Schuldgefühle nach Notfallsituation
Meine Tochter (19 Monate) musste sich mit etwa 8 Monaten einem notfallmäßigen kleinerem operativen Routineeingriff unter Vollnarkose unterziehen. Da dies sehr plötzlich geschah, hatte ich keine Vorbereitungszeit. Die Übergabe meines Kindes in der „Schleuse“ an den Anästhesisten und die Schwester war furchtbar. Man versprach mir, dass ich direkt nach der OP zu meiner Tochter in den Aufwachraum dürfe - die diensthabende Schwester wollte dies dann aber nicht. Noch über Monate danach hatte meine Tochter ein extrem gesteigertes Nähebedürfnis und lies mich nicht mehr aus den Augen. Damit konnte ich gut umgehen. Was mir aber unglaublich zu knabbern gibt: dass ich sie in einer Situation im Stich gelassen habe, in der sie ihre Mutter doch so sehr gebraucht hätte und dies nun deutliche Auswirkungen zeigte – und vielleicht auch weiter wirkt?
Ich fühle da unglaublich mit Dir mit. Eines unserer Kinder war etwa eineinhalb, als ziemlich das Gleiche passierte: Wir mussten ihn für eine Routine-Operation im OP-Raum „abgeben“ und konnten dann weder im Aufwachraum, noch in der Nacht bei ihm sein (Doro hatte zwar ein Zimmer im Krankenhaus, aber die Nachtschwester war der Meinung, dass Mütter nachts nichts in den Krankenzimmern zu suchen hätten). Das ist bis heute Thema, und ja, natürlich auch mit der Schuldfrage verbunden: Was hätten wir anders machen können? Nein: WIR HÄTTEN DAS DOCH NICHT AKZEPTIEREN DÜRFEN!
Hätte, hätte, Fahrradkette. Damals erschien es uns nicht anders möglich. War es vielleicht auch nicht. Oder ist das eine Ausrede?
Egal, es war so. Und es lastet. Auf uns, klar. Man will sein Kind ja schützen. Und was bedeuten solche Einschnitte für das Kind und die Beziehung zueinander? Irgendetwas auf jeden Fall. Aber was? Wir wissen es im individuellen Fall nicht. Niemand weiß es.
Jedenfalls, ich habe sooo viele Anfragen vorliegen zu: WIR HABEN DAS NICHT RICHTIG GEMACHT! Jede Familie hat so ein Schuld-Thema, bestimmt! Etwas, was wir Eltern uns ankreiden: Wir hätten das anders machen müssen!
Dazu ein paar Gedanken, auch nachdem hier schon ein bisschen Wasser die Bäche runtergeflossen ist.
1
Es ist geschehen, und es bleibt geschehen.
Und manchmal ist dabei tatsächlich etwas zwischen Euch geraten. Du kannst jetzt nur die Verantwortung übernehmen – und schauen, dass es so gut wie möglich weiter geht.
Dich entschuldigen? Wie soll das denn gehen? „Tut mir leid, dass ich dich im Stich gelassen habe?“ Damit kann ein Kind nichts anfangen. Eher doch auf eine praktische Art, zu Dir selbst gesagt: Ich konnte es damals nicht besser, aber jetzt bin ich bereit.
Und damit Du bereit bist, ist es wichtig auch loszulassen von den Selbstvorwürfen. Wer sich selbst ans Kreuz nagelt hat nämlich keine Hände mehr frei. Dann kann es nicht weiter gehen.
Ich finde das wichtig: Man kann das Geschehene nicht einfach „wieder gut machen“ im Sinne von „weg machen“. Man kann es wieder gut machen im Sinne von: Ich habe etwas verstanden und gelernt und von hier geht es weiter. Ich werde dich stärkend begleiten, so gut ich kann.
2
Ein paar Impulse für diese Begleitung:
Es ist keine gute Basis für einen stärkenden Weg, wenn Du jetzt Dein Kind immer als ein verletztes oder ein besonders verletzliches Kind sehen würdest – und entsprechend behandeln würdest. Denn Dein Kind hat ja so viele Stärken, und dazu gehört auch diese: Dass es mit Belastungen umgehen kann. Wunden können heilen. Und sie tun das von innen heraus, nicht indem Du die ganze Zeit Salbe drauf schmierst. Begleite Dein Kind also ganz normal, es braucht die normalen Erfahrungen des Lebens, die ihm Aufwind geben. Kein „oh mein Gott, was für ein armes Kind bist Du denn“. Dein Kind ist doch so viel mehr als was da mal nicht gut lief! Da kommt doch immer Neues dazu – und das will unbedingt gesehen werden.
