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Eigensinn – ein Entwicklungsrecht des Kindes

Wir reden viel von Bildung und wie wichtig sie für den Lebensweg des Kindes ist. Wir fordern dann ein möglichst gutes Bildungsangebot und hoffen, dass die Kinder das Angebot möglichst weitgehend annehmen und verinnerlichen. Hier will ich den Blick der evolutionären Verhaltensforschung einbringen, der gut belegen kann, dass Bildung breiter und tiefer gedacht werden muss und den Aspekt des menschlichen Bindungssystems mit in Rechnung stellen muss.

Homo sapiens hat im Laufe der Menschheitsgeschichte seine Lernfähigkeit immer weiter eskaliert und sich damit auf eine fast schon halsbrecherische evolutionäre Strategie eingelassen. Anders als die anderen Lebewesen passt er sich der Umwelt nicht nur dadurch an, dass er sich selbst und sein Verhalten verändert – nein, er passt sich dadurch an, dass er die Umwelt verändert. Er schafft dadurch eine komplexe Kultur – und landet damit in immer neuen, selbst geschaffenen Welten, auf die er sich immer wieder neu einstellen und in denen er sich immer wieder aufs Neue bewähren muss.

Das Unschärfeproblem der menschlichen Entwicklung

Das Menschenkind hat damit ein Unschärfeproblem: auf welche Welt soll es sich vorbereiten? Auf die Welt seiner Erzieherinnen oder Lehrer? Auf die seiner Eltern?

Letzteres wäre eine erfolgreiche Strategie für die anderen Tiere. Eine Katze tut tatsächlich gut daran, in ihrer Entwicklung alle Vorgaben zu erfüllen und das Buch vom Katzenleben genau zu kopieren, Buchstabe für Buchstabe. Schließlich wird das Kätzchen in seinem Leben dieselben Dinge tun wie seine Eltern – noch in 500 Jahren wird die Katze vor dem Mauseloch sitzen, garantiert, ohne jeden Zweifel.

Das Menschenkind? Kennen wir seine Zukunft? Wissen wir, wie Menschen in 500 Jahren leben werden? Ja, wissen wir denn, wie die Zunkunft der Kinder, die wir da “fördern” wollen, in 20, 25 Jahren aussehen wird? Wir wissen es nicht, wir tun nur so als ob. In Wirklichkeit geht das Menschenkind ins Ungewisse. Denn hinter den Lebensmodellen, die bereits im Angebot sind, liegt ja schon das Neuland, das gerade erst Gestalt annimmt. Ein kulturelles Neuland, in dem noch nie jemand gewesen ist, nicht die Lehrer, nicht die Eltern. Kann das Kind die Strategien, mit denen man dort erfolgreich ist, bei Mama und Papa abkupfern? Sollte es sich mit einer Kindheit zufrieden geben, in der es lernt, die Vorgaben der Großen möglichst brav und effizient zu erfüllen? Zumindest sollte es dabei nicht stehen bleiben, denn das Kind muss sich auf eine Welt vorbereiten, die gerade erst entsteht. Die Karte, die es für dieses Neuland braucht, ist selbst bei den besten Eltern nicht im Angebot. Die Kinder müssen sich diese Karte selbst anfertigen – während sie das Neuland kennen lernen.

Welche Herausforderung:  das Menschenkind muss mehr lernen als nur das Buch vom Menschenleben abzuschreiben. Es  muss auch lernen, seine eigene Geschichte zu  schreiben.

Kindliches Lernen

Wie schaffen die Kinder das ? Wer mit Eltern redet, stellt fest, dass sie im Grunde schon verstehen, dass es für eine echte, umfassende Bildung mehr braucht als nur die vorgegebenen Bildungsziele zu erreichen (und dabei möglichst gute Noten einzuheimsen). Sie wissen intuitiv, dass echte Bildungsstandards am Kind abzulesen sind und nicht an seinen Zeugnissen. Sie wissen, dass ihr Kind für eine echte Vorbereitung auf das Leben wache Augen braucht, Neugier, Selbstbewusstsein, innere Stärke.

