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Rezension18. September 2025

Buchrezension – Vorbildlich unperfekt von @marliesjohanna

Was, du willst etwas über DIESES BUCH schreiben?, wurde ich vor Kurzem gefragt (klang irgendwie entsetzt). Das soll doch angeblich vermieden werden, sonst kriegt “sie” auch noch Aufmerksamkeit! Ja, will ich. Ich wollte ja wissen, was drin steht.

Ehrlich gesagt fühle ich mich ein bisschen im falschen Film, wenn ich mich jetzt in einer Community, die es sehr mit Inklusion, Achtsamkeit, Offenheit und konstruktiven Lösungen von Konflikten hat, dafür rechtfertigen soll, dass ich ein Buch bespreche, in dem es ganz zentral um die Frage geht, was Bedürfnisorientierung eigentlich bedeutet. Next step: Bücherverbrennung? Mit einer Regenbogenfahne im Hintergrund?

Und was ist eigentlich die Alternative? Dass wir jetzt die Rollläden runtermachen und nicht mehr weiter diskutieren über dieses Projekt „bedürfnisorientiert erziehen“? Bei diesem Projekt geht es doch eh hin und her, schließlich treffen sich hier sehr unterschiedliche Menschen. Oft mit einem komplett unterschiedlichen Lebenshintergrund.

One size fits all wird es da nicht geben.

Heißt das deshalb, dass ich die Art der Diskussion im Vorfeld gut fand? – im Gegenteil, ich finde persönliche Angriffe z.K. (zum Kotzen). Und wie sie jetzt alle in „Lager“ trennen, sehen wir ja in den sozialen Medien. Wäre vielleicht gut, wenn InfluencerInnen frühzeitig den eigenen Ärger direkt unter sich ausmachen, anstatt die eigenen Follower damit zu speisen?

Im Folgenden also ein paar Kommentare zu dem Buch von Frau Heckner (wir haben es auch intern viel diskutiert, danke Judith, danke Doro!). Ein Fazit aber gleich vorneweg: ich finde das Buch lesenswert. Anregend und (über die meisten Strecken) gut geschrieben. Auf die Teile, die ich kritisch sehe, weise ich gleich auch hin.

Ach und noch was: Das ist eine Rezension von Frau Heckners neuem BUCH. Dies ist keine Rezension ihrer weiteren Beiträge, und das ist keine Rezension ihrer Persönlichkeit oder ihrer Person.

Ich starte mal bei den Fakten: „Bedürfnisorientierung“ wird häufig missverstanden. Und Fakt ist auch: manche Eltern landen auf ihrem Weg der „Bedürfnisorientierung“ *nicht* dort, wo sie sein wollen. Etwa Frau Marlies Johanna Heckner, die genau das nun in ihrem Buch schildert. Und sie schildert auch, wie sie dann einen eigenen Weg gefunden hat, in die „Goldene Mitte“, wie sie es nennt.

Da musste ich schmunzeln, weil gerade auch unter ihren KritikerInnen viel darüber diskutiert wird, wie wir den richtigen „Mittelweg“ in der Erziehung finden (z.B. in Inke Hummels neuem Buch: Zu viel des Guten – zu wenig fürs Leben).

BO sucht offenbar gerade (s)eine Mitte 😉 – dort vielleicht sogar Gold.

Frau Heckner beschreibt recht klar (und oft auch recht steil, wie man sie als @marliesjohanna von TikTok kennt 😉), wie sie BO zunächst verstanden hat – und was das an schlimmen Folgen für ihr Familienleben hatte (und für sie selbst). Nicht ganz klar wurde mir, welche Änderungen genau dann alles zum Besseren gewendet haben. Irgendwas mit einer anderen Haltung, einem anderen Verständnis, anderen Erwartungen auch (an sich und an die Kinder). Richtig deutlich und konkret wird das nur an wenigen Stellen. Also ja, ums Schuhe anziehen gab es „früher“ stundenlange Diskussionen und Zornanfälle auf beiden Seiten (bei Frau Heckner geht es wie gesagt gerne in die Vollen). Und wie sieht das jetzt aus? War das ein plötzlicher Wandel, wie es beim Lesen erscheint, mit einem klaren Vorher und Nachher? Echt jetzt?

