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Beratungsfrage

Zwillinge trennen oder nicht?

Wir sind hin und her gerissen, ob wir unsere Jungs mit Beginn der Grundschule in verschiedene Klassen geben sollen. Ihrer Individualität wäre es vielleicht förderlich, da sie sehr unterschiedlich sind. Aber wir ziehen im Sommer vor Schulbeginn um und sie werden im neuen Ort und der neuen Schule niemanden aus ihrer Kita haben. Die beiden geben sich gegenseitig große Sicherheit, besonders einer ist ohne seinen Bruder schnell ängstlich. Ich habe den Eindruck, egal wie wir uns entscheiden, es wird falsch sein.

Das glaube ich nicht. Aber dieser Eindruck kann durchaus entstehen, wenn man die vielen Ansagen rund um Zwillinge betrachtet:

  • … sie würden ihre Individualität nur ausbilden, wenn sie getrennt würden…
  • … das weniger dominante Kind in dem Zwillings-Paar würde sich immer auf den Stärkeren verlassen – wie soll es dann selbstständig werden ? …
  • … und dann diese Rolle auch in der Gruppe weiter einnehmen, wenn sein Bruder mit dabei ist…wie soll es lernen sich auch mal durchzusetzen ? …

Gut, da einmal einen Blick auf die Sozialentwicklung von Zwillingen, ja von Geschwistern generell, zu werfen (die will man ja auch manchmal trennen um sie vorwärts zu bringen)!

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Zwei-eiige Zwillinge sind genauso unterschiedlich wie Geschwister (können von ihrer Art her also auf komplett unterschiedlichen Sternen leben). Ein-eiige Zwillinge sind in vielen Merkmalen sehr ähnlich – aber sie sind nicht gleich. Ganz grob kann man sagen: das Äußere deckt sich ziemlich (Aussehen, oft auch z.B. IQ), je weiter man aber auf die „innere Auskleidung“ blickt, desto mehr Unterschiede fallen auch bei ein-eiigen Zwillingen auf. Bei aller Ähnlichkeit hast du also zwei unterschiedliche Menschen vor Dir (weißt Du ja).

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Der Forschungsstand zur Entwicklung von Individualität unter Zwillingen und generell Geschwistern ist gut ausgeleuchtet (das verdanken wir etwa Judith Harris, die die Studien dazu in ihrem Buch „“ zusammenfasst). Jedes Kind sucht sich vom ersten Tag an „seine Nische“, ob in der Familie oder in der Welt dort draußen. Es tanzt den Tanz von Abgrenzung und Vereinigung, von Streit und Spiel, von Kooperation und Konkurrenz. Und wird so zu sich selber. Das ist bei allen Kindern so, ob Zwillinge, „normale“ Geschwister oder sogar Einzelkinder. Alle Kinder sind Nischensucher.

Und bei Zwillingen läuft das dann in einer Art Dampfdrucktopf ab.

Deshalb schreibst Du ja: dass Deine Zwillinge sehr unterschiedlich seien – obwohl sie bisher zusammen aufgewachsen sind, auch in der Kita.

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Und Du schreibst auch das: „Die beiden geben sich gegenseitig große Sicherheit, besonders einer ist ohne seinen Bruder schnell ängstlich.“ Also: das eine Kind ist mutiger, das andere zarter… Sagte ich doch: auch Zwillinge sind unterschiedlich (das gilt sogar für die wenigen von der Forschung beschriebenen siamesischen Zwillinge).

Ist dieser Unterschied nun Hemmnis oder eine Ressource? Da sind wir bei der Bindungstheorie. Ein Kind kann sich Neuem öffnen und dabei stärker werden, wenn die Basis stimmt – wenn es sich sicher fühlen kann und nicht im Stress versinkt. Ein Plus also für den einen Deiner Zwillinge (und das gerade auch nach einem Umzug und in einer neuen, ihm fremden Umgebung!).

Dass einem Kind die Sicherheit seines Geschwisters weggenommen werden muss, um es sozusagen in die Welt hinaus zu zwingen, ist wirklich altes Denken, wird aber leider an manchen Kitas noch gerne warmgehalten.

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Und der andere? Wird er deshalb zum ständigen Beschützer seines Bruders? Nie und nimmer – dafür lebt jedes Kind viel zu sehr „für sich selbst“. Ja, Dein „mutigeres“ Kind wird seinen Bruder unterstützen.

Und hier will ich ganz klar sein: das ist etwas WUNDERBARES. So wie es in meinen Augen WUNDERBAR ist, wenn ein älteres Geschwisterkind sein neu in die Kita kommendes jüngeres Geschwisterkind unterstützt! Auch das ist ein Entwicklungsanreiz, ein pro-soziales Lernen, vor allem für das ältere Kind. Wir sollten das feiern.

