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Plötzlicher Kindstod – die Rolle der Schutzengel
Der Plötzliche Kindstod (SIDS) ist heute in den deutschsprachigen Ländern ein seltenes Ereignis. Etwa 5% der Todesfälle von Säuglingen gehen auf dieses Konto (und etwa 15 % der Todesfälle von Säuglingen nach der Neugeborenenzeit). Trotzdem bringt der Plötzliche Kindstod eine unglaubliche Angst in die jungen Familien, und das ist verständlich: Der unerwartete Tod eines gesunden Kindes gehört nun einmal zu den grausamsten Vorstellungen überhaupt. Umso wichtiger, die Ursachen von SIDS immer besser zu verstehen. In Kürze werden wir dazu eine grundlegende wissenschaftliche Arbeit vorlegen.
Das Dreifach-Risiko-Modell
Das bisheriger Erklärungsmodell für SIDS wird als „Triple Risk Model“ (Dreifach-Risikomodell) bezeichnet und geht so: Dieses schreckliche Ereignis kann passieren, wenn Risikofaktoren aus drei Quellen zusammenkommen:
- ungünstige äußere Einflüsse, also widrige Umwelteinflüsse, wie zum Beispiel Lagerung auf dem Bauch, Schlafen mit einem beeinträchtigten (z.B. alkoholisierten) Erwachsenen, zu schweres Bettzeug, Überhitzung, zu weiche Matratze, und so weiter.
- ungünstige innere Einflüsse, also biologische Auffälligkeiten beim Säugling selbst, die für sich allein nicht tödlich sind, aber die eine biologische Verletzlichkeit begründen können – wie etwa genetische Abweichungen oder Veränderungen des Gehirns, welche z.B. im Mutterleib entstehen könnten (beispielsweise durch Drogenkonsum oder Zigarettenrauchen in der Schwangerschaft).
- ungünstiger zeitlicher Einfluss. Dies leitet sich aus der Beobachtung ab, dass SIDS zwischen 2 und 4 Monaten einen deutlichen Häufigkeitsgipfel zeigt. Es wird deshalb angenommen, dass dieses Zeitfenster eine „kritische Entwicklungsperiode“ darstellt.
Dieses risikobasierte Modell ist die derzeit gängigste Erklärung für SIDS.
Die implizite Botschaft: Du musst immer und jederzeit mit SIDS rechnen!
Dieses Modell mit seinem Fokus auf vielfältige, letzten Endes nie ganz auszuschließende Risiken erklärt auch die heute dominierende Wahrnehmung von SIDS: SIDS, so die gängige Überzeugung, kann jeden Säugling treffen, jederzeit!
Wenn man an die lange Liste an Risiken denkt, die nach diesem Modell eine Rolle spielen können, verwundert diese Wahrnehmung tatsächlich nicht. Schließlich kann praktisch jedes Baby einmal in einem zu warmen Zimmer schlafen, falsch zugedeckt werden oder auch einmal in Bauchlage rutschen. Oder einem der anderen etwa 20 äußeren Risikofaktoren begegnen.
Und das lässt sich auch empirisch belegen: In einer vor kurzem veröffentlichen Analyse der auf Instagram geposteten Bilder von schlafenden Säuglingen etwa entsprachen nur 1,9% den Leitlinien für sicheren Babyschlaf. Fakt ist also: die allermeisten Babys sind tagtäglich einem oder mehreren der für SIDS beschriebenen Risikofaktoren ausgesetzt. Und jedes Baby kommt irgendwann in die offenbar „kritische“ Entwicklungsphase zwischen 2 und 4 Monaten. Und die inneren Risiken? Für die gibt es bis heute keinen Test, so dass sie nie ganz auszuschließen sind.
Mit diesem risikobasierten Verständnis von SIDS gibt es allerdings ein Problem: Die SIDS-Forschung kann klar belegen, dass das Bild von SIDS als einer über allen Säuglingsbetten gleichermaßen schwebenden Gefahr so nicht stimmt.
Das “missing link”
Betrachtet man nämlich die zu SIDS vorliegenden Daten, dann zeigt sich das: Die Risiken allein können den Plötzlichen Kindstod äußerst schlecht vorhersagen: Über 99 % der Säuglinge mit bestimmten Risiken stirbt eben NICHT an SIDS. Trotz überall und jederzeit anzutreffender Risiken sind beispielsweise in Deutschland 692910 der etwa 693000 im Jahr 2023 geborenen Säuglinge (also 99,98 %) offenbar ausreichend gegenüber SIDS geschützt.
Das heisst nicht, dass die Risiken nicht zählen würden, das wäre ein Missverständnis. SIDS-Fälle ohne mindestens einen der bekannten Risikofaktoren sind tatsächlich extrem selten, zumeist liegen bei diesen tragischen Ereignissen sogar gleich mehrere Risiken vor.