Da hätte ich mir mehr „Insight“ gewünscht. Aber gut, Frau H. gibt da ja auch einiges an Einblicken auf TikTok/Instagram und ihrem Podcast, ich glaube in ihrem „Gesamtwerk“ kommt das schon rüber.

Plädiert sie für einen autoritären Erziehungsstil? Wenn ich von meinem eigenen Verständnis der autoritären Erziehungspraxis ausgehe: Nein. Wer im Herzen mitbedenkt, was die autoritäre Behandlung der Kinder für diese und die Familien an Leid und Not und Trauma bedeutet hat, wird mit diesem Vorwurf vorsichtig sein.

Frau Heckner versucht, ihren Standpunkt durch Studien zu belegen, das empfinde ich persönlich an den meisten Stellen als überflüssig. Im Bereich der Pädagogik, dort also, wo es letzten Endes um den Vergleich von selbst gewählten Lebensstilen geht, sind Studien von sehr limitierter Aussagekraft, sie müssen entsprechend vorsichtig und kritisch gelesen werden, sonst endet alles in einem fröhlichen „cherrypicking“ (lass mich mal schnell eine Studie finden, die meinen Standpunkt belegt). Und manchmal kann ich nur „aua“ sagen, wenn ich dann in das referenzierte Material schaue, das angeblich ihren Punkt belegt. Authentisch und lesenswert fand ich dagegen die persönliche Auseinandersetzung mit den eigenen Kindheitserfahrungen – hier schätze ich vor allem den Blick auf die erfahrenen Ressourcen und weniger auf die erfahrenen Verletzungen. Vielleicht gehört beides ja zusammen?

Das Bindungs-Missverständnis ist in dem Buch ein Thema – gut herausgearbeitet, wenn Frau H. auch manchmal das Kind mit dem Bad ausschüttet. Ich erinnere die Bowlby-BasherInnen gerne daran, dass meine Schwester in ihrer Kindheit (Anfang der 1960er Jahre) als Kleinkind wochenlang allein in der Kinderklinik Operationen überstehen musste, teils mit verbundenen Augen (sie hatte Augenprobleme). Und was das bedeutet. Auch für das ganze Leben. Und dass sich das eben auch durch das damals wirklich neue Interesse für Bindung geändert hat. Trotzdem: das Thema der missverstandenen Bindungstheorie ist wichtig, wir müssen da weiterkommen, und gerade das genannte Beispiel spricht in Teilen eben auch für Frau Heckners Aufruf in ihrem Buch: Lasst uns zwischen Bindungstraumata und „mit mir wurde da mal geschumpfen“ unterscheiden. Das finde ich gut. Und lasst uns gerne darüber diskutieren, wo die Grenze verläuft.

Gleichzeitig kommen mir die Schlussfolgerungen, die Frau H. dann aus ihren Auslassungen zur klassischen Bindungstheorie zieht, vor, wie wenn sie da einer Verwechslung aufsitzt. Denn wenn sie jetzt verstanden hat, dass die vor 70+ Jahren formulierte Theorie über Bindung ein Problem hat, dann heißt das ja nicht, dass deshalb Bindung nicht weiterhin essentiell für die kindliche Entwicklung ist. Und es heißt auch nicht, dass die Art der Erfahrungen des Kindes in seinen bedeutsamen Beziehungen nicht einen Unterschied machen – und zwar auch dann, wenn ein Kind NICHT misshandelt wird.

Einen Unterschied zum Beispiel dafür, ob ein Kind selbstbewusst sein kann, wie es die Welt sieht und als welche Persönlichkeit es in ihr stehen kann. (Wie prägend die alltäglichen Erfahrungen für das Kind sind und wie es davon geprägt wird, wird Frau Heckner dann ein Kapitel weiter – beim Thema Neuroplastizität – dann nicht müde zu beschreiben. Klarer Widerspruch.)