Die Entwicklungspsychologie beschreibt die fundamentalen Kompetenzen, die ein Kind braucht, damit Bildung gelingt:

  • Das Kind muss nach und nach lernen, mit sich selbst klar zu kommen – also seine Gefühlswelt, seine Impulse und Emotionen in den Griff bekommen. Es muss exekutive Kontrolle erlangen.
  • Es muss aber auch lernen, mit den anderen Menschen klar zu kommen (es muss seine soziale Kompetenz aufbauen). Als Voraussetzung hierzu muss das Kind eine Theorie des Geistes entwickeln, also lernen, sich in die Gedanken, Gefühle und Werte der anderen hineinzuversetzen und die Welt auch aus deren Perspektive zu sehen, zu begreifen und zu bewerten.
  • Und das Kind muss resilient werden – also eine Art Rückgrat ausbilden, das ihm hilft, Widerstände zu überwinden, Krisen zu meistern, sich immer wieder neu zu erfinden.

Das pädagogische Dilemma

Diese Fundamentalkompetenzen haben eines gemeinsam: Sie können dem Kind nicht von Erwachsenen in didaktischer Absicht vermittelt werden. Man kann ein Kind nicht darüber belehren, wie es innerlich stark wird. Auch Mitgefühl kann man einem Kind nicht beibringen. Und soziale Kompetenz lässt sich erst recht nicht anerziehen – hier versagt selbst das pädagogisch wertvollste Programm. Genauso wenig kann man sich Kreativität erarbeiten – ja, man kann sie nicht einmal üben (üben Sie einmal Kreativität mit einem Kind).

Mehr noch, beim Aufbau der Fundamentalkompetenzen stößt selbst die Vorbildpädagogik an ihre Grenzen: Nicht wenige Kinder leben mit innerlich starken Eltern oder Erzieherinnen, finden aber selbst keinen Ansatz, um mit ihren eigenen Ängsten umzugehen – man kann sich, so scheint es, sein Fundament nicht borgen oder von anderen übernehmen.

Und genau hier sind wir wieder beim “eigensinnigen” Lernen des Kindes. Denn all diese Fähigkeiten sind Erfahrungsschätze. Sie können von niemand anderem als vom Kind selbst gehoben werden  – mit eigenen Augen, Händen und Herzen. Das Fundament der kindlichen Entwicklung kann also gar nicht auf geleitetem Lernen beruhen, das Kind braucht sein eigenes Lernen. Es funktioniert, wenn das Kind zwei förderliche Grundbedingungen vorfindet:

  • Die erste: stärkende Beziehungen. Kinder können Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein nur ausbilden, wenn sie Schutz und Sicherheit erfahren. Wenn sie also mit Menschen leben, die zu ihnen stehen, die ihre Stimme hören und die sie nicht im Stich lassen, wenn sie in Not sind. Dadurch dass Kinder spüren, dass sie ihren Eltern und Bezugspersonen bedeutsam sind, bildet sich in ihnen das Gefühl von Stimmigkeit und Zugehörigkeit aus – diese “Beziehungsheimat” wird auch sichere Bindung Diese Basis macht die Kinder mutig und neugierig, sie ist damit gleichzeitig ihr Geleitschutz auf dem Weg hinaus in die Welt…
  • Und damit sind wir bei der zweiten Zutat: die stärkende, kindgerechte Welterfahrung. Von ihrem ersten Lebenstag an wollen Kinder wirksam sein und sich selbst, die anderen Menschen und die Welt entdecken. Sie wollen das – das ist für sie wichtig – auf ihre Art tun, also entsprechend ihrer Neugier, ihrer Kraft und der jetzt gerade für sie geltenden Entwicklungsagenda. Gerne mit anderen Kindern, mit größeren, und kleineren. Kein Wunder, dass Kinder das Kribbeln und die Auseinandersetzung mit der Welt suchen! Kein Wunder, dass es sie zur Überwindung von Widerständen zieht! Und von jeder selbst gestellten Aufgabe, von jedem Abenteuer kommen sie gestärkt zurück.