Eindeutig: die Risiken zählen!Nur: Zu den Risiken muss offenbar noch etwas Weiteres hinzukommen, um SIDS den Weg zu bereiten. Die spannendste Frage rund um SIDS ist also womöglich gar nicht die Risiko-Frage. Sondern die Frage nach der Resilienz. Was verleiht den Säuglingen Schutz? Und warum versagt er bei einigen wenigen von ihnen?
Ja, kann das Phänomen SIDS vielleicht gar nicht verstanden werden, wenn wir nur die Risiken betrachten?
Was macht Säuglinge widerstandsfähig gegenüber SIDS?
Wie spannend diese Frage ist, zeigen die bisher ungelösten Rätsel der SIDS-Forschung:
- Die ungeklärte Frage der „Schonfrist“: Betrachtet man die Todesursachen bei Säuglingen, so haben sie eines gemeinsam: Sie betreffen viel häufiger die jüngeren, unreiferen Säuglinge, d.h. die Neugeborenen. Beim Plötzlichen Kindstod aber ist das Muster anders: Hier sind die Säuglinge ausgerechnet im ersten Lebensmonat relativ selten betroffen. Nur: Warum sollte ein 3 Monate altes Baby anfälliger für die typischen SIDS-Risiken sein als ein 3 Wochen altes?
- Die ungeklärte Frage der Schutzwirkung des Stillens: Wir wissen heute eindeutig, dass Gestillt-Werden Säuglinge teilweise vor dem Plötzlichen Kindstod schützen kann. Nur: Worin besteht diese Schutzwirkung, wie entsteht sie? Diese Frage ist bis heute offen.
- Die ungeklärte Frage der evolutionären Begründung: Aus evolutionsbiologischer Sicht ist SIDS im Grunde ein Nonsense-Ereignis. Warum sollte ein gesunder Säugling nach einer extrem aufwändigen, neun Monate langen intrauterinen Entwicklung plötzlich versterben – ohne dass irgendjemand dafür einen Grund finden kann? Hat Mutter Natur wirklich ein Menschenbaby entwickelt, das sterben kann, nur weil seine Eltern vielleicht einmal vergessen, es in Rückenlage hinzulegen?
Dringend gesucht: ein neues Erklärungsmodell
Das heißt: Offenbar hat die SIDS-Landkarte noch einige weiße Flecken. Und sie betreffen tatsächlich die Frage nach den Schutzfaktoren. Entsteht die Verletzlichkeit gegenüber SIDS vielleicht gar nicht durch das Zusammenwirken von Risikofaktoren allein, wie es das Dreifach-Risikomodell suggeriert? Sondern auch dadurch, dass den Risikofaktoren keine ausreichenden Schutzfaktoren gegenüberstehen? Ist vielleicht auch SIDS letzten Endes eine Frage der Balance?
Und wenn ja, worin bestehen die Schutzfaktoren? Wie entwickeln sie sich?
Diese Frage nach den möglicherweise über den Säuglingsbetten schwebenden Schutzengeln wurde in der SIDS-Forschung immer wieder gestellt – teils schon vor über 50 Jahren. Viele der Befunde sind dann wieder in Vergessenheit geraten.
In den letzten Jahren habe ich mir mit einer interdisziplinären Arbeitsgruppe von Wissenschaftler*innen die Schutzfrage ganz neu und grundsätzlich vorgenommen – nämlich mit Prof. Peter Blair (SIDS-Forscher am Centre for Academic Child Health, Population Health Sciences, University of Bristol, UK), Prof. Helen Ball (Anthropologin und Schlafforscherin am Durham Infancy & Sleep Centre, Department of Anthropology, Durham University, UK), Prof. Oskar Jenni (Säuglings- und Schlafforscher am Kinderspital Zürich) sowie Prof. Freia De Bock (Präventions- und Versorgungsforschung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf).
Wir haben uns dazu die bisherigen Forschungsergebnisse zu SIDS und zur Entwicklung des Schutzverhaltens bei Säuglingen angeschaut, und daraus – insbesondere auch aus Vorarbeiten der experimentellen Säuglingsforschung – ein Erklärungsmodell für SIDS entwickelt, welches nicht nur die Risikofaktoren sondern auch mögliche Schutzfaktoren berücksichtigt. Weil sich unser Modell stark auf evolutionsbiologische und entwicklungsneurologische Erwägungen stützt, nennen wir unser neues Verständnismodell „evolutionär-entwicklungsbezogenes Modell von SIDS“.
Und ja, wir glauben in der Tat, dass es SIDS umfassender beschreibt als das bisher dominierende Risiko-Modell 😉.