Und so ist eigentlich dieses unausgegorene Gerede über Bindung mein Hauptkritikpunkt an diesem Buch. Da wird den Eltern im Tenor der Überzeugung und angeblich wissenschaftlichen Belegen suggeriert: Lass mal locker, was ein Kind an Erfahrungen in seinen alltäglichen Beziehungen macht, ist egal – solange so ein Kind nicht in einem rumänischen Waisenhaus landet oder sonstwie misshandelt wird. Das liest sich dann so:

„Selbst wenn ihr nach diesem Kapitel immer noch der Meinung seid, Bindung sei wichtig für die gesunde Entwicklung eures Kindes, könnt ihr zumindest das für euch mitnehmen: Solange ihr euer Kind nicht vernachlässigt und misshandelt, ist alles in Ordnung.“

Warum sage ich „unausgegoren“? Weil Frau Heckner durchaus einen Punkt hat, den dann aber pauschal in eine Fundamentalkritik packt. Das zeigt dann der nachfolgende Satz:

„Auch wenn ihr gerade ein weiteres Kind bekommen habt, euch von eurem Partner oder eurer Partnerin getrennt habt oder umgezogen seid. Es schadet der Bindung nicht, wenn ihr euch gegen das Stillen entscheidet, früh wieder anfangt zu arbeiten oder nicht gemeinsam mit den Kindern im Familienbett schlaft. Das sind Nuancen, die alle keinen Einfluss auf eine mögliche »Bindung« haben.“

Und ja, da hat sie teilweise recht – für eine gute Bindung braucht es kein Stillen und es braucht auch kein Familienbett. Aber es braucht eben doch „etwas“ – eine freundliche, dem Kind zugewandte, lernbereite Haltung zum Beispiel. Und das ist eben nicht nur die Abwesenheit von Traumatisierung, Misshandlung und Vernachlässigung.

Dieses Missverständnis ist echt echt schade (bewusst x2), eben weil Frau Heckner als TikTok-Größe sehr viele junge Eltern erreicht. Und weil es eigentlich genau diese freundliche, dem Kind zugewandte, lernbereite Haltung ist, die sie in ihrem Buch immer wieder anspricht und auch abfeiert, auch in ihren eigenen Kindheitserfahrungen, die sie als „prägend“ für sich selbst beschreibt.

Noch einmal: wirklich schade, und deshalb noch einmal, vielleicht liest Frau H. hier ja mit: NATÜRICH hat es einen Einfluss auf die Eltern-Kind-Beziehungen und das kindliche „Selbsterleben“, wenn sich Eltern voneinanander trennen! NATÜRLICH hat es einen Einfluss, wo und von wem ein Kind regelmäßig betreut wird, und NATÜRLICH hängen diese Unterschiede daran, WELCHE Erfahrungen das Kind dabei macht, WIE LANGE ein Kind in der Krippe ist, IN WELCHEM ALTER und in WELCHER Krippe, mit WELCHEN Menschen. Und ich sage nicht, dass das per se SCHLECHTE Erfahrungen sind, aber solche können hier durchaus mit dabei sein, und zwar, noch einmal, auch dort, wo ein Kind nicht unbedingt akut traumatisiert wird oder in einem rumänischen Waisenhaus lebt.

Okay, ich glaube ich habe das genug betont, ich schüttle mich jetzt mal, denn in dem Buch sind ansonsten auch viele wirklich ermutigende und positive Anregungen zu finden, ich will nur diese nennen:

  • Eltern können sich verändern, Mütter und Väter können in diese Rolle hineinwachsen, Entwicklung ist kein Schicksal, und es gibt immer wieder Neues zu wagen und zu entdecken. Diese Zuversicht fehlt mir im BO-Universum auf manchen Planeten.
  • Auch die persönliche Hintergrundstory ist eindrücklich erzählt. Sie zeigt, wie stark wir von unserer Lebenssituation und unserem Lebensumfeld abhängen und dadurch geprägt werden.
  • Auch schön – der Umgang mit Fehlern – dass wir immer daraus lernen können. Danke dafür. Auch für den schönen Blick auf das unperfekte Elternsein, und dass er helfen kann, tatsächlich auch freundlicher zu den Kindern zu sein.
  • Ich finde ihren Gedanken wichtig, dass wir darauf vertrauen können, dass unsere Kinder bei anderen Menschen ganz vieles lernen und zwar auch bei anderen Kindern. Und dass wir nicht den Anspruch haben sollten, dass wir als Eltern den Kindern alles selbst vermitteln müssten.
  • Gut fand ich ihre Auseinandersetzung mit dem ständigen Einreden auf die Kinder, das manche für sehr „BO“ halten aber in meinen Augen oft auch grenzüberschreitend praktiziert wird (sorry, jetzt gehe auch ich schon steil hier 😉).