Und damit sind wir beim Alltag des Kindes. Denn die stärkende, selbstförderliche, kindgerechte Welterfahrung nac h der das Kind strebt, kennen wir alle: sie heisst Spiel. Sie heisst: den Alltag ausgestalten. Sie heisst: bedeutsame Beziehungen pflegen, mit groß und klein. Sie heisst: die Welt verstehen . Das ist die Entwicklungsarbeit des Kindes.

Wie viel Freiheit? Wie viel Vorgaben?

Damit sind wir wieder bei der Eingangsfrage: wie viel Freiheit braucht das kindliche Lernen? Wie viel Struktur? Ich kann darauf keine quantitative Antwort geben. Ich kann nur das beisteuern: das Lernen des Kindes ist ein von Eigensinn durchtränktes Beziehungsgeschehen. Dieses muss dem Kind letzten Endes ermöglichen,  sich im Hier und Jetzt zurechtfinden. Es muss ihm gleichzeitig helfen, sich auf eine ungewisse Zukunft vorzubereiten …

Die Bildung des Menschenkindes ist damit eine umfassende.  Sie muss dem Kind den Zugriff auf den Bestand des bisher Gelernten ermöglichen – und das schliesst das schulisches, strukturiertes Lernen gewiss mit ein. Sie muss dem Kind ermöglichen, die Dinge zu tun, die seinem Wesen, seinen Anlagen und Talenten entsprechen. Sie muss ihm ermöglichen, in einer ungewissen Welt klar zu kommen. Sie muss ihm ermöglichen, das Beste aus seiner Situation zu machen. Nicht zu verzagen, sich immer wieder neu zu erfinden, sich neuen Aufgaben zu stellen, kreative Lösungen zu finden. Kurz: sie muss ihm ermöglichen, im Neuland zu bestehen.

Dieser Spagat wird nur gelingen,  wenn das Kind seine Entwicklungsarbeit tun kann. Wenn es sich auf ein solides Fundament der Persönlichkeit verlassen kann. Er wird nur gelingen, wenn die Kinder sich bewähren dürfen in den Dingen, die ihnen selbst bedeutsam sind.  Wenn sie den Eigen-Sinn weiter entwickeln dürfen, den sie später in dem Neuland gut gebrauchen werden können. Dazu brauchen Kinder ihre eigene, freie Zeit. Sie brauchen ihren eigenen, freien Raum. Sie brauchen Gelegenheiten um ihre eigenen Fragen zu beantworten. Wer  immer nur Antworten auf Fragen finden soll, die die anderen stellen, vergisst irgendwann die eigenen Fragen. Das wäre für eine Katze nicht weiter schlimm. Aber für ein Menschenkind wäre das fatal.

Dieser Beitrag beruht auf dem Buch des Kinderarztes und Wissenschaftlers Dr. Herbert Renz-Polster: „Menschenkinder – Plädoyer für eine artgerechte Erziehung". Es stellt die vielen Behauptungen und Theorien über Kinder konsequent auf den Prüfstand.
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2 Kommentare

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  • Montana

    Wie sagte meine Schwester neulich so schön: “Wenn die Jungs im Wald eine Bude bauen, dann komme ich gern um das Ergebnis zu bewundern. Aber beim Bau will ich lieber nicht dabeisein. Da machen sie Dinge, die ich für zu gefährlich halten würde und ich würde sie davon abhalten. Sowas müssen sie unbeobachtet tun können.”

  • Bair

    Diese Bemerkung interessiert mich besonders:

    “Nicht wenige Kinder leben mit innerlich starken Eltern oder Erzieherinnen, finden aber selbst keinen Ansatz, um mit ihren eigenen Ängsten umzugehen – man kann sich, so scheint es, sein Fundament nicht borgen oder von anderen übernehmen.”

    Zunächst: woher weiß man das, wie ist diese ‘Einsicht’ entstanden? Was bedeutet hier ‘innerlich stark’, fehlt es vielleicht trotz innerer Stärke an Kontakt zum Kind? Und schließlich könnte aus diesen Sätzen gefolgert werden, dass eine Art Charakter oder Temperament oder eine anders benannte psychische Struktur, die angeboren ist, über die Fähigkeit des Menschen entscheidet, die eigenen Ängste vielleicht nicht zu bewältigen, aber doch produktiv zu wenden.