Deshalb noch einmal: Kein Kind geht „rein und unverletzt“ durch die Kindheit. Auch die Verletzungen werden Teil seiner Persönlichkeit, und oft bergen sie in sich auch einen Keim von Wachstum. Wachstum von etwas Eigenem, Weiterführendem.
Und dasselbe gilt für uns Eltern: wir gehen nicht rein und unverletzt durch die Elternschaft. Wir geben unser Bestes – und manchmal ist es trotzdem nicht gut. Und von dort geht der Roman weiter, den wir als Familie schreiben.
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Wenn die Bindung stark belastet wird (wie in Deinem Fall), dann ist eine Beziehungskrise erwartbar. Bei Deinem Kind und bei Dir. Beides gehört zum „Wieder-Zusammenfinden“. Dein Kind wird vielleicht sehr nähebedürftig, es muss sich jetzt stärker rückversichern, es geht in die Regression. Oder es wendet sich vielleicht eine Weile von Dir ab. Geht auf Distanz.
Aber auch mit Dir passiert etwas: Auch Du hast vielleicht mehr „Nähebedarf“ (und bist vielleicht enttäuscht, wenn Dein Kind eher mit Zorn reagiert) Oder Du gehst innerlich zu Deinem Kind auf Distanz, die hilft Dir, um Deiner Scham zu entfliehen, zum Selbstschutz, ja, auch das kommt vor. Da gilt es offen zu sein und das zu erspüren, um in der Balance zu bleiben.
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Zum Schluss aber das für mich Wichtigste, denn das ist ja immer unsere Sorge: dass wir die Bindung verloren haben. Es ist wirklich so: Jede Beziehung hat mehrere Leben. Das ist ja manchmal sogar bei unseren Paarbeziehungen ein regelrechtes Wunder 😉. Ganz sicher gilt das aber dort, wo es um die Beziehungen zu unseren Kindern geht. Das was ihr an Bindung aufgebaut habt, das ist nicht auf einmal weg. Auch wenn es jetzt eine Zeitlang überlagert ist von Stress und schlechten Gefühlen. Ihr seid durch ein so vielfach verwobenes Gewebe verbunden, dass auch mal einzelne Fäden reißen können und ihr trotzdem zusammen bleibt.
Eigentlich sind wir ja die ganze Zeit damit beschäftigt unsere Netze zu flicken, das ist Teil des Familienlebens.
Barbara
Dieser Beitrag hat mir sehr gut getan – vielen Dank dafür, lieber Herr Renz-Polster! Beim Nachdenken über das Großwerden meiner längst erwachsenen Kinder überfallen mich auch nach vielen Jahren noch manchmal Schuldgefühle.
Birgit Wendling
Mir hat dieser Beitrag auch gut getan, obwohl ich keine Kinder habe. Bei mir geht es um Schuldgefühle wegen Versäumnissen gegenüber meinen alten Eltern, die inzwischen verstorben sind. Die Beziehungen leben weiter. Das Verständnis und die Dankbarkeit nehmen zu. Das ist auch ein Heilungsprozess.
Kati
Es ist immer so schön Ihre Texte zu lesen, richtig befreiend und entlastend. Und dies von einem renommierten Experten auf diesem Gebiet hat ja noch mal einen positiven Stellenwert zusätzlich. Diese unglaubliche Angst Fehler zu machen und Fehler mit unangenehmen Situationen zu verknüpfen steckt einfach in so vielen Menschen drin dank älterer Erziehungsmethoden. Denn ich denke ebenfalls, dass Eltern/Menschen in jedem Moment ihr Bestes geben – und wie Sie schon schreiben, es in gewissen Situationen nur mal nur so geht wie es denn ging. Jeder darf sich daran erinnern, dass in der Kindheit Fehler zur Entwicklung dazu gehörten und sich Kinder dadurch weiterentwickelt haben. Es wäre als Beispiel sehr schade, wenn ein Kleinkind bei den ersten Laufversuchen hinfiele und sich denken würde “och nö, das hat nicht direkt geklappt, das ist anscheinend nichts für mich und ich lasse das Laufen lieber bleiben”. Eine positive und bestärkende Fehlerkultur wie zum Anfang des Lebens ohne Drohen und Strafen, wäre auch im weiteren Leben schön und förderlich für ein positives Selbstbild. Hierzu gibt es bei Ihnen ja ebenfalls viele Anregungen.
Danke für diesen Beitrag!
Liebe Grüße Kati von LiebevollGrossWerden 🌷🦋
Sonja
Lieber Herr Renz-Polster,
ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich immer wieder Zeit nehmen so wertvolle Artikel zu schreiben!
Ich kann jede Woche was dazulernen.
Vielen Dank!