Trägt das Buch zum Verständnis von BO bei? Es kommt darauf an, wie man „BO“ versteht 😉. Was jedenfalls gut rauskommt ist das: wie leicht „Bedürfnisorientierung“ missverstanden werden kann. Ist daran das Konzept der BO „schuld“? Ja und Nein, denn unter dieser Flagge segeln ja viele Schiffe, und ich kann es niemandem verdenken, der/die da durcheinander kommt. Ich verstehe aber auch die Leute, die sagen: wenn du zu blöd bist BO zu kapieren, dann schiebe es bitte nicht auf BO… Und wahrscheinlich besteht da auch mehr Einigkeit als das nach außen jetzt so rauskommt (so sagt Frau Heckner zum Beispiel, dass BO Eltern leicht in den Laissez-Faire Erziehungsstil rutschen. Genau das Gleiche lese ich bei den prominenten BO-ExpertInnen).

Und, zum Schluss, was ist mit der „Gewaltfrage“? Mit der Frau Heckner ja im Vorfeld konfrontiert wurde. Also: „gewaltfrei“ erziehen – was heißt das (gut klingt es ja auf jeden Fall)?

Tatsächlich sind wir hier bei der zentralen Frage angelangt, um die sich nach meiner Empfindung so ziemlich viele ExpertInnen drücken. Letzten Endes ist es ja die Gretchenfrage der BO: Was IST eigentlich Gewalt gegen Kinder, oder, umgekehrt: was ist „gewaltfrei“? Denn von was da oft geredet wird – achtsam, zugewandt, BO, liebevoll, friedvoll usw. – das sind zunächst einmal nur schöne Schleifchen. Frau Heckner nimmt „gewaltfrei“ für sich in Anspruch, andere auch (die wiederum Frau H. das Gegenteil vorwerfen…).

Nur, über WAS GENAU wir da reden, das wird nicht wirklich thematisiert. Ein Kind zu etwas zwingen – ist das Gewalt? Wenn wir ehrlich sind, ist das ins Miteinander mit einem unverständigen kleinen Kind eigentlich eingekabelt. Darf ich mein Kind nur mit seiner Zustimmung anschnallen? Nur mit seiner Zustimmung in der Kita abgeben? Nur mit seiner Zustimmung in die Schule schicken? Nur mit seiner Zustimmung den nassen Strampler ausziehen in dem es gerade einschlafen will?

Genau da will ich mich jetzt verabschieden, und jedem selbst das Denken überlassen (und mich ein andermal ausführlicher dazu äußern).

Anregend ist dieses Buch auf jeden Fall. Und ja, ganz schön mutig finde ich es auch. Danke dafür.

Vorbildlich unperfekt: Eltern sein mit mehr Selbstvertrauen und Zuversicht von Marlies Johanna Heckner erscheint am 18. September 2025

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1 Kommentar

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  • Jale

    hm, irgendwie hatte ich schon aus “Kinder Verstehen” es so verstanden, dass es auch für das Gesamtsystem Familie passen muss…
    und dass man trotzdem sehr aufpassen muss, nicht dem schwächsten Glied Kind die Unzulänglichkeiten der eigenen Prägung oder der Alltagszwänge aufzulasten. Häufig ist schon mehr Spielraum im Sinne für die Kinder da, als es diegesellschaftlichen Zwänge und Erwartungen (zB bezüglich Status..) vorerst suggerieren.
    Und nicht zuletzt, es macht auch ganz egoistisch einfachSpaß, mit den Kindern deren Kindheit “schön zu leben”.
    Fazit, mit “Kinder verstehen” bin ich jetzt die letzten Jahre sehr gut gefahren 😇