More to come …
Unsere Arbeit (ein umfassendes Grundlagenwerk von über 40 Seiten) wird in Kürze in einer Fachzeitschrift erscheinen. Sie trägt den Titel: „Death from Failed Protection? An Evolutionary-Developmental Theory of Sudden Infant Death Syndrome“ – zu deutsch: „Tod durch fehlgeschlagenen Schutz? Eine evolutionär-entwicklungsbezogene Theorie des Plötzlichen Kindstods”.
Sie ist ab 29. Juli unter https://doi.org/10.1007/s12110-024-09474-6 einsehbar.
Ich werde dazu dann auf www.kinder-verstehen.de und auf Insta (@kinderverstehen.de) auch einige erklärende Beiträge veröffentlichen.
Lisa
Studien und wissenschaftliche Untersuchungen versus logischer Menschenverstand. In der Frühzeit der Menschheit wurden Kinder zum schlafen nicht weggelegt. Man sehe sich einfach Menschenaffen an und wie dort Säuglinge schlafen. Unsere Schlafzimmer (Wohnungen) sind zu warm und entsprechen nicht der Umgebungstemperatur für die wir gebracht sind. Ein Kind dass nachts gestillt wird, liegt meistens direkt bei der Mutter und nicht in einem separaten Zimmer. Mein Kind schlief als Säugling bei mir auf dem Bauch. Für mich als Seitenschläfer nicht einfach aber für das Kind das beste. Keine Erstickungsgefahr. Da ich mich nachts NIE unbewusst drehe, war das möglich. Und eigentlich ist es natürlich sich nachts nicht unkontrolliert zu bewegen (auch wenn das offenbar einige Menschen tun), weil unsere Vorfahren sonst beim schlafen von den Bäumen gefallen wären (gibt es mittlerweile genug Wissenschaftler die sich in der Schlafforschung damit beschäftigen)
Wie immer: lebe wie es natürlich ist und die moderne Probleme existieren nicht. Wie Sie richtig sagen: warum soll ein Kind plötzlich sterben wenn doch so viel Zeit und Energie in Schwangerschaft und Geburt investiert wurde.
Eine Kollegin, nicht pädiatrisch
Ganz herzlichen Glückwunsch zur “Geburt” dieser faszinierenden Arbeit und zur erfolgreichen internationalen Publikation, da weiß ich, was ich am 29.07. lese 😀
Prominente Mitstreiter allesamt in diesem sicherlich statistisch so heterogenen und bei den geringen Fallzahlen herausfordernden Forschungsfeld – diese ebenfalls vielbeschäftigten Forscher*innen muss man auch erstmal an Land ziehen können, aber für HRP kein Problem 😀
Mal wieder so ein Riecher für spannende Forschungsfragen! Chapeau!
Welli
…der Elefant im Raum:
Eine vorhergehende Impfung spielt sicher eine entscheidende Rolle, aber das wird nirgends offiziell thematisiert.
In den beiden Fällen, die mir bekannt sind, fand am Vortag bzw. zwei Tage vorher eine Impfung statt.
Dies erklärt auch, warum die ganz Kleinen außen vor bleiben: Sie sind noch ungeimpft.
Jale
Warum vermuten Sie, HRP würde uns etwas verheimlichen wollen? Welches Interesse hätte er daran? Glauben Sie wirklich, HRP würde von “Geld von der Pharmaindustrie leben, weil er für Impfungen wirbt”?? Warum lesen Sie dann seinen Blog?
Glauben Sie im Ernst, dass er, so wie er daherkommt, für so etwas seine Seele, seine Integrität verkaufen würde? Der Mann ist Idealist! Wie so viele Ärzt*innen übrigens auch…
Ich habe das Gefühl, dass Sie bezüglich der Gesundheit Ihrer Kinder in der Vergangenheit verunsichert waren? Vielleicht nicht alle Informationen bekommen haben, die Sie sich wünschten? Erklärungen gesucht haben? Das “Nicht-Impfen” als Lösung aller Probleme schien Ihnen bestimmt naheliegend und leider trollt sich da im Internet viel herum. So viele Impfgegner habe ich während Corona eben daran sterben sehen, bis auf dem Sterbebett behaupteten sie noch, das das nicht stimmen könne. Lieber sterben, als zugeben sich geirrt zu haben!
An unserer Waldorfschule ist ein Jugendlicher an Grippe gestorben, sowas muss einfach hier und heute nicht mehr sein!!! Wer das möchte bittesehr, ich nicht!
Der menschliche Geist sucht nun einmal Zusammenhänge, egal ob diese Sinn machen oder nicht (Störche, Frühling). Es ist eine ganze Wissenschaft für sich, diese Zusammenhänge zu überprüfen. So hat man ja auch bei dutzenden Millionen Impfungen die geringe (!!!) zusätzliche Häufigkeit für die Sinusvenenthrombosen gefunden bei Astrazeneca und diese Impfung dann eher nicht mehr gegeben.