Dass manche Kitas damit Probleme haben, wenn ältere Geschwister für ihre jüngeren Geschwister Verantwortung übernehmen, macht mich deshalb stutzig: Was ist nochmal daran falsch? Soll Sicherheit-Geben das Monopol der ErzieherInnen sein? Oder sollen Kinder rasch lernen, dass jede(r) für sich selbe(r) zu sorgen hat? Vor allem aber: Bräuchten wir nicht mehr von diesem fürsorglichen Verhalten unter Kindern?

Denn wirklich, die Angst vor Verwöhnung ist auch hier unbegründet – auch die „fürsorglichen“ Kinder werden sich rasch genug wieder miteinander streiten. So wie Geschwister generell die größten gegenseitigen Kritiker sind (und Zwillinge sind Kritiker auf Anabolika).

Kein Geschwister wird für den anderen zu „Papa“ oder „Mama“, was für ein Unfug.

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Und was ist mit der Sorge um das Verhalten in der Gruppe? Früher dachte man ja: da kommt ein jüngeres Kind mit seinem älteren Bruder in die Kita – und dann geht das gleiche Spiel weiter wie zuhause: der Ältere ist eher der Dominierer, der Jüngere ordnet sich ein. Forschende beobachteten also Geschwisterpaare zuhause – und in der Kita-Gruppe. Und sieheda: das Verhalten zuhause zeigte mit dem Verhalten in der Gruppe keinerlei Zusammenhang – ob ein Kind zuhause „oben“ oder „unten“ war, hatte keinen Einfluss darauf, wie sie den anderen Kindern gegenüber traten.

Und warum auch? Kinder suchen nach Nischen, nach *ihren* Nischen. Und die ist in jedem sozialen Kontext woanders. Kinder sprechen nicht überall die gleiche soziale Sprache, sie sind sozial mehrsprachig.

Ich hoffe wir lassen sie es sein und haben weniger Angst, dass wir das alles für sie regeln müssen.

 

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11 Kommentare

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  • Kristina Enghusen

    Lieber Herr Renz-Polster,

    was für ein unglaublich schönes und fundiertes Statement. Ich empfinde es als sehr sehr wertvoll!

    Danke für Ihre wundervollen Impulse,

    herzliche Grüße

    Kristina Enghusen

  • Ingrid Löbner

    Lieber Herbert,
    wunderbar! Vielen Dank – ich kann allem nur von Herzen zustimmen. Auch mir fällt das auf und ich fragte mich schon häufig (bei allen möglichen Fachberatungen vor Ort, in KiTas), warum doch viele Pädagogen oder Psycho-Berater/innen in ziemlich vielen Einrichtungen leider so oft die Verbundenheit von Geschwistern angreifen, zu Trennungen raten? Besonders ausgeprägt noch dazu bei Zwillingen? Warum gönnt man Kindern diese wohltuende, Sicherheit-gebende Ressource nicht?
    Noch eine kleine Episode, nur zur Freude, von (eineiigen) Zwillingen aus meinem Freundeskreis, längst erwachsene Männer. Sie erzählten mir, die schlimmste Zeit ihres Lebens sei gewesen, als sie längere Zeit (als Erwachsene! nicht als Kinder…) auf verschiedenen Kontinenten lebten. Ihre Sehnsucht sei so enorm groß und unerträglich geworden, dass sie bald entschieden, beide wieder im selben Land zu leben; zwar mit paar 100 km Distanz, aber doch so, dass sie sich jederzeit besuchen können. Jetzt sei alles wieder gut und im Lot! Beide sind gestandene Männer mit handfesten Berufen, über 70 Jahre und seit etwa 40 Jahren wieder im selben Land .. bis heute zu ihrem größten Glück (obwohl sie auch jeweils und sehr gerne eine eigene Familie haben. Ihre starke Verbundenheit verlor nie ihre Bedeutung und schränkt bis heute niemanden ein.)
    Vielen herzlichen Dank für Deine wieder so klaren Aussagen zum Thema,
    und herzlicher Gruß
    Ingrid Löbner, Eltern-Beraterin, bei Tübingen

  • Welli

    Dankeschön!

    Treffsicher und tief – man spürt die Gewissheit – aus eigenem Erleben….

    Herzlich.

  • Almut Rosebrock

    Unsere Kinder, 2 Jahre Altersunterschied, waren in derselben Gruppe. Ich fand das wunderbar. Es sind Junge und Mädchen. Jeder fand seine Freunde, aber es ging auch zusammen immer wieder gut.
    Ich plädiere gegen die Trennung.

