sonstigen Blutsverwandten gleich mit). Man lebte das Prinzip der Bluts- und Generationsrache. Wo im wahrsten Sinn des Wortes ALLES auf dem Spiel stand, mussten die angedrohten Kosten für einen Angriff praktisch ins Unendliche gehen. Hatte man ein Problem mit einem Clanmitglied, hatte man sofort den ganzen Clan gegen sich. Eine Aggressionsschwelle darf es es bei einer solchen Strategie ebenfalls nicht geben. Schon bloße Beleidigungen müssen deshalb vergolten werden. Nicht ohne Grund steht die Ehre in diesen Kulturen so zentral – sie ist das entscheidende, verbindende Glied zwischen Familiensolidarität und der Botschaft: »ich bin allzeit zu allem bereit«, und: »nichts ist mir wertvoller als meine Familie«.

Und was in einem solchen kulturellen Kontext sonst noch zentral steht: die Geringschätzung der Frauen (wer schützt die Herden? Genau – die Männer), ökonomische Polygamie (die Herdenbesitzer haben die Macht – auch die Macht, sich mit mehreren Frauen zu versorgen – und einen guten Teil der untergeordneten Männer damit leer ausgehen zu lassen), und auch der Militarismus (man ist bewaffnet und kampfbereit). Zum Herdenhalterpaket gehört aber auch das „Versorgungsdilemma“: Weil in diesen Gesellschaften die Versorgung der Alten ausschließlich über die eigenen Kinder läuft, stellen unverheiratete Frauen ein echtes Problem dar – was sich an der Höhe der zu erbringenden Anreizzahlungen (Mitgift) für Töchter ablesen lässt. Entsprechend zentral steht in diesen Kulturen folgerichtig auch die Jungfräulichkeit – eine verlorene »Unschuld« eines Mädchens bedeutete ja nicht nur, dass die Familie nun ihre »Versorgungslast« nicht los wurde, sondern auch, dass die Frau selbst mangels Ehemann keine Absicherung für die Zukunft hatte. Entsprechend heftig wurde jeder Beziehungsaufbau eines allmählich geschlechtsreifen Mädchens außerhalb der vorgesehenen sozialen Bahnen mit einem kulturell-religiösen Tabu bewehrt (oder gleich schon die Kinder als junge Mädchen verheiratet, sicher ist sicher und versorgt ist versorgt) und oft auch in der Kleiderordnung verankert (man denke an die vielfältigen Verschleierungverordnungen in den entsprechenden Gesellschaften).

Ganz in der Mitte beziehungsweise am Wurzelgrund des Systems aber steht ein autoritärer Erziehungsstil, durch den die Mädchen auf untergeordnete Hörigkeit, die Jungen auf Aggressionsbereitschaft, fraglose Clan-Solidarität und Normenkontrolle vorbereitet werden. Die Kinder nomadisch geprägter Kulturen müssen also eine extreme Form der autoritären Erziehung über sich ergehen lassen.

Ein Codex Hammurapi für den Nahostkonflikt?

So viel zu zu dem Hintergrund einer simplen Formel: Auge für Auge, Zahn um Zahn…

Und damit ein letzter Gedanke, er führt mich wieder in den heutigen Nahost-Konflikt, dieses immer weiter eskalierende, bodenlose, endlose Chaos.

Ich weiß, dass es dort keine „Lösung“ gibt. Aber vielleicht wäre das ein erster Schritt zu ein bisschen mehr Menschlichkeit:

Dass dort wenigstens das Prinzip der gleichwertigen Vergeltung eingehalten würde.

Wenigstens das.

Dieser Beitrag beruht auf dem Buch „Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können" des Kinderarztes und Wissenschaftlers Dr. Herbert Renz-Polster.
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3 Kommentare

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  • Joseph Kuhn

    Danke, nachdenkenswert! Die Frage ist, was solche historischen Prägungen aufrechterhält bzw. auch heute funktional macht.

  • Birgit Wendling

    Aus beruflichen Erfahrungen in Somalia in den neunziger Jahren nach Zusammenbruch der staatlichen Ordnung weiß ich, dass dort eine Ausgleichszahlung in Form von Kamelen für einen getöteten Gegner üblich war. Für einen getöteten Mann gab es doppelt so viele Kamele wie für eine getötete Frau. Hatte man keine Kamele, konnte man auch den Gegenwert in US-Dollar bezahlen.

    Somalische Kinder lernten, um sich als Mitglied eines bestimmten Clans identifizieren zu können, was lebenswichtig war, die Namen der männlichen Ahnen der letzten 200 Jahre auswendig und mussten sie quasi als “Ausweis” hersagen können.

    Politisch galt in den Clans traditionell eine Art radikaler Basisdemokratie, aber nur für Männer. In großen wochenlangen Ratsversammlungen durfte jeder sprechen, egal ob reicher Kaufmann oder armer Hirte. Erst wenn der letzte die Gelegenheit hatte zu sprechen, kam die Versammlung zu einem einstimmigen Ergebnis. Alle mussten überzeugt werden. Gab es ausnahmsweise keine Einigkeit, war das schlimm, denn dann ging man unverrichteter Dinge auseinander.

    Um so eine Ratsversammlung abzuhalten, brauchte man allerdings einen wohlhabenden Sponsor, der es als ehrenvolle Aufgabe verstand, die Versammelten wochenlang zu verpflegen. Da ganze Landstriche durch Dürre und Konflikte zwischen den Clans, die vorher miteinander Handel trieben, verarmt waren, funktionierte dieses System nicht mehr.

  • Werner Hajek

    Lieber Herr Renz-Polster,
    ich stimme Ihnen zu, dass die Losung “Aug um Auge” unter entsprechenden Umständen ein wertvoller zivilisatorischer Fortschritt ist. Ihre Gedanken zum Pastoralismus als hintergründig wirkende Grundlage von Gewaltexzessen in Nahost möchte ich aber hinterfragen. Zumindest die Israelis stammten überwiegend nicht aus Weidekulturen. Gewaltexzesse lassen sich da besser aus dem Ansatz der “Soldatenmatrix” erklären, den der Gruppen-Psychoanalytiker Robi Friedman entwickelt hat. Ich möchte dazu ergänzen, dass Ihr Ansatz über den Zusammenhang zwischen Autoritarismus und Erziehung gut zusammenpassen würde zu einem tief verwurzelnen Hordendenken. Denn wie die Eltern leistet auch die Horde die Grundbedürfnisse nach Sicherheit, Anerkennung und Zugehörigkeit.