So hart es auszuhalten ist: 2 Einzelfälle machen nunmal keine Statistik aus…
jeder fieberhafte Infekt kann die Wahrscheinlichkeit in diesem Zeitfenster erhöhen.
Ich weiß, ich kann Sie so nicht überzeugen, Welli.
Könnte Sie irgendjemand anderes überzeugen?
Wenn nein, dann akzeptieren Sie bitte, dass Sie einem GLAUBEN anhängen und nicht einem WISSEN.
Das dürfen Sie für sich selbst gerne so handhaben und diesen Glauben für sich selbst praktizieren. Aber HRP und die meisten andreren Ärzt*innen zu diskreditieren als bestechlich, und andere von Impfungen abhalten, das finde ich echt bedenklich.
Eine andere Leserin drückt es drastischer aus:
“Warum müssen die ImpfgegnerInnen/LobbyistInnen der Kindersargindustrie eigentlich ihre verdrehten Phantasiefakten ÜBERALL verbreiten?
(In Wahrheit hat sich in einigen Studien gezeigt, daß ungeimpfte Kinder eher häufiger am SIDS sterben als geimpfte, zB Walker et al., 1987, Hoffman et al. 1997.) “
Sina
Nicht impfen verhindert mögliche gesundheitliche Probleme halt auch nicht. 🤷♀️ aber das blendet man halt auch gerne aus..?
Eher ist es typisch für Wohlstandsgesellschaften, die Leiden und Sterben an Infektionserkrankungen eben nicht mehr aus eigenem Erleben kennen.
Sad but true, ein Heilpraktiker in der Nachbarstadt hatte es immer abgelehnt, Medikamente gegen seinen Blutdruck zu nehmen und Bestand darauf, sich homöopathisch zu behandeln. (Klar, Lebensstil, Sport, Salzverzicht etc hilft schon, aber ab gewissen Werten, gewisser Veranlagung, kann einfach Ende der Fahnenstange sein). Jedenfalls entgleiste sein Blutdruck immer wieder bis über 300mmHg (!!) und er rief dann nachts doch immer den Rettungsdienst, Krankenhaus.. Aber dann wieder Medikamente abgesetzt, alles von vorne, fast jede Woche… eine Entgleistung war dann die zuviel, unter dem krassen Druck platzte ein Gefäß, Hirnblutung, verstorben. Aber zumindest könnte er diese “giftigen Medikamente” meiden, mit denen er locker noch 20, 30 Jahre hätte leben können 🤷♀️
Kann man so machen, wenn man will, aber halt für sich selbst. Bei Kindern also Schutzbefohlenen hingegen??
Mama von Dreien
oh nein, schon wieder die Leier von der Pösen Impfung 🙄
als ob man das soo lange unter den Tisch kehren könnte, wenns wirklich so wäre! Dann wäre alles ja mega einfach und man könnte mit dieser Erkenntnis – falls sie denn wahr wäre – sofort Ruhm und Ehre ernten.
Aber so einfach ist es offenbar nicht?!
Dabei war der Gedanke so sexy: Die pöse Spritze die man dem armen 2-monatigen Würmchen pikst ist so unnatürlich und muss natürlich schuld sein an allem andren was danach kommt, egal wann wo und wie.
Aber die freundlichen Viren und Bakterien sind ja sooo natürlich und zwar alle! (Bzw.sind teils erst wenige Jahre alt und kommen zT direkt aus der Massentierhaltung.. 🙄)
Eben weil viele Viren und Bakterien sich erst mit uns Menschen entwickeln, haben die Urvölker diese Viren und Bakterien ja auch nicht und sterben im Zweifel reihenweise dran.
Wenn es tausendmal (!) eher passiert, dass man eine schwere Nebenwirkung der Erkrankung hat als von der Impfung, was tut also der vernünftige Geist?
Ja, genau, sich Chlorbleiche reinkippen oder was ähnlich zielführendes 🙄
Liebe Grüße von Non-stop-Tragemama, Langstillerin und Familienbettfan (bedürfnisorientiert heißt eben nicht, dass ich alles mit Kügelchen “heilen” muss und meinen Kindern sinnvolle Prävention vorenthalte!)
Raphaela
Ich freue mich auf den Artikel und hoffe es stößt ein Umdenken an. Bei meinem ersten Kind habe ich mich wahnsinnig verrückt gemacht, aus Angst vor dem plötzlichen Kindstod. Habe schon damals Beruhigung aus den Artikeln hier im Blog gezogen. Das wünsche ich noch viel mehr Eltern und hoffe, dass dieses unnötige Schreckgespenst überhaupt kleiner wird.