  • Juliette

    Lieber Herr Renz-Polster, ich habe in meiner Stammgruppe ein Zwillingspärchen, die aktive ihre Nischen suchen. Ihre Darlegung hat mir geholfen, mehr zu verstehen. Danke!
    Herzliche Grüße Juliette

  • E.

    Kann nur aus eigener Erfahrung sprechen. Habe zweieiige Zwillingsjungs und beide in einer Klasse in der Grundschule (3.). Es klappt sehr gut. Die Jungs möchten jetzt sogar unbedingt im Gymnasium auch wieder in die gleiche Klasse gehen und suchen sich jetzt sogar das Gymnasium danach aus, ob das erlaubt ist.

    Ja, natürlich haben beide ungefähr den gleichen Freundeskreis, da es halt in einer Klasse nur 10-13 Jungs gibt, jedoch ist jeweils der beste Freund ein anderer und auch sonst werden innerhalb des Freundeskreises unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Auf Geburtstagsfeiern werden sie zu 99% beide eingeladen

    Auch für die schulischen Aspekte ist eine Klasse besser, da sonst eventuell einer die nette Lehrerin bekommt und einer die fiese. Einer hat viele Hausaufgaben, der andere wenig. Einer muss dieses so lernen, der andere hat andere Hefteinträge. Das führt zu immenser Mehrarbeit für die Eltern. Zudem können sie sich bei Krankheit immer gleich gegenseitig die Hausaufgaben mit nach Hause bringen.

    Unsere Jungs sind total glücklich in der Schule, sind eine „Marke“, der eine ist sogar Klassensprecher. Wir würden uns immer wieder so entscheiden (auch wenn uns anfangs total abgeraten wurde).

  • Sandy

    Sehr schön geschrieben, danke :). Meine Zwillinge wechseln auch bald in den Kindergarten. Bei den Pädagogen, die Zwillinge trennen wollen, denke ich mir immer: wie es ist, Zwillinge zu sein, weiß man nur als Zwilling. Sie wissen demnach viel besser, was für gut ist als jede Studie.

  • Uli

    Hallo zusammen,

    dann bin ich wohl der Einzige mit einer anderen Erfahrung… Ich bin eineiiger Zwilling – mein Bruder und ich sind 42 – ich habe eineiige Zwillingsmädels, die in diesem Jahr eingeschult werden.

    Ich werde sie aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen trennen…

    Mein Bruder und ich waren sehr lange Zeit für uns selbst nur immer WIR. Hatte ich eine 2 – mein Bruder eine 5, war meine gute Note nichts mehr wert. Ich habe nicht meine Note für mich gesehen, sondern seine auch für mich: WIR hatten also eine 2 UND eine 5.

    Mein Bruder und ich waren und sind, wie von ihnen allen beschrieben – natürlich charakterlich verschieden und doch waren es DIE ZWILLINGE – auch wenn nur EINER von uns den Unsinn gemacht hat..

    Langer Rede – kurzer Sinn, erst im Erwachsenenalter, als unsere Berufswahl uns getrennt hat, konnten wir uns selbst ganz entwickeln – sehr viel später als es für uns gut gewesen wäre…

    • Fra

      Danke für deine Sicht. In meinem Empfinden ist es genau aus dem Grund auch für meine Zwillingsmädels besser sie in der Schule zu trennen, auch wenn es für mich als komplett Alleinerziehende verdammt hart wird, beide gut in ihrer Klassen zu begleiten. Ich hoffe ich werde es schaffen!

    • Hana Mond

      Meine Erfahrungen als eineiiger Zwilling sind ähnlich, und dennoch würde ich meine potentiellen Zwillingskinder nicht trennen, es sei denn, sie würden das wünschen.

      Für uns war es trotz der genannten Nachteile richtig, zusammen zu bleiben.

  • Hana Mond

    Ich bin selbst Zwilling und bin sehr dankbar, dass ich mit meiner Schwester zusammen bleiben durfte – wir hätten auf keinen Fall getrennt werden wollen und wenn Kinder in dieser Hinsicht selbst einen Wunsch haben – ob zusammen oder getrennt – sollte man als Eltern m.E. nicht dagegen entscheiden. Wir waren ängstliche Kinder und haben uns Sicherheit gegeben.

    Man muss sich dessen bewusst sein, dass Zwillinge in einer Klasse es schwerer haben, als eigenständige Person wahrgenommen zu werden und nicht als “die Zwillinge”-Konglomerat, und ich kann mir vorstellen, dass es bei unterschiedlichen schulischen Leistungen schwierig sein kann (meine Schwester und ich waren gleichauf und hatten das Problem nicht). Ob diese Aspekte für die eigenen Kinder ein Hindernis sein würden, muss man individuell einschätzen – aber wie gesagt: Zwillinge gegen deren Willen zu trennen halte ich in fast allen Fällen für falsch.

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